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Wright beschreibt, wie vier theologische Themen durch eine bessere Zuordnung von Evangelien und Kreuzestheologie verändert werden. Er vergleicht das mit einer Musikanlage mit vier Kanälen, die in ihrer jeweiligen Lautstärke aufeinander abgestimmt sein müssen, wenn man die Musik gut hören will. Keiner darf zu leise (so dass man ihn überhört) oder zu laut (so dass er die anderen Kanäle übertönt und selbst nur verzerrt rüberkommt) sein. Diese Kanäle sind:
1. Die Geschichte Israels
In der kirchlichen Tradition wurde dieser Kanal oft beinahe ausgeblendet. Im apostolischen Glaubensbekenntnis fehlt Israel völlig. Tatsächlich erzählen aber alle vier Evangelisten die Geschichte Jesu als Höhepunkt und Zielpunkt der Geschichte Israels. Sie wollten deutlich machen, dass die schon verloren geglaubte Geschichte Israel durch Jesus unerwarteter Weise doch eine äußerst hoffnungsvolle Wendung genommen hat. Und zwar eine Wendung, die – obwohl unerwartet – doch die genau passende Wendung ist.
Die Evangelisten unterstreichen das jeder auf seine Weise: Matthäus z.B. durch die Genealogie Jesu gleich am Anfang; Markus beginnend mit dem Rückbezug auf Deuterojesaja schon in Kap. 1; ebenso Lukas, beginnend mit dem Magnifikat in Kap. 1 und endend mit dem Rückbezug auf die Schrift in der Emmausgeschichte in Kap. 24; Johannes schließlich beginnt sein Evangelium in Kap. 1 mit einem großen Rückblick bis zur Erschaffung der Welt – die ganze Schöpfung erreicht also in Jesus ihr Ziel, und er spricht es am Kreuz aus mit den Worten „Es ist vollbracht“. Dieser Kanal – die Geschichte Israels – muss also eine entschieden höhere Lautstärke bekommen, wenn man die Geschichte Jesu angemessen verstehen will.
Demgegenüber distanzieren sich die späteren gnostischen Evangelien von der Geschichte Israels und erzählen die Geschichte Jesu nicht als Rettung für die Welt, sondern als Rettung von der Welt.
2. Die Geschichte von Israels Gott in der Geschichte Jesu
Dieser Kanal ist – als Reaktion auf die Aufklärung – besonders in der konservativen Fraktion der Christenheit so stark aufgedreht worden, dass er alle anderen Kanäle übertönt und selbst nur verzerrt rüberkommt: ES GIBT EINEN GOTT. UND JESUS IST GOTT. Dabei geht die andere Frage unter: was für ein Gott ist es, und was tut er?
Das besondere Charakteristikum von Israels Gott ist, dass er in seiner Welt unter seinen Menschen wohnen will. Menschliche Rebellion macht ihm das unmöglich, aber er kommt trotzdem zurück. Die ganze Zeit des zweiten Tempels (seit 538 v.Chr.) steht aber im Zeichen der Wahrnehmung, dass Gott noch nicht wieder zu seinem Volk zurückgekommen ist.
Die Evangelien erzählen nun, wie Gott schließlich doch zurückkommt, unter den Menschen seine Herrschaft aufrichtet und ihr Elend teilt: nämlich in Jesus. An vielen Details weisen die Evangelien darauf hin, dass man in Jesu Praxis das Handeln von Israels Gott erkennen soll. Man braucht also gar keine theologisch-begriffliche Christologie, sondern die Erzählungen der Evangelien erschließen diesen Zusammenhang, aber mit weniger Lautstärke, weniger schrill: In Jesus sollen wir die Gegenwart von Israels Gott sehen, wie er zu seinem Volk kommt und es rettet. Da ist keine Rede von einer Art Superman, sondern ein anteilnehmender Gott wird sichtbar.
3. Jesus und das erneuerte Gottesvolk
Auch der dritte Kanal ist traditionell zu laut eingestellt. In einigen modernen theologischen Traditionen übertönt er sogar alle anderen: die Evangelien werden dort gelesen als Dokumente, in denen sich nur die Reflektionen und Krisen der jungen Kirche widerspiegeln. Solche Worte wurden angeblich Jesus von urchristlichen Propheten aus aktuellem Anlass nachträglich in den Mund gelegt. Diese Überzeugung verdankt sich zwei Vorentscheidungen, die sich im Lauf der Zeit unter dem Titel der „kritischen Wissenschaft“ ausbreiteten: zunächst einmal die Überzeugung, dass es Wunder usw. einfach nicht geben könne. Deshalb kann es gar nicht anders sein, als dass die entsprechenden Texte in Wirklichkeit Produkte der Kirche sind. Dazu kam die radikal-lutherische Überzeugung der Bultmannschule, dass der Glaube sich nicht auf historische Fakten stützen dürfe, sondern auf sich selbst stehen müsse. Diese Vor-Urteile haben das angemessene Verständnis der Evangelien schwer behindert.
Allerdings erzählen die Evangelisten ihre Geschichte natürlich in dem Bewusstsein, dass es um die Ereignisse geht, mit denen „unsere Bewegung“ begonnen hat. Aber das bedeutet nicht, dass sie Falsches erzählen. Im Kontext des 1. Jahrhunderts macht die Geschichte Jesu guten Sinn. Aber wenn man ihn aus diesem Zusammenhang reißt, aus ihm einen Morallehrer macht und ihn vor allem als Gründer der Kirche versteht, dann passt es nicht mehr. Ja, die Evangelien sind Gründungsdokumente des erneuerten Gottesvolkes, die auch etwas über den Charakter dieser Bewegung sagen. Aber es war keine Neugründung auf der grünen Wiese, sondern ein Neuansatz im Rahmen des bestehenden Gottesvolkes. Natürlich haben die Evangelisten die Kirche und ihre Mission im Blick. Aber was sie mit Blick darauf sagen, ist fest in der tatsächlichen Praxis Jesu verankert. Wäre es nicht so, wäre die Kirche nur in sich selbst gegründet.
4. Der Konflikt der Reiche
Traditionell zu stark heruntergedreht ist wiederum der Kanal, bei dem es um den Zusammenstoß des Reiches Gottes mit der Herrschaft Cäsars geht. Aber für die ersten Leser der Evangelien war das ein Kontext, den sie immer mitdachten. Es war eine sehr wichtige Frage, wie sich die Nachfolge Jesu und ein Leben im Reich Cäsars zueinander verhielten. Dabei hilft ein Rückblick auf den ersten – ebenfalls zu stark gedämpften – Kanal. Die jüdische Tradition dreht sich immer wieder um die wichtige Frage, wie Gott mit den arroganten Mächten umgehen wird, die sein Volk bedrücken.
Im Horizont dieses Konflikts muss man auch die Evangelien lesen. Von der Geburtsgeschichte bis zum Prozess vor Pilatus (und an vielen Stellen dazwischen) ist der Konflikt zwischen Gott und den Mächten in den Evangelien sehr präsent. Im Umfeld der Aufklärung, die Staat und Kirche trennen wollte und der Israels Religion zu materiell erschien, verbanden sich jedoch unpolitische und un-jüdische Lektüre der Schriften und blendeten diesen Kanal oft ganz aus. Aber es geht bei Jesus darum, dass die Mächte, die die Welt beherrschen, in seiner Kreuzigung überwunden werden. Und das Kreuz ist gleichzeitig das Mittel, durch das Menschen aus der ganzen Welt zu Jesus, und damit zu Israels Gott, gezogen werden. In der Gerichtsszene – eine Konfrontation zwischen Jesus und Pilatus, dem Vertreter des Imperiums – wird gezeigt, wie das Kreuz der Weg ist, auf dem die Mächte der Welt sich selbst in die Lage bringen, von der siegreichen Liebe Gottes überwältigt zu werden. Jesus gab in seinem Tod „Gott, was Gott gehört“ und veränderte damit alles.
Alle diese vier Kanäle (wenn sie richtig aufeinander abgestimmt sind) wirken zusammen in der Beschreibung der Praxis Jesu als der endgültige Exodus. Es war kein Zufall, dass Jesus das Passafest für seine entscheidende Initiative wählte. Was er dort erreichte, soll nun durch seine Jünger in der Welt implementiert werden. Deswegen weist die Story der Evangelien nach vorne und ist unabgeschlossen.
Immer wieder hat Wright darauf hingewiesen, dass die Aufklärung und ihr Einfluss eine wichtige Rolle beim (Miss)verständnis der Evangelien spielt. Man kann sein Buch auch lesen als eine entschiedene Auseinandersetzung mit aufklärerischem Denken innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft. Diesem Aspekt wird sich der nächste (und letzte) Post in dieser Reihe widmen.
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