Die Zukunft der Gemeinde
Predigt im Besonderen Gottesdienst am 18. März 2012 zu Amos 5,14.21-24
Im Gottesdienst waren zuvor Szenen zur alttestamentlichen Lesung, die zugleich Predigttext war, zu sehen. Danach wurden Texte aus dem letzten Lebensjahr Dietrich Bonhoeffers gelesen (aus den »Gedanken zum Tauftag von Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge« sowie aus dem »Entwurf einer Arbeit«, beide aus »Widerstand und Ergebung«). Auf beides bezieht sich die Predigt.
Wenn wir über die Gemeinde der Zukunft nachdenken, dann tun wir das nicht so, dass wir möglichst zutreffende Prognosen aufstellen, wie das alles wohl kommen wird, und in 10 Jahren schauen wir mal nach, ob wir Recht behalten haben. Wir denken nicht nach als unbeteiligte Zuschauer, sondern wir denken nach als Akteure, als Handelnde. Die Zukunft der Gemeinde und die Zukunft unserer Gemeinde kommt nicht irgendwie, sondern wir werden sie gestalten. Im Guten wie im Bösen, jeder an seinem Platz und mit seinen Möglichkeiten, werden wir mit unserem Nachdenken oder Nicht-Nachdenken, mit unserer Aktivität oder unserer Passivität darüber entscheiden, wie die Zukunft der Gemeinde aussehen wird. Die Frage ist also nicht: welche Gemeinde wird kommen, sondern: welche Gemeinde ist unser Ziel? Und der Kirchenvorstand, der heute neu gewählt wird, hat dabei natürlich eine ganz wichtige Funktion.
Andererseits können wir uns aber auch nicht einfach nach Lust und Laune eine Gemeinde zurechtbasteln, wie wir sie gerne hätten. Da sind ja noch andere Menschen, die sich vielleicht etwas ganz anderes wünschen, und da ist Gott, der das ganze Bild vor Augen hat und Wege finden muss, wie er uns mit unserer begrenzten Sicht in seiner großen Geschichte eine gute Rolle spielen lassen kann. Und da ist schließlich die lange Vorgeschichte, die wir nicht umgehen können, nicht nur die Vorgeschichte unserer Gemeinde, sondern die ganze lange Geschichte des Volkes Gottes, durch viele Jahrhunderte und viele Generationen hindurch, und wir können da nicht einfach raus und ganz von vorn anfangen.
Und deswegen haben wir heute schon auf zwei ganz verschiedene Stimmen aus der Geschichte Gottes mit seinem Volk gehört. Da ist einmal Amos, ein Prophet, der vor über 27 Jahrhunderten in Israel lebte: in einer Zeit mit einer stabilen Konjunktur – es ging voran in Israel, die Wirtschaft brummte, aber die Armen wurden ärmer und die Reichen immer reicher. Das alles spiegelte sich in den Tempelgottesdiensten, die glanzvolle Veranstaltungen waren, aber in Wirklichkeit war das eine glanzvolle Fassade, hinter der Betrug und Gewalt herrschte. Wir haben ja vorhin die Szenen dazu gesehen.
Damals bekam Amos von Gott einen Impuls: sprich es aus, dass das nicht mein Wille ist. Mich widern diese Gottesdienste an, je aufwendiger sie sind. Das habe ich nie gewollt, das habe ich schon befürchtet, als ihr diesen Tempel bautet. Gerechtigkeit ist mein zentrales Ziel, und wenn die Gottesdienste dem dienen, ist es ok, wenn aber nicht, dann kann ich auf eure Opfer gern verzichten.
Hätte man Amos gefragt, wie denn wohl die Zukunft der Gemeinde aussehen würde, die Zukunft des Volkes Gottes damals, dann wäre seine Antwort: wenn ihr euch ändert, wird Gott euch bewahren. Aber wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr zugrunde gehen. Und so kam es dreißig Jahre später: die Assyrer eroberten das Nordreich Israel und zerstreuten das Volk in alle Winde. Es verschwand aus der Weltgeschichte, nur das Südreich Juda blieb bestehen.
Der Zweite, von dem wir vorhin gehört haben, Dietrich Bonhoeffer, ist viel näher an uns dran. Das ist die Generation meines Vaters, für manch andere hier unter uns die Generation der Großeltern oder Urgroßeltern. Bonhoeffer starb 1945 kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges; er gehörte zu denen, die die Nazis noch schnell umbrachten, bevor ihr Spiel verloren war.
Hätte man Dietrich Bonhoeffer nach der Zukunft der Gemeinde Jesu gefragt, dann wäre er wahrscheinlich im Lauf der Zeit immer unsicherer geworden. Er war Theologe, aber die Zeitumstände sorgten dafür, dass er nicht einfach Gemeindepastor werden konnte. Er gehörte zur Bekennenden Kirche, die sich gegen eine Machtübernahme der Nazis in der Kirche wehrte. Zuerst bildete Bonhoeffer junge Pastoren aus, er gründete mit einigen von ihnen eine geistliche Gemeinschaft, dann bekam er zur Tarnung eine Stelle beim militärischen Geheimdienst und unterstützte die Verschwörer des 20. Juli, die ein Attentat auf Hitler vorbereiteten, das schließlich um Haaresbreite missglückte. Er wurde verhaftet und verbrachte seine letzten Lebensjahre im Gefängnis.
Und dort im Gefängnis wurde ihm die Kirche, die er kannte, immer fragwürdiger. Wir haben vorhin Auszüge aus der Taufpredigt für sein Patenkind gehört, wo er sagt: wir wissen gar nicht mehr, was mit den ganzen großen biblischen Begriffen gemeint ist. Wir ahnen, dass da etwas ganz Neues, Revolutionäres verborgen ist, aber wir haben noch nicht die Worte und Gedanken, um es auszusprechen. Wir leben in einer Zeit, wo das Alte nicht mehr trägt und das Neue noch nicht geboren ist. Und deswegen müssen wir jetzt beten und das Gerechte tun, bis uns das Neue geschenkt wird und auch die Worte dafür, und dann werden wir auch wieder laut reden können, und die Welt wird verwandelt werden.
Das ist heute kein völlig unerhörter Gedanke mehr, aber damals waren das Ideen, die kaum einer nachvollziehen konnte. Und bis heute sind die nicht wirklich angekommen. So radikal das Bekannte anzweifeln und mit dem Unbekannten und Unsichtbaren rechnen, das kann wahrscheinlich nur einer, der in Gestapohaft sitzt und nicht sagen kann, ob er den nächsten Tag überleben wird.
Was hätte wohl Dietrich Bonhoeffer gesagt, wenn man ihn zur Zukunft der Gemeinde befragt hätte? Auch da wäre die Antwort wohl eine doppelte gewesen. Er hätte vielleicht gesagt: ihr könnt den verheißungsvollen Weg nehmen – Beten und das Tun des Gerechten. Eine eher zurückgenommene Art Gemeinde zu sein: beten, das Gerechte tun, dem Gemeinwesen dienen und abwarten, was Gott schenken wird. Abwarten, bis sich das Neue klarer zeigt und sich auch die tragfähigen Worte einstellen. Und aus dieser eher stillen und bescheidenen Kirche am Rande wird das Neue geboren werden. Ich denke, Bonhoeffer hat dafür vielleicht mit einer Zeit von einer Generation gerechnet.
Und dann hätte er wohl gesagt: es gibt auch einen anderen Weg, aber ich kann ihn nicht empfehlen. Nach dem Schock des Nazi-Regimes schnell wieder die Kirche aufbauen, die alte Stärke zurückgewinnen und weitermachen wie vorher. Das Haus reparieren, obwohl das Fundament ziemlich schadhaft ist. Damit werdet ihr euch den Neuanfang nicht ersparen, aber es wird länger dauern. Es wird mühsamer werden.
Die Kirche hat dann nach 1945 versucht, beides zu tun: schnell wieder die alte Position zurückzugewinnen, und gleichzeitig auch die Verantwortung für die Gesellschaft wahrzunehmen. Bei uns hier in Groß Ilsede gab es z.B. nach dem Krieg einen steilen Anstieg des Gottesdienstbesuches, und ab den 1950er Jahren ging es dann 20 Jahre lang wieder kontinuierlich nach unten. Aber so war es eigentlich überall. Und seit den 1970er Jahren gibt es ein kontinuierliches Schrumpfen der Zahl der Kirchenmitglieder. Nicht dramatisch, kein großer Knall, sondern ein kontinuierlicher Schwund, der sich natürlich über die Jahre ganz schön summiert.
Und gleichzeitig geschieht im Hintergrund und im Verborgenen tatsächlich das, was Bonhoeffer beschrieben hat: der Beginn einer Neugeburt des christlichen Glaubens und einer neuen Sprache dafür. Und zwar weltweit: überall gibt es Zeichen für dieses Neue. Auch davon erleben wir schon etwas. Da wächst etwas, aber es hat keinen Sinn, das vor der Zeit zu pushen und mit Macht in die Öffentlichkeit zu bringen. Wenn es so weit ist, wird Gott dafür sorgen. Niemand zündet ein Licht an, um es zu verstecken, hat Jesus gesagt. Wenn Gott etwas Neues beginnt, dann sorgt er schon dafür, dass es wahrgenommen wird. Und das, denke ich, ist die wichtigste Aufgabe für jeden, der in der Kirche Verantwortung trägt: dafür sorgen, dass dieses Neue heranwachsen und geboren werden kann.
Natürlich muss ein Kirchenvorstand auch umbauen und den Haushalt beschließen und dafür sorgen, dass die Heizung funktioniert. Aber vor allem muss er Ausschau halten nach dem Neuen, das Gott im Verborgenen schon wachsen lässt. Wenn nicht alles täuscht, gehen wir in der Welt auf sehr krisenhafte Zeiten zu, wo dringend Menschen gebraucht werden, die das Wort Gottes so aussprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert, wie Bonhoeffer es erhoffte.
Soweit diese beiden Stimmen aus der Geschichte des Volkes Gottes, Amos und Bonhoeffer. 26 Jahrhunderte liegen zwischen ihnen. Und trotzdem kann man da eine Verbindung sehen. Beide stehen gegen eine Religion, die sich mit der Unterdrückung von Menschen verbündet. Bei Amos war das damals etwas ganz Neues, bisher Ungekanntes. Nirgendwo sonst glaubte jemand, dass die Verehrung von Göttern und gesellschaftliche Ungerechtigkeit etwas miteinander zu tun haben könnten. Den Göttern der Völker ringsum war es egal, wenn die Armen immer ärmer wurden und die Reichen sich alles aneigneten. Aber der Gott Israels protestierte durch Amos laut dagegen. Der wollte keine Gottesdienste, die mit dem Geld der Unterdrücker finanziert wurden. Das war damals total ungewöhnlich.
Und Jahrtausende später fragt Bonhoeffer, ob denn der christliche Glaube überhaupt notwendigerweise im Gewand der Religion auftreten muss? Ob das nicht nur ein vorübergehendes Bündnis ist, das nun zu Ende geht? Und er versucht zu überlegen, wie das aussehen könnte: ein Christentum, das nicht mehr Religion ist?
Zwischen Amos und Bonhoeffer steht Jesus, der ja tatsächlich den Tempel hinter sich gelassen hat und seinen Jüngern einen Ritus gegeben hat, zu dem man keine Tempel mehr braucht, nämlich das Abendmahl. Stattdessen liest man im Neuen Testament immer wieder, dass Menschen der Tempel Gottes sind, nämlich die Gemeinde. Und dass ein Opfer in einer anderen Art zu leben besteht, nicht im Schlachten von Tieren.
In den ersten Jahrhunderten galten die Christen sogar als Atheisten, weil sie keine Tempel und Priester hatten. Im Unterschied zu allen anderen opferten sie nicht – damals war das die normale Art des Gottesdienstes, überall: dass man zu Ehren der Götter Tiere schlachtete. Die Christen haben das nicht getan, und es hat gewirkt: heute tut das fast keiner mehr.
Ich denke, Bonhoeffer war auf der richtigen Fährte, als er Ausschau hielt nach einem Christentum, das keine Religion mehr ist. Religion ist immer in Gefahr, gute Miene zum bösen Spiel des Unrechts zu machen. Und in der Gegenwart hat sie, mindestens bei uns in Westeuropa, auch den größten Teil ihrer Kraft verloren. Ich glaube nicht, dass es gelingen wird, das irgendwie rückgängig zu machen.
Religionsfreies Christentum hieß für Bonhoeffer aber nicht, dass man aufhören sollte, zu beten oder Abendmahl zu feiern. Aber es bedeutet, dass das Christentum seinen Schwerpunkt verlagern muss: in Zukunft sollten weniger die Gebäude vom Glauben erzählen, und dafür mehr die Menschen. Wir werden weniger mit Symbolen und Zeichen arbeiten und stattdessen mehr Realität verändern – als Zeichen der großen Erneuerung, die Gott heraufführt. Wir werden weniger Geld haben, aber mehr und Wichtigeres erreichen. Wie Menschen neu werden können, vom Geist Jesu bewegt, das sollte immer mehr in den Mittelpunkt rücken.
So eine Schwerpunktverlagerung macht man aber nicht mal so eben. Da muss sich eine ganze Kultur ändern, da wird sich auch die Theologie ändern: das sind die neuen Worte, die neue Sprache, auf die Bonhoeffer wartete.
Und jeder, der für eine Gemeinde Verantwortung trägt, soll vor allem an diesen Neuanfang denken, diese Neugeburt. Bonhoeffer hätte sicher nicht gedacht, dass das alles so lange dauern würde. Institutionen wie die Kirche sind eben langsam. Aber Gott hat den längeren Atem. Wir können mit großen Erwartungen der Zukunft der Gemeinde – und der Zukunft unserer Gemeinde – entgegenschauen.