Die Wüste soll blühen!
Predigt am 8. Dezember 2024 (2. Advent) zu Jesaja 35,1-10
1 Die Wüste und das dürre Land werden fröhlich sein. Die Steppe wird jubeln und blühen wie eine Lilie. 2 Sie steht in voller Blüte und jubelt, sie jubelt und jauchzt vor Freude. Sie wird so herrlich sein wie der Libanon, so prächtig wie der Karmel und die Scharon-Ebene. Alle werden die Herrlichkeit des Herrn sehen, die Pracht unseres Gottes erblicken.
3 Macht die müden Hände wieder stark und die weichen Knie wieder fest. 4 Sagt denen, die den Mut verloren haben: »Seid stark und habt keine Angst! Seht, das ist euer Gott! Er übt Vergeltung und schafft Recht. Er selbst kommt, um euch zu befreien.« 5 Dann gehen den Blinden die Augen auf, und die Ohren der Tauben werden geöffnet. 6 Der Gelähmte springt wie ein Hirsch, der Stumme jubelt aus vollem Hals. In der Wüste brechen Quellen auf, und Bäche bewässern die Steppe. 7 Der glühende Sand wird zu einem Teich, in der Dürre sprudeln frische Wasserquellen. Wo einst die Schakale hausten, wachsen Gras, Schilf und Papyrus.
8 Eine Straße wird dort verlaufen, die wird man den »heiligen Weg« nennen. Kein Unreiner wird sie betreten. Sie gehört denen, die auf dem rechten Weg sind. Selbst Unwissende gehen nicht in die Irre. 9 Auf dieser Straße gibt es keinen Löwen, kein Raubtier ist auf ihr zu finden. Nur die erlösten Menschen sind dort unterwegs. 10 Alle, die der Herr befreit hat, kehren jubelnd zum Berg Zion zurück. Grenzenlose Freude steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Jubel und Freude stellen sich ein, Sorgen und Seufzen sind für immer verschwunden.
Das ist ein Prophetenwort, das ungefähr 500 Jahre vor Christus entstanden ist. Und es soll unser Vorstellungsvermögen trainieren: wir sollen lernen, Dinge zu sehen, die es noch gar nicht gibt.
Können Landschaften singen?
Das Wort stammt wahrscheinlich aus der Zeit, als Israel, das Volk Gottes, nach Babylon verschleppt war. Zwischen Babylon und Israel liegen viele hundert Kilometer Wüste: heißer Sand, trockene Felsen, nirgendwo ein Baum. Aber der Prophet sagt: schaut hin und seht in dieser Wüste etwas, was nach menschlichem Ermessen unmöglich ist. Seht die Berufung dieser scheinbar unfruchtbaren Räume: die sollen zu einem fruchtbaren Garten werden, sie sollen die Herrlichkeit eines prächtigen Waldes und die Fülle einer fruchtbaren Ebene ausstrahlen. Sie sollen jubeln vor Freude, sie sollen singen von der Herrlichkeit Gottes.
Können Landschaften singen und jauchzen? Natürlich nicht so wie Menschen, und selbst für uns Menschen ist das ja auch nicht so einfach. Man kann nicht auf Befehl jublen, außer in Nordkorea. Aber auf ihre Weise können auch Landschaften etwas ausstrahlen und eine Botschaft haben.
Ich fahre gelegentlich mal mit dem Zug durch die Rheinebene, da unten im Süden, in Baden-Württemberg. Und wenn es gerade im Spätsommer vor der Ernte ist, dann stehen da überall die Obstbäume, über und über behangen mit Äpfeln, Birnen, Pfirsichen und Pflaumen und allem möglichen anderen Obst. Und das strahlt so eine Fülle und Fruchtbarkeit aus – da habe ich verstanden, dass auch eine Landschaft eine Botschaft aussenden kann. Sie singt von der Fülle und Freude, die Gott in seine Schöpfung hineingelegt hat. Er hat die Welt nicht stumm geschaffen, sondern sie hat eine Botschaft, sie spiegelt etwas von Gottes Herrlichkeit. Bloß wir sind so unsensibel, dass wir das nicht verstehen. Und ich bin überzeugt, dass die Rheinebene wahrscheinlich noch viel mehr zu sagen hat als das, was bei einem ganz unpoetischen Menschen wie mir angekommen ist.
Wie macht Gott das?
Aber wie soll das geschehen, dass eine vertrocknete kahle Wüste zu einem blühenden Garten wird? Muss man da warten, dass Gott eines Tages mit einem Zauberstab vorbeikommt, und – schwuppdiwupp! – ist alles grün? Im Advent warten wir darauf, dass Gott kommt, ja, aber heißt das, dass er das einfach so hinzaubert?
Das Interessante bei diesem Prophetenwort ist ja, dass da nicht einfach nur von Landschaften und Natur gesprochen wird, sondern gleich anschließend geht es um Menschen, die anscheinend mutlos und ohne Kraft sind. Menschen und Land gehören zusammen, und es geht ihnen gemeinsam gut oder schlecht. Die trockene Wüste zwischen Babylon und Israel spiegelt ja etwas von der Situation der verschleppten Menschen: unfruchtbar, ohne Perspektive und aller Freude und Herrlichkeit beraubt leben sie in einem Land, das ihnen nicht gehört. Menschen und Erde gehören zusammen, auch in ihrer Niedergedrücktheit. Und sie werden nur gemeinsam geheilt. Deswegen vermischt sich das hier in diesem Prophetenwort: die Beschreibung einer Wüste, die zur blühenden Landschaft wird, und die Hoffnung auf Menschen, die wieder Mut fassen, die befreit werden aus Unterdrückung und einem perspektivlosen Leben in einem Land, in dem sie nicht zu Hause sind. Wie die Wüste zum fruchtbaren, bewässerten Land wird, so sollen dann die Blinden wieder sehen können und die Gelähmten sollen tanzen.
Das waren damals kühne Bilder, und keiner konnte schon sagen, wie das geschehen würde. Aber als Jesus kam, da rückte die Realität ein Stück näher an diese Bilder heran. Von ihm wird erzählt, wie er in der Einöde einen großen Haufen von Menschen satt machte, nur mit einem Korb voll Brot und ein paar Fischen. Ein unfruchtbarer Ort wird durch Jesus zu einem Ort der Fülle. Es ist genug für alle da. Gott kommt in Jesus in seine Welt und bringt seine Schöpfung wieder ein Stück näher an ihre Bestimmung heran.
Gott kommt
Das ist das Thema des Advents: Gott kommt. Gott mischt sich ein. Menschen haben die Bausteine der Schöpfung durcheinander geworfen und Chaos angerichtet, Gott kommt und weckt in allem Geschaffenen die Herrlichkeit und Fülle auf, die er schon bei der Schöpfung da hineingelegt hat – aber es muss hervorgerufen und aufgeweckt werden.
Bei Jesus sieht man nun schon genauer, wie das gehen soll: er tut das nicht ohne Menschen, er zaubert nicht irgendwie hinter unserem Rücken, und auf einmal ist es da. So könnte man die Propheten des Alten Testaments manchmal noch verstehen. Bei Jesus sieht man aber, dass er Menschen mit einbezieht: seine Jünger, die auch heilen und Brot austeilen; und immer wieder Menschen, die sich in kleinen Gemeinschaften organisieren, wo Solidarität herrscht und jeder seinen Platz hat. Gott kommt in Jesus und vollbringt sein Werk durch Menschen hindurch, die im Namen Jesu in Gemeinschaften des neuen Lebens organisiert sind. Überall soll es solche Gemeinschaften geben, Gemeinden, die sich der Verwüstung von Erde und Menschen entgegenstellen.
Dafür braucht es aber diese Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, was es noch nie gegeben hat. Eine Möglichkeit zu sehen, die noch schlummert, verborgen in der Tiefe der Schöpfung. Oder besser: eine Möglichkeit zu sehen, die im Himmel noch darauf wartet, dass sie auf der Erde sichtbar wird. Der Himmel ist ja die verborgene Seite der Schöpfung, wo Gottes Möglichkeiten darauf warten, auf der Erde zur handgreiflichen Wirklichkeit zu werden.
Das Unsichtbare sehen lernen
Deshalb trainieren die Propheten unser Vorstellungsvermögen. Sie weiten unseren Horizont, damit wir nicht immer nur in unserem kleinen alltäglichen Erfahrungsbereich denken: meine täglichen Aufgaben, meine Familie, der Smalltalk mit den Nachbarn und Kolleginnen, die Gesundheit, die Sonderangebote der Woche, und was eben unser Denken den Tag über so beschäftigt. Wir sollen lernen, darüber hinaus zu sehen in die große Welt von Gottes Möglichkeiten.
Gott arbeitet daran, dass seine Fülle in unseren Herzen und Gedanken ankommt. Die ganze Schöpfung wartet auf solche Menschen, auf die Gemeinschaften des neuen Lebens. Wo es sie schon gibt, da geht es auch der Erde besser. Da werden Hänge terrassiert, Erosion gestoppt, die Vergiftung der Böden beendet und die natürliche Fruchtbarkeit angeregt. Da werden alte Techniken neu entdeckt und neue technologische Möglichkeiten entwickelt.
Ich habe neulich von einem Mann gelesen, der als christlicher Entwicklungshelfer nach Afrika gegangen ist und dort entdeckt hat, dass auch in vertrockneten Landstrichen, wo kaum noch etwas wächst, im Untergrund immer noch die Keime von Bäumen und Wald vorhanden sind. Man muss ihnen nur etwas helfen, und dann wächst da wieder Wald, der den Boden vor Austrocknung schützt. Auf diese Weise sind schon ganze Landschaften wieder zu fruchtbarem Land geworden.
Dafür braucht es aber Menschen, die das Verborgene sehen können, die unsichtbaren Möglichkeiten, die Gott in seine Schöpfung hineingelegt hat. Es muss Gemeinschaften geben, die sich einig darin sind, dass sie mit dem Unsichtbaren rechnen wollen. Einzelne geben da oft den Anstoß, aber dann müssen Gemeinschaften das übernehmen, Gemeinschaften des neuen Lebens. Menschen können in der Regel nur gemeinsam neu denken und handeln. Wir sind fundamental soziale Wesen, auch in der Art, wie wir denken und die Welt sehen.
Gott dehnt unseren Horizont
Deshalb ist immer die Frage: was ist es, was Gemeinschaften verbindet? Was ist ihre Basis? Welche Geschichte erzählen sie sich? Was treibt sie an? Denken sie nur im Rahmen des gewohnten alltäglichen Einerleis, oder sind da diese prophetischen Bilder lebendig, Bilder von den unbegrenzten Möglichkeiten Gottes?
Gott hat über viele Jahrhunderte in seinem Volk solche prophetischen Bilder ausgestreut. Er wollte ihre Fantasie wecken, dass sie sich fragen: wie kann es dazu kommen, dass die Erde und die Menschen aufatmen und jubeln können? Er hat die Menschen vorbereitet auf Jesus.
Gottes lange Geschichte der Hoffnung
Wenn man sich das im Rückblick anschaut, dann ist es erstaunlich, wie es da ganz viele Linien gibt, die schließlich in Jesus zusammenlaufen. Und es gibt keinen Menschen und keine Menschengruppe, die das Jahrhunderte hindurch so geplant haben könnte. Sondern wir müssen ernsthaft damit rechnen, dass es wirklich so ist, dass Gott zielgerichtet in die Weltgeschichte hineingewirkt hat, um etwas Neues zu schaffen und die Menschen gleichzeitig Stück für Stück darauf vorzubereiten.
Wir dürfen nicht Gott aus der Rechnung streichen, wenn wir die Weltgeschichte anschauen, weil wir damit auch die Hoffnung streichen würden. Ich meine nicht die Hoffnung auf einen starken Mann, der Ordnung in den Laden bringt. Das ist ein gefährlicher Traum, der richtet immer nur Chaos und Zerstörung an. Aber die Hoffnung, dass durch normale Menschen, die von Jesus inspiriert sind, völlig ungewöhnlich Dinge passieren können. Und dass wir, jeder in seinem Leben, daran Anteil haben können.
Es gibt eine lange Geschichte der Hoffnung in unserer Welt. Gott schreibt sie schon seit Tausenden von Jahren. Diese Geschichte hat sich dann in Jesus konzentriert und trägt seither seinen Namen. Sie ist für jeden Menschen zugänglich und Gott wartet darauf, dass du auch deinen Platz in dieser Geschichte findest. Es kommt nicht darauf an, ob du Kleines oder Großes tust, das weiß man vorher nie, aber es ist wichtig, dass du dabei bist und auch durch dich diese Hoffnung gelebt wird, gemeinsam mit vielen anderen.