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Als in der Frühzeit des Internet französiche Kapitalgeber für Online-Projekte gesucht wurden, wollten sie wissen: wer ist der Vorsitzende des Internet? Sie verstanden die Struktur eines offenen Systems nicht und suchten verzweifelt nach dem Boss des Ganzen. Brafman und Beckstrom machen den Unterschied deutlich am Vergleich einer Spinne mit einem Seestern: beide haben zwar viele Beine, aber die Spinne hat einen Kopf, der Seestern nicht. Wenn man einem Seestern ein Bein ausreißt, dann wächst daraus ein neuer Seestern. Es gibt kein zentrales Steuerungsorgan, sondern nur ein Zusammenwirken aller Teile. Die Spinne funktioniert wie die Azteken, der Seestern wie die Apachen.
Das zweite Prinzip der Dezentralisation lautet deshalb: Man kann einen Seestern leicht mit einer Spinne verwechseln. Erst wenn man genau hinschaut, erkennt man den Unterschied.
Eins der besten Beispiele für einen Seestern sind die Anonymen Alkoholiker. Das Grundmuster wurde 1935 von Bill Wilson erfunden: Alkoholabhängige helfen sich gegenseitig. Aber Wilson wurde nicht der Vorsitzende einer Organisation namens AA, er meldete kein Patent an oder veranstaltete Pflichtschulungen für Leiter. Stattdessen erlaubte er jedem, selbst eine Gruppe zu gründen. Und so gibt es heute in der ganzen Welt AA-Gruppen. Sie gehören niemandem, niemand hat sie unter Kontrolle. Keiner weiß, wie viele Mitglieder oder wieviele Gruppen es gibt. Aber wer mitmacht, ist auch für die Leitung verantwortlich.
Ein Gegenbeispiel ist der Labor-Day-Hurrican von 1935: obwohl der Verantwortliche vor Ort dringend warnte, starben 259 Arbeiter einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme auf den Florida-Keys, weil die Organisation es nicht schaffte, die lokal vorhandene Kenntnis in zentrale Entscheidungen (d.h. Evakuierung der Arbeiter) umzusetzen. „Kathrina“ lässt grüßen.
Das dritte Prinzip der Dezentralisation lautet deshalb: Ein offenes System hat keine zentrale Intelligenz, sondern die Intelligenz ist im System verteilt.
Am Beispiel der AA kann man auch das vierte Prinzip der Dezentralisation erkennen: Offene Systeme haben es leicht, sich zu verändern. Das AA-Muster etwa wurde später auf andere Süchte und Probleme übertragen. Daran hatte Bill Wilson nie gedacht, aber es funktionierte.
Diese enorme Anpassungsfähigkeit erlaubt es offenen Organisationen, unglaublich schnell zu wachsen. Deshalb lautet das fünfte Prinzip der Dezentralisation: eine offene Organisation schleicht sich unbemerkt an. In einem Augenblick kann sie ganze Branchen übernehmen. In den fünf Jahren von 2001 bis 2006 stellten so die Filesharing-Netzwerke das 100 Jahre alte Geschäftsmodell der Musikindustrie in Frage.
Wie aber kann man so eine Entwicklung rechtzeitig erkennen? Dazu muss man die richtigen Fragen stellen, nämlich die folgenden:
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Gibt es einen Chef?
In einem offenen System gibt es niemanden an der Spitze. -
Gibt es ein Hauptquartier?
Jede spinnenartige Organisation hat eine Zentrale. Die Seestern-Organisationen haben keine. -
Gibt es einen Kopf, den man abschlagen kann?
In Seestern-Organisationen gibt es normalerweise kein Zentrum, durch dessen Zerstörung man die Organisation tödlich treffen könnte. -
Gibt es eine klare Rollenverteilung?
In dezentralisierten Organisationen darf jeder die Initiative ergreifen, egal was er vorhat. Jeder darf alles. Niemand muss einen Vorstand um Erlaubnis fragen. -
Ist die Organisation ernsthaft gefährdet, wenn eine Einheit lahmgelegt wird?
In zentralen arbeitsteiligen Organisationen gefährdet der Ausfall einer Einheit alle anderen. In dezentralen Organsiationen ist jede Einheit autonom und kann ggf. auch ohne die anderen weitermachen. -
Sind Wissen und Macht konzentriert oder verteilt?
In Seestern-Organisationen gibt es niemanden, bei dem sich Wissen und Entscheidungsbefugnisse konzentrieren. Macht ist über die ganze Organisation verteilt, weil jedem zugetraut wird, die richtigen Entscheidungen zu fällen. -
Ist die Organisationsstruktur flexibel?
Offene Organisation wandeln sich dauernd, weil die Mitglieder schnelle Entscheidungen treffen können. -
Kann man die Beschäftigten oder die Mitglieder zählen?
Niemand kann wissen, wieviele Menschen zu einer Seestern-Organisation gehören. Niemand führt eine Liste, und wenn, dann wäre sie schon im nächsten Moment wieder überholt. -
Bekommen die Untereinheiten ihre Finanzen von der Zentrale, oder kümmern sie sich selbst darum?
In offenen Organisationen gibt es meist keine zentrale Geldquelle. Jede Untereinheit versorgt sich selbst. -
Dürfen die Untereinheiten direkt miteinander kommunizieren?
In zentralisierten Organisationen läuft alles über die Zentrale. In offenen Systemen kann jeder mit jedem sprechen.
Kommentar:
Alle diese Kennzeichen passen perfekt zur frühen Christenheit: kein Hauptquartier, niemand, bei dem man irgendwelche Genehmigungen einzuholen hat – aber auch niemand, von dem man Geld erwarten kann. Jeder darf alles – trägt aber auch die Verantwortung dafür. Geistliche Vollmacht entscheidet, nicht die Amtsbezeichnung.
Die heutige Organisationsform der Kirche mit ihrer Mischung aus zentraler Organisation und dezentralen Gemeinden ist der Versuch, beide Prinzipien zu verbinden. Darin war die Kirche 17 Jahrhunderte lang gar nicht so schlecht. Sie hat sehr erfolgreich überlebt. Trotzdem – ihre dynamischsten und attraktivsten Seiten hat sie dabei verloren. Dauernd bricht der Widerspruch auf zwischen den gefährlichen Erinnerungen an die Frühzeit der Kirche und der heutigen Wirklichkeit, die nur mit viel gutem Willen an diese Frühzeit erinnert.
Nimmt man die Einsichten von Brafman/Beckstrom ernst, dann sind wir heute an einem Punkt, wo jederzeit die ursprüngliche Seestern-Dynamik wieder aufbrechen kann. Die gewaltsame staatliche Durchsetzung des kirchlichen Monopols hat das in den Jahrhunderten seit Konstantin verhindert. Aber in Zeiten von Religionsfreiheit, Internet und Selbsthilfegruppen kann sich schnell vieles ändern. „Eine offene Organisation schleicht sich unbemerkt an“ (5. Prinzip).
Der römisch-katholischen Kirche in Lateinamerika ist das schon so ergangen: sie hat die (katholische) Bewegung der Basisgemeinden recht erfolgreich bekämpft, aber stattdessen verliert sie nun jede Menge Mitglieder an die viel dezentraler organisierten Charismatiker.
Es muss nur ein Bill Wilson kommen und die richtige Idee im richtigen Moment haben, dann kann keiner eine Seesternbewegung aufhalten. Wirklich keiner? Dazu werden Brafman/Beckstrom in Kapitel 6 noch mehr sagen …
Hallo und vielen Dank,
habe den Thread gerade gelesen und denke: endlich wird die Intelligenz, die unseren sozialen System innewohnt, gebündelt. So kann der Heilige Geist bewusst werden und Jesus kommt wieder!
Alena, eine von sechs Milliarden „Begeisterten“
Hallo Alena,
willkommen bei Tiefebene. Ich hoffe, einige von den anderen 5.999.999.999 Begeisterten schreiben auch noch was!
Walter
Ich finde die Parallele, die zu zu den Katholiken in Lateinamerika ziehst, interessant. Meines Wissens sind die Pfingstgemeinden, die auf Kosten der Katholiken gewonnen haben, nach innen hin (wie schon C.P. Wagner schreibt) sehr autoritär und hierarchisch (an die Macho-Kultur optimal angepasst, und gar nicht basisdemokratisch), auch wenn die Kirchenverbände dann kongregationalistisch organisiert sind. Wir bringt man das zusammen?
Ich würde ja nicht sagen, dass die Pfingstler sämtliche Merkmale einer Seestern-Organisation haben. Aber auch wenn die einzelne Gemeinde in sich hierarchisch ist, dann haben sie doch keinen Papst, der sie davon zurückhalten kann, auf die Situation und Kultur vor Ort einzugehen. Und wenn ein Gemeindeverband das versuchte, dann ist es wohl immer noch leichter, sich von einem Gemeindeverband zu trennen als von der katholischen Kirche (und eine autoritär geleitete Gemeinde kann das schneller als eine demokratische).
Ich denke, es ist eine interessante Frage, ob die einzelnen Einheiten einer Seestern-Organisation auch demokratisch bzw. dezentralisiert sein müssen. Brafman/Beckstrom lassen das außen vor.
Meine Vermutung: das Seestern-Prinzip wirkt auch schon dann, wenn die einzelnen Einheiten nicht besonders demokratisch sind (die frühe Kirche hat sich ja in der Spur der Pastoralbriefe auch auf eine eher zentrale Gemeindeverfassung hin bewegt, auch zur Abwehr der Gnosis; bei den Apachen durften wahrscheinlich die Frauen auch nicht mitreden; und General Motors war in den 1940ern erfolgreich, weil es seine Geschäftsbereiche dezentralisiert hat, aber sicher nicht die Fließbänder). Auch eine zentrale/autoritäte Gemeindeleitung ist noch nahe dran an der Wirklichkeit vor Ort und hat auch ein elementares Interesse am Wohlergehen der Gemeinde.
Wahrscheinlich wird aber eine autoritäre Gemeindeverfassung die Gemeinde hindern, ihr volles Potential zu erreichen. Jesus wird da eben weniger zu erkennen sein. Die Leute werden sich stärker an eine Konsumentenhaltung gewöhnen. Und es könnte natürlich sein, dass das langfristig auch die Zentralisation in der gesamten Organisation vorbereitet.