Der Tag, an dem es um alles ging
Predigt am 6. April 2012 (Karfreitag) zu Matthäus 27,33-56
33 So kamen sie [mit Jesus] an eine Stelle, die Golgata genannt wird. (Golgata bedeutet »Schädelstätte«.) 34 Dort gab man Jesus Wein mit einem Zusatz, der bitter wie Galle war. Aber als er gekostet hatte, wollte er nicht davon trinken. 35 Nachdem die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, warfen sie das Los um seine Kleider und verteilten sie unter sich. 36 Dann setzten sie sich beim Kreuz nieder und hielten Wache. 37 Über dem Kopf Jesu hatten sie eine Aufschrift angebracht, die den Grund für seine Verurteilung angab: »Dies ist Jesus, der König der Juden.« 38 Zusammen mit ihm wurden zwei Verbrecher gekreuzigt, einer rechts und einer links von ihm. 39 Die Leute, die vorübergingen, schüttelten den Kopf und riefen höhnisch: 40 »Du wolltest doch den Tempel niederreißen und in drei Tagen wieder aufbauen! Wenn du Gottes Sohn bist, dann hilf dir selbst und steig herab vom Kreuz!« 41 Ebenso machten sich die führenden Priester und die Schriftgelehrten und Ältesten über ihn lustig. 42 »Anderen hat er geholfen, aber sich selbst kann er nicht helfen«, spotteten sie. »Er ist ja der König von Israel! Soll er doch jetzt vom Kreuz herabsteigen, dann werden wir an ihn glauben. 43 Er hat auf Gott vertraut; der soll ihn jetzt befreien, wenn er Freude an ihm hat. Er hat ja gesagt: ›Ich bin Gottes Sohn.‹« 44 Und genauso beschimpften ihn die Verbrecher, die mit ihm gekreuzigt worden waren.
45 Um zwölf Uhr mittags brach über das ganze Land eine Finsternis herein, die bis drei Uhr nachmittags dauerte. 46 Gegen drei Uhr schrie Jesus laut: »Eli, Eli, lema sabachtani?« (Das bedeutet: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«) 47 Einige der Umstehenden sagten, als sie das hörten: »Er ruft Elia.« 48 Sofort lief einer los und holte einen Schwamm, tauchte ihn in Weinessig, steckte ihn auf einen Stab und hielt ihn Jesus zum Trinken hin. 49 »Wartet«, riefen die anderen, »wir wollen sehen, ob Elia kommt und ihn rettet!« 50 Jesus aber schrie noch einmal laut auf; dann starb er. 51 Im selben Augenblick riss der Vorhang im Tempel von oben bis unten entzwei; die Erde begann zu beben, die Felsen spalteten sich, 52 und die Gräber öffneten sich. Viele verstorbene Heilige wurden auferweckt. 53 Sie kamen nach der Auferstehung Jesu aus ihren Gräbern, gingen in die Heilige Stadt und erschienen vielen Menschen. 54 Der Hauptmann und die Soldaten, die mit ihm zusammen beim Kreuz Jesu Wache hielten, waren zutiefst erschrocken über das Erdbeben und die anderen Dinge, die sie miterlebt hatten, und sagten: »Dieser Mann war wirklich Gottes Sohn.« 55 Es waren auch viele Frauen dort, die von weitem zusahen. Sie waren Jesus seit den Anfängen in Galiläa gefolgt und hatten ihm gedient. 56 Unter ihnen befanden sich Maria aus Magdala, Maria, die Mutter von Jakobus und Josef, sowie die Mutter der Zebedäussöhne.
Damals hat es auf Messers Schneide gestanden, was aus uns und unserer Welt werden würde. Mit jedem Atemzug hat Jesus mühsam darum gekämpft, der zu bleiben, der er immer war. Seinen Weg bis zuletzt nicht zu verlassen. Sein Leben so zu Ende zu bringen, wie er es von Anfang an gelebt hat. Das war keine Selbstverständlichkeit, sondern dafür hat er sich von Atemzug zu Atemzug wieder neu entscheiden müssen: nicht so zu reagieren, wie jeder von uns sich verhalten würde. Nicht zur Verteidigung oder zum Gegenangriff überzugehen, sondern es alles mit sich geschehen zu lassen und sich nicht in Feindschaft gegen Gott oder gegen die Menschen drängen zu lassen. Wenn Jesus aufgegeben hätte, gäbe es keine Hoffnung mehr für die Welt.
Man kann ja den Eindruck haben, dass sie es mit allem, was sie ihm zufügen, genau darauf abgesehen haben: sie wollen ihn dazu bringen, so wie sie zu werden. Sie wollen in seine Seele mit Gewalt Hass hineinpflanzen, Verbitterung und Wut, all diese uns so naheliegenden Regungen des Herzens, die das Verhältnis zu Gott zerstören. Natürlich ist es auch politisches Kalkül, Jesus aus der Welt zu schaffen: der Mann hat an die Machtverhältnisse gerührt, die schon immer galten, der Mann muss weg, das können wir nicht zulassen, dass er uns hier auf der Nase herumtanzt, schon gar nicht in unserem Tempel und in unserem Jerusalem.
Aber was hier erzählt wird, das geht weit hinaus über das Beseitigen eines politisch gefährlichen Gegners. Die toben sich ja förmlich aus mit Hass, Wut und Spott. Das ist nicht bloß die Beseitigung eines politischen Rivalen. Nein: da soll etwas zerstört werden, was es einfach nicht geben darf. Der Eine, der anders ist als sie alle, der muss vernichtet werden, weil sie sich in ihrer ganzen Art von ihm angegriffen und bl0ßgestellt fühlen. Noch von dem ohnmächtigen, gequälten Mann am Kreuz fühlen sie sich so bedroht, dass sie die größten Anstrengungen unternehmen, um ihn in seiner letzten Stunde moralisch fertigzumachen.
Und hinter ihnen, ohne dass sie es wissen, steht noch ein anderer: der Versucher, der Feind Gottes. Er taucht nicht sichtbar auf, sein Name wird nicht genannt, aber der Evangelist Matthäus legt eine Spur, die uns zeigen soll, worum es wirklich geht. »Wenn du Gottes Sohn bist, dann steig vom Kreuz herab« sagen die Vorübergehenden. Das sind genau die gleichen Worte wie in der Geschichte von der Versuchung Jesu am Anfang seines Weges, als der Versucher ihn aufforderte: »Wenn du Gottes Sohn bist, so sprich, dass diese Steine Brot werden.« Damals hatte Jesus ihn abgewiesen und sich geweigert, Gott auf die Probe zu stellen. Es war dem Feind nicht gelungen, einen Keil zwischen Jesus und Gott zu treiben.
Aber jetzt ist er wieder da. Damals kam er mit schönen Worten, jetzt zeigt er sein wahres Gesicht und kommt mit Folterwerkzeugen und Henkersknechten. Das ist die letzte und entscheidende Runde in diesem Kampf. Er, der vom Misstrauen lebt, der voll Feindschaft ist gegen Gott, er kann es nicht ertragen, dass Jesus bis zuletzt sich nicht abbringen lässt von seinem Vater im Himmel. Dass er sich nicht hineinziehen lässt in die Auflehnung des Bösen.
Die Evangelien beschreiben wenig von den körperlichen Qualen der Hinrichtung. Wie so eine Kreuzigung vor sich ging, das wussten die Menschen damals. Sie kannten das, wie einer blutig geschlagen wurde, wie er dann unter der Last des Kreuzbalkens hinaus getrieben wurde zur Hinrichtungsstätte, wie er von erbarmungslosen Händen ausgezogen und auf dem Holz ausgestreckt und festgenagelt wurde, wie er hochgezogen wurde und dann schließlich Stunde um Stunde da hing, immer mühsamer gegen den Erstickungstod kämpfend, ein qualvolles Erlöschen in einem Ozean von Schmerz. Zu oft konnte man das damals erleben im römischen Imperium. Zur Warnung und Einschüchterung standen solche Kreuze vor den Toren der Städte, wo viele vorbeikamen. Das musste man nicht extra erklären.
Was die Evangelien aber ausführlich beschreiben, das ist der Spott, dem Jesus ausgesetzt war, selbst noch von den anderen Verurteilten neben ihm. Jesus ist umstellt von einer Mauer aus Ablehnung und Hass. Da ist keiner, der auch nur den Versuch machen würde, dem Gequälten beizustehen. Nirgendwo die Spur einer Zuwendung. Die treuen Frauen, die nicht geflohen sind wie die Jünger, sie stehen viel zu weit weg von ihm, um ihm irgendwie zur Seite stehen zu können. Gnadenlos nutzen seine Feinde die Lage aus, um ihn fertigzumachen, ihn mit ihrem Hass und ihrer Ablehnung zu quälen, um in ihm den Zweifel zu pflanzen, Zweifel an Gott und seiner Treue.
Und für Jesus gab es nicht den Schutzmechanismus; den wir alle kennen und anwenden: wenn uns jemand böse Worte sagt, dann distanzieren wir uns von ihm, wir sagen, dass uns an ihm sowieso nichts liegt, dass seine Worte sowieso nicht zählen, wir stellen uns vor, dass es ihm eines Tages schlechter geht als uns, dass er seine Strafe finden wird und ähnliches. Aber das war genau der Weg, den Jesus nicht gehen konnte. Er hat sich ja nie von den Menschen distanziert. Er hat nie jemanden zur Hölle gewünscht. Gerade weil sie ihm am Herzen liegen, deswegen können sie ihn verletzen. Weil ihm an ihnen liegt, deswegen tut es doppelt weh, wenn sie sich in ihren Hass und ihre Feindschaft verrennen. Jesus hat bis zuletzt den Schmerz Gottes über die verlorene Menschheit am eigenen Leibe ertragen.
Was Sünde wirklich ist, ihr wirkliches Gesicht ohne allen falschen Glanz und ohne Verstellung, das kann man da auf Golgatha sehen. Und Jesus hält aus im Zentrum von Feindschaft und Sünde. Er kann sich nicht mehr verteidigen gegen ihre Worte, er ist nur noch passives Objekt. Die ganze Zeit hindurch war immer er es, der handelte und die Initiative hatte. Und jetzt hängt er da nur noch und sagt kaum noch ein Wort.
Und trotzdem scheint er auch so noch in all seiner Jämmerlichkeit der geheime Herr des Geschehens zu sein. Sie kommen alle nicht los von ihm. Gerade in seiner Passion wird er für sie alle die stärkste Herausforderung. Es ist, als ob sie wissen: wir haben nur noch wenig Zeit, und in dieser Zeit müssen wir es schaffen, ihn von seinem Weg abzubringen. Wird es uns denn noch nicht mal so gelingen, ihn zum Hassen zu bekehren, zur Verbitterung, oder wenigstens zur Resignation und zur Selbstaufgabe? Jetzt endlich wollen sie ihm im letzten Versuch seine Macht nehmen, die Macht seiner Liebe und Güte, die in den Menschen Freiheit und Heilsein schuf und sie in Menschen nach Gottes Wohlgefallen verwandelt. Jetzt endlich wollen sie den Kern seiner Vollmacht zerstören, sein Geheimnis, an das sie nie herangekommen sind und das sie nie begreifen werden. Aber es gelingt ihnen nicht. Das ist gemeint, wenn vom »Sieg Jesu am Kreuz« gesprochen wird.
Sie haben ihn heraus gedrängt aus der Welt ans Kreuz, aber sie haben sein Geheimnis nicht zerstört, das, was ihm diese unglaubliche Macht über Menschen und selbst über die Natur gab. Sie kriegen ihn nicht weg von Gottes Seite. Bis zuletzt lebt er mit den Worten seiner Bibel und sagt: »Mein Gott«. »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« – Psalm 22. Und auch aus dem Spott und aus allem, was sie ihm antun, wird nur ein letzter, unartikulierter Gebetsschrei, noch einmal bringt er alles vor Gott, und dann ist es zu Ende mit ihm.
Aber als er so stirbt, da ist zum ersten Mal ein menschliches Leben zu Ende gegangen, über das der Versucher keine Macht gewinnen konnte. Er hat seine Grenze gefunden, die er auch mit Folter, Spott und Tod nicht überwinden konnte. Er hat verloren.
Und nun ist im biblischen Denken ganz wichtig, dass bestimmte Ereignisse ein für allemal die Wirklichkeit prägen. Das Versagen Adams und Evas hat über den Weg der Menschheit entschieden. Man könnte sagen: wieso denn, die nächste Generation kann es doch besser machen. Aber die Bibel sagt: diese Weichenstellung ist geschehen, diese Entscheidung ist gefallen, und dahinter gibt es kein Zurück. Ein einziges Ereignis entscheidet ein für allemal.
Und genau solch ein Ereignis ist auch der Tod Jesu. Man könnte auch hier sagen: na gut, einmal hat der Feind verloren, beim nächsten Mal gewinnt er vielleicht wieder. Aber auch diese Ereignis gilt ein für allemal. Von dieser Niederlage erholt sich der Versucher nicht. Jetzt ist wieder eine Weichenstellung passiert, und dahinter kann er auch nicht mehr zurück.
Und diese Weichenstellung hinterlässt von nun an deutliche Spuren in der Welt. Schon durch den ganzen Bericht vom Karfreitag ziehen sich solche Spuren. Das wird gerade an den Feinden Jesu deutlich. Selbst ihr Hohn ist immer haarscharf dran an der Wahrheit. Widerwillig müssen sie selbst in ihren Spottworten bestätigen: Andern hat er geholfen. Er hat Gott vertraut. Und vielleicht schwingt da sogar Neid mit, dass einer das kann.
Und dann die Soldaten unter dem Kreuz! Das sind die Fachleute des Todes. Sie haben schon viele sterben sehen, sie können vergleichen, und sie merken es als erste: das ist ein besonderes Sterben. Diese hart gesottenen Burschen erschrecken vor dem, was sie da miterlebt haben.
Und sie nehmen die Spottworte der Hohenpriester auf und sprechen es aus: wahrhaftig, dieser isttatsächlich Gottes Sohn gewesen! Durch die Art, wie er gestorben ist, hat Jesus seine Henker überzeugt. Was ist das für ein Erfolg der Feinde Jesu, wenn es jetzt schon bei den Henkern anfängt zu bröckeln! Da blitzt schon der Sieg auf, der Ostern dann endgültig offenbar werden wird.
Und noch mehr: Der Himmel verfinstert sich, der Vorhang im Tempel zerreißt, die Erde bebt, die Gräber tun sich auf. Die Erde und das Heiligtum, sie registrieren eine Erschütterung, die ihre Grundfesten ins Wanken bringt. Die Menschen werden noch brauchen, bis sie verstehen, was da passiert ist. Aber der Kosmos reagiert schon jetzt mit Erschütterungen. Er zeigt an, dass etwas grundlegend Neues passiert ist zwischen Gott und seiner Welt.
Die Evangelien sind ganz sparsam mit zusammenfassenden Begriffen dafür. Sie bleiben bei der Geschichte. Sie beschreiben den Preis, den Jesus bezahlen musste; ja, man kann sagen, dass das das Opfer war, dass er bringen musste, wenn er Gott und den Menschen treu bleiben wollte. Das Erdbeben und die Finsternis zeigen an, dass sich jetzt die Bedingungen geändert haben, unter denen Menschen leben, und so kann man sagen, dass Jesus für uns gestorben ist. Alle theologischen Formeln sind Versuch, diese Geschichte zu verstehen und auszudrücken, dass sie eine Bedeutung für alle Zeit hat.
Da hat endgültig eine neue Menschheit begonnen, die anders zu Gott steht. Zwar gehört zunächst nur ein einziger zu dieser neuen Menschheit, aber er wird nicht allein bleiben. Jesus will sein Leben in uns weiterleben. Dies neue Verhältnis zu Gott, in dem er immer gelebt hat und das sich sogar im konzentrierten Angriff von Hass und Bosheit bewährt, das steht uns offen. Jesus blieb unbesiegt, und deshalb hat ihm Gott in der Auferstehung ein neues Leben gegeben.
Wenn heute Christen auch unter Druck dem Reich Gottes treu bleiben und sich nicht von Glauben und Liebe abbringen lassen, dann ist es Jesus, der in ihnen lebt und leidet und aushält. Er ist es auch, der uns unter viel geringeren Belastungen Gott und den Menschen treu bleiben lässt. Was auch immer kommen mag, wir sollen uns nicht auf unsere Stärke und Durchhaltekraft verlassen, sondern auf Jesus, der in uns lebt, und auf den Heiligen Geist, der uns die richtigen Worte gibt.
Wer Jesus seinen Herrn nennt, der lebt nach dem neuen Recht, das er in Kraft gesetzt hat. Er lebt als Glied der neuen Menschheit, deren Grundlage damals auf Golgatha unumstößlich geworden ist. Jesus mit seiner Kraft, die stärker ist als Tod und Teufel, lebt in ihm.