Was ein Priester wirklich tun müsste
Predigt am 26. März 2023 zu Hebräer 5,1-10
1 Ein Hoherpriester ist jemand, der aus dem Kreis seiner Mitmenschen herausgerufen und für seine Mitmenschen eingesetzt wird mit dem Auftrag, vor Gott für sie einzutreten und für ihre Sünden Gaben und Opfer darzubringen. 2 Er kann die verstehen, die aus Unwissenheit oder durch ein Versehen vom richtigen Weg abkommen, denn er kennt die menschliche Schwachheit aus eigener Erfahrung. 3 Allerdings muss er deshalb auch für seine eigenen Sünden Opfer darbringen und nicht nur für die des Volkes.
4 Im Übrigen kann sich niemand eigenmächtig zum Hohenpriester machen; man muss von Gott zu dieser ehrenvollen Aufgabe berufen sein, wie es schon bei Aaron der Fall war. 5 Genauso war es auch bei Christus. Er hat es sich nicht selbst angemaßt, Hoherpriester zu werden; vielmehr wurde ihm diese Würde von dem verliehen, der zu ihm gesagt hat: »Du bist mein Sohn; heute habe ich dich gezeugt.« 6 An einer anderen Stelle sagt Gott nämlich: »Du sollst für alle Zeiten Priester sein – ein Priester von derselben priesterlichen Ordnung wie Melchisedek.«
7 Als Christus hier auf der Erde war – ein Mensch von Fleisch und Blut –, hat er mit lautem Schreien und unter Tränen gebetet und zu dem gefleht, der ihn aus der Gewalt des Todes befreien konnte, und weil er sich seinem Willen in Ehrfurcht unterstellte, wurde sein Gebet erhört. 8 Allerdings blieb es selbst ihm, dem Sohn Gottes, nicht erspart, durch Leiden zu lernen, was es bedeutet, gehorsam zu sein.
9 Doch jetzt, wo er durch sein Leiden vollkommen gemacht ist, kann er die retten, die ihm gehorsam sind; ihm verdanken sie alle ihr ewiges Heil. 10 Gott selbst hat ihn zum Hohenpriester ernannt, zu einem Hohenpriester von derselben priesterlichen Ordnung wie Melchisedek.
Der Hebräerbrief kommt aus einer Welt, die uns heute nicht so leicht zugänglich ist. Aber wenn wir die Mühe auf uns nehmen, uns erst einmal auf so eine ungewöhnliche Denkart einzulassen, dann kommt er uns nahe und kann uns wichtige Dinge sagen.
Also zuerst ein kurzer Anmarsch, damit wir verstehen, worum es geht: Jesus wird hier als Hoher Priester, man könnte auch sagen: Oberpriester, beschrieben. Damals hatten sie bei diesem Wort den Tempel in Jerusalem vor Augen, den Ort, wo Gott und die Menschen Kontakt miteinander aufnehmen konnten.
Das ist nämlich gar nicht so einfach. Gott und die Menschen sind nicht so vertraut miteinander, dass man schnell mal anrufen könnte und fragen: Hallo, wie geht es dir? Gott ist in höchstem Maß anders drauf als wir. Früher, im Paradies, war das noch einfacher. Da kam Gott einfach mal auf Besuch vorbei. Aber inzwischen sind wir so aus der Rolle gefallen, dass wir das gar nicht mehr verkraften würden.
Die Entfremdung zwischen Gott und den Menschen
Das ist die erste Voraussetzung, die wir verstehen müssen: Wir sollten mal Gott in der Schöpfung vertreten, wir sollten so freundlich und großzügig und klar sein wie er. Und stattdessen haben wir angefangen, uns gegenseitig schlecht zu behandeln und unsere Welt kaputtzumachen. Das ist ein bisschen so, als ob Eltern zum ersten Mal allein in Urlaub fahren, und die Kinder nutzen die Gelegenheit, machen Party mit einem Haufen Leute, die sie kaum kennen, und am Ende ist der Teppich voll Brandflecken, ein Bett ist zusammengebrochen, das Badezimmer vollgekotzt und die Tapeten beschmiert. Man kann sich vorstellen, dass dann die Begegnung zwischen Kindern und Eltern, wenn sie aus dem Urlaub zurückkommen, keine einfache Sache ist.
Das klingt jetzt lustig und soll es natürlich auch, aber wer so etwas mal erlebt hat, der weiß, dass einem da das Lachen vergehen kann. Und auch für die ganze Welt ist es nicht lustig, dass wir für sie zur Plage geworden sind: erst für unsere Mitmenschen, und jetzt merken wir, dass wir auch den anderen Geschöpfen Unglück bringen. Das kann einen ja wirklich zur Verzweiflung bringen: Wir vergiften die Welt, wir kriegen noch nicht mal alle Menschen satt, obwohl genug da ist, wir plündern den Planeten mitsamt seinen Tieren und Pflanzen, bis sie aussterben, und am Ende schaffen wir uns womöglich selbst ab.
Ein schwieriges Verhältnis
Deswegen ist die Begegnung zwischen Gott und uns keine einfache Sache. Unser Verhältnis ist sehr schwer belastet. Deshalb durfte auch im Tempel von Jerusalem der Hohepriester nur einmal im Jahr ins Allerheiligste gehen, und auch das erst nach komplizierter und intensiver Vorbereitung.
Ein Priester soll ja die Lücke überbrücken zwischen dem guten Gott und den Menschen, die ihrer Berufung untreu geworden sind. Aber eigentlich kann das gar nicht funktionieren, weil der Priester ja auch nur ein normaler Mensch ist und wie alle anderen Anteil hat an den zerstörerischen Irrwegen der Menschheit.
Immerhin kann der Tempel mit seinen Priestern und Opfern auf das Problem hinweisen, auch wenn er es nicht lösen konnte. Es ist besser, wenn man weiß: da ist ein Problem, als wenn man sich einredet, es wäre alles in schönster Ordnung.
Wenn man das so versteht, dann ist der damalige Tempel gar nicht mehr so ein unsinniger Hokuspokus. Dann zeigt er ein Problem auf, mit dem unsere Kultur heute viel schlechter umgeht: Was machen wir mit dem Widerspruch zwischen unserer zerstörerischen Art, die Welt zu behandeln und dem, was eigentlich unsere Aufgabe ist: nämlich gute Hüter dieser Erde zu sein?
Jesus macht, was Priester tun müssten
Unser Abschnitt aus dem Hebräerbrief denkt in diesem Rahmen von Tempel und Priester und sagt: erst Jesus kann die Aufgabe wirklich lösen, auf die der Tempel und sein Hohepriester nur hinweisen konnten. Jesus ist einerseits ein Mensch, aber er hat sich von unserer zerstörerischen Art des Menschseins freigehalten. Er ist andererseits Sohn Gottes, aber nicht mehr fern und erschreckend anders, sondern nah und erreichbar.
Jesus hat also eine Vermittlerposition, er gehört auf beide Seiten, sowohl zu Gott wie auch auf die Seite der Menschen. Die frühen Christen haben dafür die Formel gefunden, dass Jesus wahrer Mensch und wahrer Gott zugleich ist.
Wir heute würden das wahrscheinlich anders ausdrücken. Wir würden vielleicht sagen, dass Jesus uns gezeigt hat, wie man als Menschen auch heute tatsächlich ein gutes und gerechtes Leben führen kann, ein Leben, das unserem Auftrag gerecht wird. Um es mit einem alten Wort zu sagen: ein gottgefälliges Leben. Aber das mitten in einer Welt, die kein Gefallen mehr an ihrem Schöpfer hat und sich gegen ihn verschließt. An Jesus sieht man nun: Wir sind als Menschen nicht dazu verdammt, immer neue Zerstörungen anzurichten. Wir sind auch nicht hoffnungslos zum Kapitalismus verdammt. Jesus hat uns eine Alternative gezeigt, und wenn wir ihm nachleben, dann sind wir nicht mehr hoffnungslos an unsere zerstörerische Lebensart gekettet, die die Menschheit zu einer Plage für die ganze Schöpfung macht.
Ein Sohn, der schmerzhaft lernen muss
Aber unser Abschnitt sagt auch: Das war nicht einfach zu haben. Jesus hat für seine Rolle als Vermittler einen hohen Preis bezahlen müssen. Es ist kein Vergnügen, als Sohn Gottes Mensch zu werden. Der Sohn Gottes kommt aus einer Atmosphäre der Liebe und der Freude, und dann wird er im Stall geboren, muss mit seinen Eltern auf die Flucht gehen, die Heimat verlassen und in Ägypten um Asyl bitten. Kaum hat er später ein paar Menschen geheilt, da kommen schon seine toxischen Zeitgenossen an und nörgeln, kritisieren, unterstellen ihm alles mögliche Böse, versuchen seinen Ruf zu zerstören, und am Ende wird er gekreuzigt.
Das ist ein bisschen, wie wenn jemand eine große Firma aufgebaut hat und dann zu seinem Sohn sagt: Ich will nicht, dass du so ein fauler Erbe wirst, der sein Leben am Swimming Pool oder auf Parties verbringt, bloß weil du das Glück hattest, als Sohn reicher Eltern geboren zu werden. Du musst diesen ganzen Laden von Grund auf kennenlernen. Anders wirst du ihn nicht verstehen und wirst ihn nicht gut leiten können.
Und dann fängt der Sohn am Hochofen an, da, wo es sehr laut und sehr heiß ist. Er fährt mit dem Lieferwagen frühmorgens die Ware aus. Er klappert als Vertreter die Kunden ab, die nicht überzeugt sind, dass sie unbedingt die Produkte dieser Firma brauchen. Er muss im Einkauf hart um Preise verhandeln. Er sitzt im Callcenter und beantwortet tagein tagaus die immer gleichen Fragen und Beschwerden. Er muss aber auch dahin fahren, wo die seltenen Erden abgebaut werden, ohne die unsere Computer nicht funktionieren, und er sieht da, wie Kinder die Arbeit machen, die für Erwachsene schon zu schwer ist. Er arbeitet in den Massenställen und auf dem Schlachthof mit und sieht, woher das Fleisch in der Kantine kommt. Er muss monatelang mit dem Lohn eines einfachen Mitarbeiters auskommen. Er besucht ehemalige Mitarbeiter der Firma, die früh in Rente gehen mussten, weil die Arbeit sie krank gemacht hat. Und wenn er das und noch viel mehr kennengelernt hat, darf er dabei sein, wenn sein Vater überlegt, wie er die Firma mit der ganzen Belegschaft heil durch eine schwere Wirtschaftskrise durchbringen soll. Und dann schließlich sagt sein Vater: jetzt bist du so weit, dass du dein Erbe antreten kannst. Jetzt weißt du, wofür du alles verantwortlich sein wirst.
Auf die harte Tour
So etwa ist es Jesus gegangen: auch wenn er der Sohn Gottes war, musste er erst unter Einsatz seines ganzen Lebens lernen, wie diese Welt funktioniert. Das ist einer der wirklich erstaunlichen Sätze in der Bibel: Jesus war Sohn Gottes, aber auch er musste ganz unten anfangen, um zu verstehen, wie die Schöpfung wirklich funktioniert. Es ist kein Zufall, dass Jesus erst dreißig Jahre alt werden musste, bevor er öffentlich redete. Die Lebenserwartung war damals viel geringer, und mit Dreißig war man damals so alt wie wir heute vielleicht mit 50. Bis dahin hat Jesus das Leben kennengelernt und die Bibel studiert, beides. Und erst dann war er so weit, dass er uns zeigen konnte, wie man richtig und gerecht in dieser Welt lebt und hier Gottes Willen tut, obwohl die ganze Menschheit einen Irrweg eingeschlagen hat.
Jesus musste das Elend und die Angst in dieser Welt am eigenen Leibe spüren, bevor er etwas daran ändern konnte. Wenn unser Text davon spricht, dass Jesus
dann spielt er auf die Szene im Garten Gethsemane an, wo Jesus Gott inständig gebeten hat, ihm den Kreuzestod zu ersparen. Aber Gott hatte anderes vor, und deshalb musste Jesus auch in den Tod gehen, im Vertrauen darauf, dass Gott ihn auch da nicht fallen lassen würde. Und tatsächlich – Gott ließ ihn auferstehen. Jesu Vertrauen in den Vater im Himmel wurde nicht enttäuscht. Und so hat er vom ersten bis zum letzten Atemzug als Mensch ein Leben nach Gottes Art geführt und hat uns damit einen Ausweg aus unserer Misere eröffnet, den wir uns ohne ihn nie hätten ausdenken können.
Ein neuer Typ von Priester
Auf diese Weise hat Jesus Gott und Menschen wieder zusammengebracht. Er hat das getan, was ein Hohepriester im Tempel nie fertiggebracht hätte. Deswegen ist er ein Priester neuer Art, und das wird hier mit dem seltsamen Namen Melchisedek ausgedrückt: du bist ein Melchisedek-Priester, ein neuer Typ von Priester, der nicht mehr das Problem verkörpert, sondern die Lösung.
Und so sollen wir – also alle, die mit Jesus zusammengehören wollen – die Lösung sein für die Misere, in die Menschen Gottes Schöpfung gestürzt haben. Wenn wir in Jesu Spuren gehen, sind auch wir nicht mehr Teil des Problems, sondern Teil der Lösung.