Jesus schreibt die Spielregeln neu
Predigt am 02. April 2023 zu Johannes 12,12-19
12 Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem käme, 13 nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und riefen: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel! 14 Jesus aber fand einen jungen Esel und ritt darauf, wie geschrieben steht (Sacharja 9,9): 15 »Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.« 16 Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so mit ihm getan hatte. 17 Das Volk aber, das bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, rühmte die Tat. 18 Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. 19 Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.
Dies ist ein politischer Text, und trotzdem ist er irgendwie anders. Die Leute begrüßen Jesus wie einen König, und Jesus provoziert das sogar, er inszeniert durch das Reiten einen Auftritt, bei dem er deutlich in die Rolle eines Königs kommt, der mitten in einer jubelnden Menschenmenge in die Stadt einzieht. Jesus thematisiert mit dieser Symbolhandlung also die politische Sphäre, aber doch irgendwie anders, schon deshalb, weil ein Esel gar nicht zu einem König passt. König Charles kommt ja auch nicht auf dem Fahrrad. Man weiß deshalb nicht so recht, ob Jesus nun ein König sein will oder nicht. Sechs Kapitel vorher, nachdem er Tausende Menschen mit fünf Broten und zwei Fischen gesättigt hatte, wollten die Menschen ihn ja schon mal zum König machen, und da hat sich Jesus rechtzeitig aus dem Staub gemacht, weil er das nicht wollte. Geht er jetzt auf diesen Wunsch ein, oder doch nicht so richtig?
Diese Frage wird bei uns heute meistens unter der Überschrift diskutiert: »wie politisch soll/darf/muss die Kirche in der Nachfolge Jesu sein?« Aber diese Frage ist falsch gestellt. Wir wollen Jesus in unsere Begriffsschubladen packen, so wie die Leute damals, aber Jesus passt da nicht rein, es klemmt irgendwie, die Schublade geht nicht zu.
Zwei Arten von Politik
Das Problem dahinter ist, dass Jesus nicht einfach im Machtspiel der Politik mitspielt, sondern er verändert die Spielregeln. Wir kennen Politik entweder so, dass da große und kleine Mächte auf mehr oder weniger geschickte Weise miteinander in den Clinch gehen, sich verbünden oder sich bekämpfen, manchmal sogar Kriege gegeneinander führen. Da werden Menschen geopfert für die Ziele der Machthaber. Der Erste Weltkrieg war so ein Krieg.
Dann gibt es aber noch die andere Variante der Politik: Revolutionen, wo also Menschengruppen, die bisher von der Macht ausgeschlossen waren, den Anspruch erheben: wir wollen auch dabei sein! Wir wollen einen größeren Anteil an der Macht! Diese zweite Art der Politik kennen wir in Deutschland nicht so sehr, aber in Ländern wie Frankreich kommt es schon mal vor, dass die Leute auf die Barrikaden gehen, dass der Generalstreik ausgerufen wird und Autobahnen blockiert werden oder ein Fuder Mist vor das Landwirtschaftsministerium gekippt wird. Und zu dieser zweiten Art von Politik gehören auch Kriege gegen fremde Unterdrücker. Der Zweite Weltkrieg war so ein Krieg gegen die deutschen Aggressoren, oder jetzt der Krieg in der Ukraine gegen den russischen Überfall. Dieser zweiten Art kann man jedenfalls seine Sympathie nicht versagen.
Und auch Israel gehörte in Jesu Zeit zu den Ländern, in denen so eine revolutionäre Tradition lebendig war. Die Juden haben immer wieder Befreiungskriege gegen fremde Unterdrücker geführt – manchmal haben sie auch gewonnen, aber nie gegen die Römer, weil die militärisch einfach zu stark waren.
Wo gehört Jesus hin?
Jesus passt auf jeden Fall nicht in das Schema der Großmacht-Politik – ich glaube, das war damals wie heute allen klar. Aber er passt auch nicht richtig in das Schema der revolutionären Politik. Irgendwie steht er diesem revolutionären Schema aber näher. In Israel damals stand diese revolutionäre Politik auch wirklich zur Debatte, und deshalb hatte Jesus vor allem das Problem, dass er öfters im Sinne der revolutionären Politik missverstanden werden konnte. Und zwar von seinen Freunden ebenso wie von seinen Feinden.
Diese Szene am Stadttor von Jerusalem zeigt, dass Jesus zwar einige Symbole der herkömmlichen und auch der revolutionären Politik aufnimmt, aber er verfremdet sie gleichzeitig. Damit versucht er auszudrücken, dass er die ganzen Rahmenbedingungen des politischen Handelns verändert. Der König auf dem Esel passt auf keinen Fall zur konventionellen Machtpolitik der Könige und Großmächte, aber auch nicht richtig zur revolutionären Spielart der Politik. Stattdessen erinnert er an eine Prophezeiung des Propheten Sacharja, der schon Jahrhunderte vorher von einem Friedenskönig geredet hat, der anders ist: er ist arm, deshalb reitet er ja auf einem Esel und nicht auf einem Pferd, es gibt Abrüstung, denn er kommt ohne Pferde und Streitwagen aus, die ja damals ungefähr das waren, was heute Panzer sind. Und er sorgt für weltweiten Frieden. Das ist die messianische Hoffnung.
Und die Menschen, die Jesus mit Palmzweigen begrüßen und in Königsrufe ausbrechen, die scheinen tatsächlich instinktiv etwas begriffen zu haben, dass hier die erhoffte Alternative kommt, der Messias, der Frieden bringt. Aber sie können das nur mit diesem traditionellen Königsbegrüßungs-Ritual ausdrücken: Jubel und Konfetti, also damals Palmzweige.
Vieles geht durcheinander
Das ist die Weisheit der Massen: die Leute spüren etwas ganz Richtiges, aber sie haben nicht unbedingt die Begriffe und Ausdrucksformen dafür. Die Leute stellen einfach den Zusammenhang her zwischen der Auferweckung des Lazarus von den Toten durch Jesus einige Tage vorher und dieser Königsbegrüßung. Wer Tote auferwecken kann, der soll König sein!
So könnte man ja politische Ämter vergeben: Finanzminister wird man erst, wenn man schon mal 5000 Menschen mit fünf Broten satt bekommen hat, Verteidigungsminister wird man nur, wenn man schon mal eine feindliche Armee mit Blindheit geschlagen hat, wie es einst der Prophet Elisa machte, und Bundeskanzler wird, wer mindestens einen richtig Toten schon wieder ins Leben zurückgeholt hat. Aber bitte ohne Sauerstoff und ohne Defibrillator!
Aber ihr seht: das funktioniert nicht. Da habe ich jetzt die konventionelle Politik und diese neue Art von Jesu vermischt. Das kann nur Murks geben. Die konventionelle und die revolutionäre Politik funktionieren beide unter der Voraussetzung, dass niemand Tote auferwecken kann. Wenn es aber einen gibt, der das kann, dann ändern sich die Spielregeln.
Die jesuanische Alternative
Die Spielregeln der Politik ändern sich, sobald Menschen Zugang zur Lebenskraft Gottes haben. Diese spektakulären Zeichen wie die Auferweckung von Toten waren ja Hinweise, dass bei Jesus die Lebenskräfte Gottes auf eine bisher ungeahnte Weise zu finden waren. Wenn die Lebensquellen Gottes nur als ein dünnes Rinnsal bei den Menschen ankommen, dann spielen Machtmittel wie Panzer und Geld und Einfluss eine große Rolle. Aber wenn durch Jesus die Schleusen aufgehen und das volle, ganze, ewige, göttliche Leben uns hier auf der Erde wieder erreichen kann, dann kommen die normalen Machtmittel nicht dagegen an.
Das haben erst die Jerusalemer Autoritäten zu spüren bekommen, als sie Jesus durch die Kreuzigung doch nicht aus der Welt geschafft haben und seine Bewegung nicht ersticken konnten. Und zwei Jahrhunderte später bekamen die römischen Kaiser damit ein Problem, weil sie mit all ihren Legionen nicht Menschen besiegen konnten, die in der Kraft der Auferstehung Jesu lebten und sich in den Nischen und Ritzen des Reiches ausbreiteten.
Was ist das für eine neue Art von Macht, die ganz real wirkt? Politische Macht kommt aus den Gewehrläufen, so hat es Mao formuliert. Sie ist, wenn man es ganz hart sagen will, die Macht, mit dem Tod zu drohen und nötigenfalls zu töten. Jesus hat dagegen die Macht, Leben zu schenken. Er hat die Macht, Menschen neu zu machen. Er hat die Macht, zu heilen, was durch Gewalt und Unrecht und Unglück zerstört worden ist. Es gibt nun eine Alternative, die es bisher nicht gab. Und Jesus lädt dazu ein, aus seiner Alternative zu leben.
Wahrscheinlich muss man dann manchmal immer noch Kriege führen, zumal ja auch ganze Völkern nicht komplett aus dem Geist Jesu heraus handeln. Manchmal muss man noch gegen Hitler und Putin und andere Aggressoren kämpfen. So wie die Polizei auch manchmal gegen Betrüger und Gewalttäter einschreiten muss.
Zonen des göttlichen Lebens
Die eigentliche Antwort an all diese Zerstörer im Großen wie im Kleinen ist aber die Lebenskraft Gottes, die in Jesus endgültig in die Geschichte eingetreten ist. Und Christen haben die Politik immer dann am meisten beeinflusst, wenn sie bei ihrer eigenen Sache waren und Zonen göttlichen Lebens aufgebaut haben: Gemeinschaften normaler Menschen, in denen die Kräfte des Himmels flossen und von da aus die Welt beeinflussten. Der Friedenskönig Jesus auf dem Esel wird ja von ganz normalen, durchschnittlichen Menschen begrüßt. Bei denen passiert von nun an das wirklich Entscheidende: bei den normalen Menschen, die sonst nur am Fernsehschirm dabei sind, wenn die Mächtigen miteinander verhandeln. Auf die richtet sich jetzt der Lichtkegel. Die können seit Jesus die wichtigsten Akteure sein, wenn sie sich für die Lebenskraft des Evangeliums öffnen.
Diese normalen Menschen ändern die Rahmenbedingungen der Politik, wenn sie füreinander sorgen und sich die Angst vor dem Mangel nehmen, wenn sie zusammenhalten und sich die Angst vor der Krankheit und dem Unglück nehmen, wenn sie miteinander arbeiten und für sich und andere Reichtum hervorbringen, wenn sie miteinander beten und Gottes Schönheit wahrnehmen, wenn sie nach göttlich inspirierten Regeln miteinander im Frieden leben und das alles auch zu den anderen ausstrahlen. Wenn es Gemeinschaften göttlichen, ewigen Lebens gibt, am besten gleich nebenan.
Ob das bei dir und bei mir und an vielen anderen Orten ebenso passiert, das ist die wirklich wichtige Frage, viel entscheidender als die Gipfelkonferenzen der Großen. Jesus nimmt das Schicksal der Welt aus den Händen der Mächtigen und legt es in die Hände von durchschnittlichen Menschen. Werden wir diese Verantwortung annehmen und verstehen, dass das ganze Schicksal der Welt sich daran entscheidet, ob wir lernen, noch viel bessere Empfänger des ewigen Lebens zu sein als bisher? Werden wir alles daransetzen, unter der Regierung dieses eselsreitenden Friedenskönigs zu sein? Werden wir mit ganzer Kraft auf diese neue Möglichkeit setzen?
Jenseits unserer Schubladen
Ich möchte zum Schluss noch mal mit einer Geschichte auf den Punkt bringen, wie sehr Jesus jenseits unserer „normalen“ Schubladen arbeitet. Drei Männer waren gestorben und trafen sich in dem Zug, der sie aus ihrer bisherigen Welt wegbrachte. Und sie unterhielten sich darüber, was sie sich erhoffen, was jetzt bei ihrer Beerdigung gesagt wird. Zwei waren noch ganz im konventionellen Denken drin. Der eine meinte: »Ich wünsche mir, dass jemand sagt, wie wichtig meine Arbeit für meine Firma gewesen ist, und wie sehr ich ihnen jetzt fehle«. Der zweite sagte: »Ich wünsche mir, dass jemand daran erinnert, wie gut ich mich um meine Familie gekümmert und für sie gesorgt habe.« Nur der Dritte hatte eine Ahnung von den Möglichkeiten Gottes. Vielleicht hat er ja auch an den toten Lazarus gedacht. Er meinte: »Ich würde jetzt am allerliebsten von meiner Familie und von meinen Freunden die Worte hören: ‚Oh – er bewegt sich wieder!’«
Verstehen Sie? Wir haben eine unverschämt große Hoffnung, die unseren Horizont aufreißt und alle Erwartungen übertrifft. Eine Hoffnung, die über alles hinaus geht, was wir nach unserer Erfahrung erwarten können. Wie das geschehen soll, das bleibt zu großen Teilen Gottes Geheimnis. Nur gelegentlich haben wir eine Ahnung davon, wie er sich das vorstellt.
Aber wir sollen nach den Orten suchen, wo Gott diese Hoffnungen erfüllt. Und das sind gar nicht die tollen Plätze, wo alle gern hin möchten. Jesus musste dafür ans Kreuz gehen – an den dunkelsten Ort der Welt. Da machte Gott die größte Hoffnung von allen wahr: die Auferstehung von den Toten. Wenn wir auf unsere viel bescheidenere Weise ihm nachfolgen, dann werden wir auch an solche Orte der Hoffnung kommen. Orte, wo der Tod in jeder Gestalt, im Großen wie im Kleinen, in seine Schranken gewiesen wird.
Um Menschen dafür die Augen zu öffnen, dazu hat Jesus damals diese merkwürdige Szene am Stadttor von Jerusalem inszeniert. Wenn wir merken, dass unsere normalen Schubladen nicht mehr passen, dann hat das große Leben Gottes bei uns einen Fuß in der Tür. Wenn das Raster zerbricht, in das wir die Welt einsortiert haben, dann hat der Friedenskönig Jesus eine Chance, uns zu gewinnen. Dann sind wir nicht mehr Teil des Problems, sondern werden ein Teil der Lösung.