Jenseits der Komfortzone
Predigt am 6. Mai 2012 zu Apostelgeschichte 16,23-40
Es ist schon erstaunlich, wie unemotional und sachlich hier beschrieben wird, wie Paulus und sein Gefährte Silas blutig geschlagen, in ein muffiges Verlies gesperrt und zur Sicherheit noch mit einem hölzernen Block fixiert werden. Das ist Folter, und wir lernen hier das römische Imperium von seiner hässlichen Alltagsseite her kennen, von unten, jenseits der prunkvollen Statuen, Bäder und Tempel. So sah das für die normalen Menschen aus: wenn du irgendwie ins Räderwerk der Macht gerätst, dann kannst du dich sehr schnell blutig geschlagen im Kerker wiederfinden.
Aber hier in der Apostelgeschichte wird das ganz sachlich beschrieben. So ist die Welt, und es nützt nichts, darüber zu jammern und zu klagen oder sich zu empören. Viel wichtiger ist, dass auch in dieser finsteren Umgebung die Kraft Jesu siegt. Dass Jesus aus Opfern souveräne Herren der Situation macht, die sogar ihre Peiniger beeindrucken und am Ende gewinnen – das ist das wirklich Erstaunliche, darüber lohnt es sich nachzudenken.
Am Beeindruckendsten finde ich, dass die beiden mitten in dieser Situation singen, Gott Loblieder singen. Die haben brennende Schmerzen am Rücken, sie können sich nicht richtig bewegen und haben Schmerzen von der unbequemen Haltung, sie können die Wunden nicht pflegen, sie wissen nicht, wie es weitergeht und was sie am nächsten Tag erwartet – aber sie loben Gott. Deutlicher kann man gar nicht sehen, was Glauben bedeutet: mit einer unsichtbaren Wirklichkeit leben, die stärker ist als die ganze Tyrannei der greifbaren Macht. Und Paulus und Silas holen Gott mit ihren Liedern in die finstere Situation des Gefängnisses hinein, oder besser: sie machen ihn sichtbar. Natürlich ist er in jeder Situation schon immer drin, aber es braucht Menschen, die dafür sorgen, dass das auch erkennbar wird. Apostel – und alle Christen – sind Leute, die eine bedrückende Situation zwar erleiden, sich von ihr aber nicht beeindrucken lassen, weil sie Gott kennen.
Und dann geraten die scheinbar undurchdringlichen Mauern ins Wanken, die Fesseln lösen sich und aus Rädchen im Getriebe der Unterdrückungsmaschine werden Menschen Gottes. Denn diese Unterdrückungsbürokratien und Hierarchien sind im Innern tatsächlich so schwach und hohl, und ihre Diener sind alleine, ohne ihren Apparat, so ängstlich und desorientiert – die wissen gar nicht, wie ihnen geschieht, wenn sie einem souveränen, starken Menschen begegnen, der sich nicht beeindrucken lässt und keine Angst hat und weiß, dass Gott mit ihm ist. Dieser Gefängniswärter ist so überfordert von der ungewöhnlichen Situation, die in seiner Dienstanweisung nicht vorkommt, und er hat so Angst davor, selbst in den Reißwolf der Repressionsmaschine zu kommen, dass er sich getötet hätte, wenn ihm Paulus nicht etwas von seiner Sicherheit abgegeben hätte. Gott zu kennen, den echten, lebendigen Gott, nicht so einen netten lieben Gott, den man sich ausdenkt, sondern den echten, den Gott Abrahams, den Sklavenbefreier, den Vater Jesu Christi, das gibt Sicherheit für sich selbst und für andere.
Deshalb werden in jeder bedrückenden Situation – und davon gibt es ja bis heute genug im Großen und im Kleinen – Menschen gebraucht, die sich davon nicht überwältigen lassen, sondern die Alternative verkörpern. Menschen, die sich alles zum Besten dienen lassen. Menschen, die nicht sagen: es ist alles so schrecklich, da kann man nichts machen, sondern Menschen, die sagen: Jesus ist auch hier und jetzt Herr – er regiert, und wir sind seine Botschafter. Wie auch immer das dann genau aussieht.
Das Schlimme ist, dass die Christenheit sich so weit von diesem Grundgefühl entfernt hat: wir sind diejenigen, die im Namen Jesu die Verhältnisse zum Tanzen bringen. Wir sind das schwache Volk, durch das Gott die Welt regiert. In seiner Kraft sind wir mächtig – kehr um, lass dich taufen, und gehöre zu den Menschen, die überall dafür sorgen, dass in der Welt der Wille Gottes geschieht, dass Gefangene befreit werden, Hungernde gespeist, Eingeschüchterte mutig werden und vieles andere noch.
Wir helfen niemandem damit, dass wir ihn bedauern und bemitleiden und ihm sagen: du armer Kerl, wie schrecklich ist das alles, was dir passiert. Vielleicht ist das immer noch besser als gar nichts zu tun, aber es ist jedenfalls nicht die christliche Botschaft.
Das Evangelium ist: Jesus hat die dunklen Mächte besiegt, zuletzt den Tod selbst, und nun geh hin und werde ein Botschafter dieses Sieges überall da, wo noch nichts davon zu spüren ist. Sorge dafür, dass dieser Sieg auch in den finsteren Gegenden dieser Welt sichtbar wird.
Wir sehen aber an Paulus und Silas, dass es ziemlich heftig werden kann, wenn man sich in diese gefährlichen Zonen begibt. Wenn Jesus zu einem Gefängnisaufseher kommen will, dann müssen dafür eben Christen ins Gefängnis gesperrt werden. Wie soll es denn anders gehen? Jesus selbst ist in diese gefährliche Welt gekommen und hat sie erlitten, weil er nur so Menschen erreichen konnte, die in dieser Welt leben. Und jetzt wird das in aller Welt von seinen Jüngern nachvollzogen.
Natürlich läuft es uns jetzt irgendwie kalt den Rücken herunter, und wir fragen uns: wie wäre das, wenn wir so geschlagen würden und uns mit blutigem Rücken in einem Kerker wiederfinden? Wie würden wir das überstehen? Ich jedenfalls frage mich das. Und ich bin mir keineswegs sicher, dass ich da so eine starke Figur machen würde wie Paulus. Aber wir können doch die Wahrheit des Evangeliums nicht abhängig machen von der Frage, ob wir uns zutrauen, in so einer Situation richtig zu handeln. Es kann ja sein, dass wir im Ernstfall zusammenbrechen und völlig versagen – aber das ändert nichts daran, dass wir bei Jesus, bei Paulus und Silas, bei unzähligen Christen in alter und neuer Zeit eine Kraft beobachten können, die sie auch im Gefängnis und im Sterben zu souveränen Herren der Situation gemacht hat. Und die Verheißung dieser Kraft besteht, sie ist unbezweifelbare Realität, auch wenn uns persönlich davor graust, dass wir sie je wirklich brauchen könnten.
Wir treffen an dieser Stelle auf die Wurzel der Kraftlosigkeit der westlichen Christenheit in unseren Tagen: es ist die Angst davor, in Konflikte zu geraten, die uns etwas kosten könnten. Wobei wir ja nun wirklich im reichen Westen nicht so schnell in die Gefahr kommen, als Christen geschlagen und eingesperrt zu werden. Jeder Atomkraftgegner auf einer Demo riskiert mehr. Aber irgendwie sind wir auf eine Bahn geraten, auf der es vielen von uns undenkbar erscheint, für unsere Teilnahme an der Bewegung Gottes einen echten Preis zahlen zu müssen. Wie gesagt, zum Märtyrer zu werden, das wird uns hier in unserem Land so schnell nicht gelingen, aber natürlich kann es einen in Konflikte führen, es bedeutet manchmal Stress und Unbequemlichkeiten, wir können Ärger mit irgendwelchen Autoritäten kriegen. Vielleicht muss man sogar mal um Jesu willen seinen Urlaub verschieben oder versäumt was im Fernsehen. Ist eigentlich alles kein Drama. Aber irgendwie ist es dazu gekommen, dass viele schon alle Gedanken, die uns in diese Richtung führen könnten, ganz frühzeitig abblocken. Und dann wundern wir uns, dass die Kraft Gottes nicht fließt. Ich wundere mich manchmal, dass überhaupt noch soviel von Gottes Kraft zu uns durchdringt!
Vielleicht klingt das jetzt alles zu hart, aber wenn wir das nicht deutlich im Auge haben, dann fangen wir an zu glauben, dass Gott irgendwie seine Kraft verloren hat. Das hat er nicht, aber er sucht Menschen, die bereit sind, den Preis dafür zu zahlen, dass durch sie Gottes Wunder in der Welt geschehen.
Ich möchte es noch einmal zeigen mit einem kleinen Schema – ich weiß noch nicht mal, ob das von einem Christen stammt oder nicht. Auf jeden Fall bringt es die Dinge auf den Punkt:
Links der große Pfannkuchen, das ist der Ort, wo die Magie passiert, das Zauberhafte, das Wunderbare, die Herrlichkeit Gottes mitten in unserer Welt. Vielleicht weiß der, der das skizziert hat, gar nichts von Gott, aber er weiß etwas davon, dass in dieser Welt wunderbare, begeisternde Dinge passieren, und wir wissen, von wem sie kommen. Da werden Menschen befreit, aus Feinden werden Freunde, Hoffnung entsteht, Freude, die Macht der Mächtigen zerfällt zu Staub. Und wir sagen: wow! Danke Gott! Aber rechts neben diesem großen Raum des Wunderbaren und Begeisternden gibt es einen kleinen Bereich, und da steht dran: deine Komfortzone. Das ist der Bereich, wo du nichts riskierst, wo du dich auf nichts Neues einlassen musst, wo du weiter so denken kannst wie alle denken und wie schon deine Eltern und Großeltern gedacht haben, wo du Konflikte vermeidest, die Rente sicher ist und alles seinen geregelten Gang geht.
Nun könnte man natürlich zuerst darauf hinweisen, dass man aus dieser Komfortzone ziemlich heftig herausgerissen werden kann durch alle möglichen großen und kleinen Katastrophen, und das stimmt. Das erfährt fast jeder irgendwann, selbst hier im reichen Westen.
Aber der Clou dieses Bildes ist etwas anderes: Solange du in dieser Komfortzone bleibst, wirst du auch nicht den Wundern begegnen, du wirst nicht die Herrlichkeit Gottes erleben, du wirst nicht die Souveränität erfahren, die Jesu seinen Leuten gibt. Wenn du hinein möchtest in diese Bewegung Gottes, dann musst du dich auf den Weg machen von rechts unten nach links oben. Unser risikoarmes und gut gepolstertes Normalleben ist einfach eine schlechte Umgebung für Wunder, und es ist auch eine schlechte Umgebung für alle Menschen die sich persönlich weiterentwickeln möchten. Das wissen auch kluge Nichtchristen. Ob es uns gefällt oder nicht, es ist so. Das sieht man am deutlichsten am Kreuz Jesu: das große Wunder der Auferstehung kam, als Jesus wirklich jede Art von Komfort hinter sich gelassen hatte. Als der Konflikt zwischen ihm und den Mächten der Welt bis zum Äußersten eskaliert war. Das Dunkle in der Welt wird nur besiegt durch Menschen, die es freiwillig auf sich nehmen. Wir können das nicht so tun, wie Jesus es getan hat, aber ein wenig von dem, was er auf sich genommen hat, ist auch uns zugedacht. Und wir sollen dazu Ja sagen.
Als Paulus schon längst weitergereist war, blieb er mit der Gemeinde in Philippi trotzdem in intensivem Kontakt. Er hat diesen Anfang dort nicht vergessen. Er schrieb ihnen den Philipperbrief, und Verse daraus haben wir vorhin als Epistellesung gehört (Philipper 1,27-20). Und da heißt es: »euch wurde die Gnade zuteil, für Christus da zu sein, also nicht nur an ihn zu glauben, sondern auch seinetwegen zu leiden.« Paulus sagt: das ist eine Gnade, wenn Gott uns aus der Komfortzone rausholt und wir uns auf der dunklen Seite der Welt wiederfinden. Wir sollen das nicht provozieren, aber wenn Gott es tut, dann sollen wir es als Gnade verstehen, weil er es zu unserem Besten tut. Ich habe – wie wir alle wohl – meine Zweifel, ob ich das so toll finde, wenn es passiert, aber davon wird die Wahrheit Gottes nicht falsch.
Als Paulus noch etwas später den Römerbrief schrieb, da hat er vielleicht auch an die Erlebnisse in Philippi gedacht, und dann ist er zu den Spitzensätzen in Römer 8 gekommen, wo wir gerade in der Reihe zum Römerbrief angekommen sind: »Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.« Und weiter »Was kann uns scheiden von der Liebe Gottes?« – nämlich von dieser Kraft, die auch versteinerte Verhältnisse zum Tanzen bringt, wenn Menschen bereit sind, dort an Gott festzuhalten, weil sie ihn lieben.