Mikro-Revolutionen für jeden
Predigt am 29. Januar 2012 zu Johannes 12,34-36
34 Die Leute hielten Jesus entgegen: »Das Gesetz lehrt uns, dass der Messias ewig bleiben wird. 24 Wie kannst du da behaupten, der Menschensohn müsse erhöht werden? Wer ist überhaupt dieser Menschensohn?« 35 Jesus erwiderte: »Das Licht ist nur noch kurze Zeit unter euch. Geht euren Weg im Licht, solange ihr das Licht habt, damit die Finsternis euch nicht überfällt. Wer in der Finsternis unterwegs ist, weiß nicht, wohin sein Weg ihn führt. 36 Glaubt an das Licht, solange ihr das Licht habt, damit ihr zu Menschen des Lichts werdet.« Nachdem Jesus so zu ihnen gesprochen hatte, zog er sich zurück und hielt sich von da an vor ihnen verborgen.
Diese Verse stehen im Johannesevangelium kurz vor der Stelle, wo Jesus aufhört, öffentlich zu reden und nur noch die letzten Vorbereitungen für seinen Tod trifft. Wenn er sagt: »der Menschensohn muss erhöht werden«, das ist eine Art Codewort für seinen Tod: im Johannesevangelium wird damit einerseits angedeutet, dass Jesus an ein Kreuz genagelt wird, das dann aufgerichtet – erhöht – wird, und andererseits, dass er gerade so sein Werk endgültig vollenden wird.
Und die Leute verstehen das mindestens so weit, dass Jesus von einer Rettergestalt redet, die sterben muss, und sie wenden unter Berufung auf Bibelstellen ein: das kann nicht sein, dass ein von Gott Gesandter sterben muss – der wird eben gerade keine Niederlage erleiden!
Und sie fragen: wer ist denn dieser Menschensohn, von dem du redest? Das ist eine Frage, die die Gelehrten bis heute beschäftigt. Beim Propheten Daniel wird eine Szene geschildert, eine Vision, in der vier Monster dem Meer entsteigen, und das sind Bilder für große Reiche, Machtzusammenballungen, die Unheil anrichten. Aber dann kommt ein Mensch, eben der Menschensohn, und dem wird von Gott die ganze Herrschaft gegeben. Und das heißt: die entscheidenden Dinge geschehen nicht durch die Macht-Monster, sondern durch normale Menschen. Durch normale Menschen, die von Gott bevollmächtigt werden. Die haben den Schlüssel zur Weltgeschichte anvertraut bekommen.
Aber das ist natürlich eine dunkle Stelle, wie gesagt, die Gelehrten sind sich bis heute nicht einig darüber, und auch die Leute in der Zeit Jesu, für die war das schon eine unklare Sache, und sie wollten seine Interpretation hören, um darüber zu diskutieren.
Aber Jesus schneidet diese ganze Diskussion ab und sagt: glaubt an das Licht, damit ihr Menschen des Lichts werdet! Ihr habt nur noch wenig Zeit dafür! Und er richtet so die Aufmerksamkeit auf eine ganz andere Frage: wie kann die Erneuerung, um die es geht, im normalen, banalen, alltäglichen Leben geschehen? Die Frage nach dem Menschensohn ist eine sehr grundsätzliche Frage, aber sie bekommt nur wirkliche Bedeutung, wenn sie den Alltag erreicht. Und Glaube ist die Orientierung, die man dafür braucht. »Glaubt an das Licht, damit ihr zu Menschen des Lichts werdet«, das heißt: worauf man schaut, das prägt und durchdringt einen; worauf man schaut, wovon man sich beeinflussen lässt, das sorgt dafür, welche Lebens-Wirkung wir erzielen. Und diese Frage, was wir für Menschen sind, die hat Auswirkungen bis in die ganzen großen Bereiche der Macht hinein.
Ich will es an einem Beispiel sagen, damit deutlich wird, wieso das so wichtig ist. Wir haben im vergangenen Jahr den großen Aufbruch in den arabischen Ländern erlebt, wo auf einmal viele junge Leute demonstriert haben, wo sie die Plätze gefüllt haben und viele Regimes ins Wanken gebracht haben, in den einzelnen Ländern ganz unterschiedlich. Und damals habe ich etwas von einem arabischen Schriftsteller gelesen, ich glaube, es war der Syrer Rafik Schami, aber ich bin mir nicht sicher. Jedenfalls fand ich das sehr einleuchtend. Der sagte in einem Interview sinngemäß: diese ganzen arabischen Regimes, die können sich nur deswegen halten, weil die Menschen in ihren Großfamilien und Clans auch so autoritär geleitet würden wie im Staat. Wenn der Clanchef oder der Patriarch etwas sagt, da gibt es keinen Widerspruch, und das spiegelt sich dann auch in der politischen Ordnung.
Ich fand es sehr interessant, so darüber nachzudenken, wie die Organisation des Staates und der Lebenswelt der einzelnen Menschen zusammenhängen. Das würde ja bedeuten, das zB die Demokratie auch einen demokratischen Unterbau braucht, wo Menschen im Alltag lernen, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen und sich nicht rumkommandieren zu lassen.
Dieses Interview habe ich im vergangenen Jahr gelesen, und das Interessante war: als jetzt Wahlen waren, hat sich das deutlich bestätigt. Ein ganz großer Teil der Menschen hat traditionelle, religiöse Parteien gewählt, obwohl die am wenigsten dazu beigetragen haben, dass es überhaupt freie Wahlen gab. Und es hat sich gezeigt, dass die vielen jungen Leute mit Handy und Laptop, die diesen ganzen Umschwung möglich gemacht haben, dass die noch eine kleine Minderheit in ihrer Gesellschaft sind. Das ist für die Länder da schon viel, es hat für die Umstürze gereicht, aber die meisten Menschen dort sind eben noch ganz traditionell. Und so wird dieses hochmoderne Erwachen in der arabischen Welt jetzt wahrscheinlich recht traditionelle Regierungen hervorbringen. Es wird etwas freier sein als vorher, vielleicht auch ein ganzes Stück religiöser, aber diese Tage der Befreiung, wo die Menschen erlebt haben, wie unter ihnen Mut und Fantasie aufgebrochen sind, wo sie sich als Handelnde erlebt haben und nicht nur als Befehlsempfänger, die werden wenig Niederschlag finden in der neuen Ordnung, weil die Menschen in ihrer Mehrzahl noch nicht herausgekommen sind aus den Bindungen und Ängsten, in denen sie drinstecken. Man könnte sagen; es hat einen politischen Umsturz gegeben, aber der ist nicht von einem kulturellen Umsturz begleitet worden, und ohne Kulturrevolution steht auch die politische Revolution auf wackligen Füßen.
Warum erzähle ich das so ausführlich? Weil Jesus über diesen Zusammenhang von politischer und kultureller Befreiung spricht. Die Leute wollen mit ihm über den Menschensohn diskutieren, über den Messias, und da geht es um politische Befreiung. Die Frage ist: wie können wir das Joch der fremden Herrschaft abschütteln, diese Monster, die uns bedrohen. Und das ist eine wichtige Frage.
Aber Jesus geht es um ein viel wichtigeres Thema: wie können wir Menschen des Lichts werden, so dass überhaupt erst die Voraussetzungen für ein Leben in Freiheit geschaffen werden? Wie können wir in unserem Umfeld eine Mikro-Kulturrevolution durchführen? Wann der Zeitpunkt für einen politischen Umsturz kommt, darüber können Menschen ausdauernd reden, und sie kommen sich dann manchmal wie richtige Strategen vor, aber die meisten dieser Gedanken sind nur schöne Träume. Sie bewirken nichts.
Wenn es aber um die Frage geht, wie wir leben und denken wollen, dazu kann wirklich jeder Einzelne etwas beitragen. Jeder kann in seinem Umfeld mit einem kulturellen Umsturz beginnen, und das ist in unserer Zeit äußerlich gesehen leichter als je zuvor. Wir haben viel Freiheit, wir haben Internet, von außen hindert uns kaum jemand. Das Problem ist nur, dass die gewohnte Kultur so in uns drinsteckt; dass wir sie für so selbstverständlich halten wie die Luft, die uns umgibt. So wie auch jemand, der zu einer arabischen Großfamilie gehört, sich gar nicht vorstellen kann, ohne Zustimmung des Clanchefs zu heiraten oder einfach von zu Hause auszuziehen. Uns erscheint das seltsam, aber meinen wir denn, wir wären freier von unseren Selbstverständlichkeiten?
Man muss irgendwo eine Alternative kennengelernt haben, bevor man überhaupt auf die Idee kommt, man könnte auch anders leben. Deshalb hat Jesus um sich herum die Gruppe seiner Jünger aufgebaut und hat Stück für Stück ihre Kultur verändert. Sie lernten von ihm eine andere Art zu leben kennen, und das ging tatsächlich nur langsam, ganz mühsam.
Deshalb sagt er: es ist das Licht nur noch eine kurze Zeit bei euch. Nutzt es, so lange es da ist. Wer in der Finsternis unterwegs ist, der weiß nicht, wohin sein Weg ihn führt. Wenn er vom Licht spricht, dann redet er natürlich von sich selbst, und er sagt: wenn du keine Alternative kennst, dann bist du in deiner Kultur gefangen, dann bist du ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, und sie wird dich möglicherweise dahin bringen, wo du eigentlich gar nicht hin willst, du wirst dir selbst und anderen großes Leid zufügen, und wirst doch nicht anders können.
Wenn wir an Veränderung denken, dann haben wir bis heute vor allem politische Verschiebungen im Auge, Wahlen, Revolutionen, Staatsverfassungen, Gesetze. Aber die können in der Regel nur dem eine Gestalt geben, was vorher schon im Verborgenen bei den Menschen gewachsen ist. Diese vorlaufenden kulturellen Revolutionen sind viel entscheidender. Und das junge Christentum hat tatsächlich das mächtige römische Reich durch viele solche Mini-Revolutionen unterwandert. Die ganze militärische Macht des Imperiums hat das nicht verhindern können.
Und das ging deshalb, weil Jesus eine Kultur hinterlassen hat, die von der Kraft Gottes lebte und nicht in Furcht vor Patriarchen oder Matriarchinnen. Eine ganz kleine Gruppe von Menschen, ohne Einfluss oder äußerliche Macht. Aber sie hatten Ihn erlebt, sie hatten Sein Licht gesehen und waren in diesem Licht eine Zeit lang unterwegs gewesen. Und dann hatten sie erlebt, wie er auch die letzte Prüfung am Kreuz bestand, und sie hatten verstanden, dass alles das, was sie von ihm gelernt hatten, stärker war als alle Monster der Macht, der Gewalt und des Todes.
Wenn wir also über die Zukunft unseres Landes und die Zukunft der Welt nachdenken, dann sollten wir uns wirklich nicht zu sehr über Politiker und ihre Schattenseiten aufregen. Die Führungskräfte spiegeln eigentlich immer nur das Klima und die Kultur eines Landes wider. Mal sind sie ein bisschen besser, mal ein bisschen problematischer. Die wichtigsten Entscheidungen fallen nicht an den Wahlurnen (so wichtig die auch sind), sondern es kommt darauf an, ob wir Menschen des Lichts werden. Das kann jeder. Und keine Regierung kann völlig gegen ihr Volk handeln.
Deswegen sind Gemeinden so wichtig als Brutstätten einer neuen Kultur: Räume, die offen sind für die Impulse Gottes, und wo dann im Zusammenspiel von Gott und Mensch eine neue Art zu leben wächst. Orte, wo wir gemeinsam an das Licht glauben, uns darauf ausrichten und dann Menschen des Lichts werden. Dass wir hier bei uns an diesem Stichwort »fair leben« arbeiten, ist ein kleiner Schritt in diese Richtung. Und es ist wichtig zu wissen: da gibt es Momente, in denen man sich entscheiden muss, Momente in denen man durch Türen gehen muss, die irgendwann nicht mehr offen stehen. Es gibt ein Zu spät. Rechtzeitig Alternativen zu kennen ist lebenswichtig.
Aber Gottes Weg durch die Welt läuft nicht über die großen Machtzusammenballungen sondern über die Kraft einfacher Menschen, die von ihm inspiriert sind und unter denen sein Reich wächst, das eines Tages die ganze Welt gestalten wird.