Abrahams Segen und seine Kollateralfolgen: zur Jahreslosung 2023
Predigt am 31. Dezember 2022 (Silvester) zur Jahreslosung 2023 (1. Mose 16,13) mit 1. Mose 16
1 Sarai, Abrams Frau, hatte ihm nicht geboren. Sie hatte aber eine ägyptische Sklavin. Ihr Name war Hagar. 2 Da sagte Sarai zu Abram: Siehe, der HERR hat mir das Gebären verwehrt. Geh zu meiner Sklavin! Vielleicht komme ich durch sie zu einem Sohn. Abram hörte auf die Stimme Sarais. 3 Sarai, Abrams Frau, nahm also die Ägypterin Hagar, ihre Sklavin, zehn Jahre, nachdem sich Abram im Land Kanaan niedergelassen hatte, und gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau.
4 Er ging zu Hagar und sie wurde schwanger. Als sie sah, dass sie schwanger war, galt ihre Herrin in ihren Augen nichts mehr. 5 Da sagte Sarai zu Abram: Das Unrecht, das ich erfahre, komme über dich! Ich selbst habe meine Sklavin in deinen Schoß gegeben. Aber kaum sieht sie, dass sie schwanger ist, und schon gelte ich in ihren Augen nichts mehr. Der HERR richte zwischen mir und dir. 6 Da sagte Abram zu Sarai: Siehe, sie ist deine Sklavin, sie ist in deiner Hand. Tu mit ihr, was in deinen Augen gut erscheint! Da misshandelte Sarai sie und Hagar lief ihr davon.
7 Der Engel des HERRN fand sie an einer Wasserquelle in der Wüste, an der Quelle auf dem Weg nach Schur. 8 Er sprach: Hagar, Sklavin Sarais, woher kommst du und wohin gehst du? Sie sagte: Vor Sarai, meiner Herrin, bin ich davongelaufen. 9 Da sprach der Engel des HERRN zu ihr: Kehr zurück zu deiner Herrin und beuge dich unter ihre Hand! 10 Der Engel des HERRN sprach zu ihr: Mehren, ja mehren werde ich deine Nachkommen, sodass man sie wegen ihrer Menge nicht mehr zählen kann. 11 Weiter sprach der Engel des HERRN zu ihr: Siehe, du bist schwanger, du wirst einen Sohn gebären / und du sollst ihm den Namen Ismael – Gott hört – geben, / denn der HERR hat dich in deinem Leid gehört. 12 Er wird ein Mensch sein wie ein Wildesel; / seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn, und er wird sich all seinen Brüdern vor die Nase setzen.
13 Da nannte sie den Namen des HERRN, der zu ihr gesprochen hatte: Du bist El-Roï – Gott schaut auf mich -. Denn sie sagte: Gewiss habe ich dem nachgeschaut, der auf mich schaut! 14 Deswegen nennt man den Brunnen Beer-Lahai-Roï – Brunnen des Lebendigen, der auf mich schaut -. Siehe, er liegt zwischen Kadesch und Bered.
15 Hagar gebar dem Abram einen Sohn. Und Abram gab seinem Sohn, den ihm Hagar geboren hatte, den Namen Ismael. 16 Abram war sechsundachtzig Jahre alt, als Hagar Ismael für Abram gebar.
Diese Geschichte stammt aus der Zeit, als das Volk Gottes noch eine überschaubare Familie war: Abraham, der damals noch Abram hieß, und sein Haus. Aber wie so oft gab es auch da schon katastrophale Familienkonstellationen, und die wurden nicht einfacher, nur weil Gott mit dabei war. Sie wurden auch nicht einfacher dadurch, dass sie sich strikt im Rahmen der damals üblichen rechtlichen Bestimmungen hielten.
Alles legal
Eine Frau, die wie Abrahams Frau Sara keine Kinder bekam, konnte damals eine persönliche Sklavin sozusagen als Leihmutter nutzen. Die Sklavin bekam dann stellvertretend für sie mit dem Ehemann ein Kind. Und das galt dann als Kind der Herrin. Das Problem war nur, dass die Sklavin Hagar, als sie schwanger wurde, offenbar nicht mehr Saras Sklavin war, sondern in den Zuständigkeitsbereich Abrahams hinüberwechselte. Und plötzlich war sie nicht mehr Sklavin, sondern Rivalin. Und das ließ sie Sara auch spüren. Das war ein ziemlich schwieriges Dreiecksverhältnis, obwohl es damals völlig legal war.
Sara, die damals noch Sarai hieß, geht deshalb zu Abraham und beschwert sich über Hagar, und Abraham stellt sich auf Saras Seite und sagt: gut, ich gebe meine Zuständigkeit für Hagar auf, sie ist wieder deine Sklavin, mach mit ihr, was du willst! Und dann war Sara wieder oben auf und ließ das ihre Rivalin spüren – sie misshandelte sie, sie demütigte sie, und es muss so schlimm gewesen sein, dass Hagar die Flucht ergriff. Das war damals lebensgefährlich, weil man ohne Familie völlig rechtlos und schutzlos war und in der Wüste allein gar nicht überleben konnte.
Alles Mist
Wie gesagt, alles spielte sich im Rahmen der damaligen Rechtsbestimmungen ab, aber man merkt: wer auch immer das erzählt hat, fand es nicht gut. Alle haben letztlich Mist gemacht: Sara, weil sie versuchte, auf eigene Faust ihre Kinderlosigkeit zu heilen, obwohl doch Gott versprochen hatte, dass sie noch ein Kind von Abraham bekommen würde. Aber sie hatte nicht genug Vertrauen, um zu warten und enschloss sich zu tricksen.
Dass Hagar wiederum sofort ihren neuen Status ausnutzte, um Sara zur Seite zu drängen, ist auch kein schöner Zug an ihr. Unterprivilegierte Menschen, die plötzlich Macht in die Finger bekommen, können manchmal brutalere Machtspiele anzetteln als ihre früheren Herrinnen und Herren.
Abraham schließlich scheint ja auch der Verheißung Gottes misstraut zu haben, als er sich auf dieses Arrangement mit der Leihmutter einließ. Und er kriegt die daraus folgenden Konflikte nicht geregelt, obwohl er als Familienoberhaupt dafür zuständig wäre, eine Lösung zu finden, mit der alle leben können. Und zwar eine bessere Lösung, als Hagar, die leibliche Mutter seines Kindes, an ihre Rivalin Sara auszuliefern.
Also: alles legal und trotzdem katastrophal gelaufen. Alle haben es nicht hingekriegt. Aber jetzt kommt Gott ins Spiel. Er sendet seinen Engel zu Hagar, die irgendwo in der Wüste an einer Quelle sitzt und drauf wartet, dass sie verhungert. Gott müsste das nicht tun. Er könnte sagen: das haben Abraham und Sara verbockt, das ist nicht meine Verantwortung. Ich habe ihnen einen Sohn versprochen, der kommt auch noch, und hätten sie mir vertraut, dann wäre das ganze Drama nicht passiert. Was kann ich dafür, dass Menschen mich dauernd missverstehen? Ich glaube, bis heute fragt sich Gott das ziemlich oft: was kann ich eigentlich dafür, wenn Menschen mich falsch verstehen und die Schuld dann mir in die Schuhe schieben wollen?
Kollateralprodukte des Gottesvolks
Aber Gott ist anders. Gott kümmert sich auch um Hagar und ihr ungeborenes Kind, diese Kollateralprodukte des Gottesvolkes. Sie kennen bestimmt den Begriff »Kollateralschaden«, wenn also im Krieg eine Rakete nicht nur die feindlichen Kämpfer trifft, sondern auch eine friedliche Hochzeitgesellschaft gleich nebenan. Und so verursacht das Volk Gottes immer mal wieder – ja, nicht Kollateralschäden, Hagar und ihr Sohn sind kein Schaden, aber Kollateralprodukte, um es mal so zu nennen. Immer wenn Gottes Volk Mist baut, entstehen mehr oder weniger sympathische Kollateralprodukte, mehr oder weniger geglückte Kopien des Originals.
Das wird schon deutlich in dem, was der Engel über den ungeborenen Ismael sagt: der wird ein Streithammel werden, dauernd gibt es um ihn herum Konflikte, nie gibt er Ruhe. Wir kennen doch solche Menschen, um die herum es dauernd Ärger gibt: beim Elternabend in der Schule; als Nachbarn, die gleich mit dem Rechtsanwalt kommen; als Kunden, die sich jedes Mal wieder beschweren; als Firmenchefs, bei denen niemand lange bleibt.
Und man kann Ismael ganz gut verstehen: wer als Kind in so eine Konfliktsituation hineingeboren wird, der wächst mit einer gehörigen Portion Misstrauen auf. Der sagt sich schon früh: ich muss mich wehren, weil es niemanden gibt, der mich schützt. Und wenn dann später auch noch der echte Sohn von Abraham und Sara geboren wird, Isaak, dann erlebt Ismael noch einmal das Trauma: mich will keiner, ich bin nur die Notlösung. Die anderen werden vorgezogen, da muss ich meiner Mutter und mir eben selbst helfen, ich kann mich auf niemanden verlassen. Aus solchen Enttäuschungen heraus werden Kinder dann chronische Störer, oder zum Klassenkasper, zum Schulhoftyrannen oder Schlimmerem.
Rebellen bis heute
Und immer, wenn das Volk Gottes Mist macht, produziert es solche ungeliebten Abkömmlinge, Rebellen, die gegen alles Mögliche Sturm laufen, weil sie sich irgendwann mal enttäuscht gefühlt haben, schlecht behandelt gefühlt haben, zu Recht oder zu Unrecht.
Ich habe mal vor 10 Jahren einen intensiven Mailwechsel mit einem Atheisten aus Braunschweig geführt, der mir erzählen wollte, was für ein Unsinn das Christentum sei und wie heuchlerisch die katholische Kirche usw., also das ganze Programm, was man da üblicherweise zu hören kriegt. Und irgendwann, als er wieder beim Thema Papst war, entschlüpfte ihm die Formulierung »der Papst meiner Jugend«. Und ich dachte: ach so, der war früher mal frommer Katholik! Für den hat der Papst mal eine viel wichtigere Rolle gespielt, als jemals für mich! Aber irgendwann muss das gekippt sein, warum auch immer, wer auch immer schuld daran war, und aus der enttäuschten Liebe ist Rebellion und Kampf geworden. Ismael lässt grüßen!
Und wenn man erst einen Blick dafür bekommen hat, dann sieht man, wie oft das in der Geschichte passiert ist: dass Menschen zu Feinden des Gottesvolks werden, manchmal aus enttäuschter Liebe, manchmal aber auch weil sie wie Sara nicht auf Gott warten können und sich dann irgendwie selbst helfen.
Man muss nur mal an die Pharisäer zu Jesu Zeiten denken, die sich ihren eigenen Zugang zu Gott gebastelt hatten, mit vielen Tabus und Vorschriften, und sie dachten: jetzt muss Gott uns doch gut finden! Jetzt kann er doch gar nicht anders, jetzt muss er uns einfach helfen!
Aber dann kam Jesus und war Gottes Sohn, einfach so, voll Vertrauen und Liebe, voll Segen und Heilung. Und das stellte ihren selbstgebastelten Glauben so sehr in Frage, dass sie zu seinen Feinden wurden. Einige wenige sagten: toll, das will ich auch haben, wie kann ich das bekommen? Aber die anderen versuchten diese Alternative Jesus zu zerstören, weil es nicht ihre Alternative war.
Die Abkömmlinge linker Hand, bis heute
So bringt das Gottesvolk immer wieder eine Art »Abkömmlinge linker Hand« hervor, die sich ganz häufig gegen den echten Glauben wenden. Bis heute! Wenn in Kirchen und Gemeinden lebendige Erneuerung entsteht, gibt es immer auch diejenigen, die sagen: war denn alles falsch, was wir bisher gemacht haben? Wir hatten unsere Gesetze und Regeln, wir hatten unsere Position in der Kirche, wir hatten unsere Gruppen und Ämter, in denen wir geachtet waren, und das soll auf einmal nicht mehr gelten? Nur weil da ein paar Fanatiker glauben, sie hätten den lieben Gott gepachtet?
In der Lesung vorhin haben wir gehört, wie Paulus dieses Muster im Galaterbrief (4,22-31) beschreibt. Er liest die Geschichte von Abrahams beiden Frauen und Söhnen noch mal neu und sagt: die Kollateralprodukte des Volkes Gottes werden zu seinen größten Feinden. Manchmal könnte das Volk Gottes das vermeiden, wenn es klüger wäre, manchmal aber auch nicht.
Und, liebe Leute, wir leben in so einer ganzen Kultur, die mal dem Namen nach christlich geprägt war, aber dann sind Leute dahinter gekommen, dass hinter der christlichen Fassade so viel Unechtes und Verlogenes war, dass sie sich voller Enttäuschung abgewandt haben. So wie zur Zeit in Köln die Katholiken scharenweise die Kirche verlassen wegen ihrem schrecklichen Erzbischof. Aber seit vielleicht 300 oder 400 Jahren ist sogar ein großer Teil der geistigen Elite Europas allmählich aus dem Christentum ausgewandert, vor allem aus Enttäuschung über die schrecklichen Religionskriege. Diese enttäuschten Christen haben dann eine Kultur erfunden, die christliche Werte durchaus bewahren sollte, aber dabei möglichst ohne Gott auskam. Das ist die Wurzel unserer technischen, kapitalistischen Zivilisation. Diesen Menschen verdanken wir Demokratie und Menschenrechte. Und auf diese Weise vertreten viele bis heute christliche Werte – Liebe, Frieden, Toleranz, Menschenwürde usw. – , aber sie versuchen es, wenn irgend möglich, ohne Gott zu erwähnen. Und deshalb zerstört unsere moderne Zivilisation unseren Planeten: weil sie von ihrer Wurzel bei Gott abgeschnitten ist. Weil sie – um es so zu sagen – eine Ismael-Zivilisation ist.
Zurück zu Hagar!
Ich entschuldige mich für diesen Gewaltmarsch durch dreieinhalb Jahrtausende. Aber die Dinge sind kompliziert, und es nützt nichts, sie zu versimpeln. Kehren wir jetzt zurück zu Hagar am Brunnen! Was macht Gott mit der verfahrenen Familiensituation? Er schaut auf Hagar. Und er schickt seinen Boten zu ihr. Deswegen antwortet sie ihm ja: Du bist El-Roï – »Du bist der Gott, der mich sieht«. Also die Jahreslosung 2023.
Gott schaut nicht nur auf sein Volk, sondern auch auf die Kollateralprodukte. Auch um die kümmert er sich. Er versucht, das Beste aus der Situation zu machen: Hagar muss zurück in die schreckliche Familienkonstellation, das ist immer noch besser als Verhungern. Aber sie bekommt einen Segen mit, einen richtig fetten Segen, fast wie der Segen, der auf Abraham liegt: du wirst so viele Nachkommen haben, dass man sie nicht zählen kann. Die Sklavin, die Fremde bekommt Anteil am Segen der Erzväter Israels. Der färbt auch auf sie ab, und auf ihren ungeborenen Sohn. Der wird zwar ein Krawallbruder und Schulhoftyrann, aber Ismael bleibt ein Gesegneter. »Ismael« bedeutet übersetzt: Gott hört. Also: Gott hat deine Klage, dein Weinen, dein Leid gehört und lässt es nicht unbeantwortet. Was schief gelaufen ist, ist nicht zu ändern, aber der Segen begleitet dich.
Und dann passiert das große Wunder der Versöhnung, dass dieses Wort zu Hagar findet, und sie es beantwortet: Du bist der Gott, der mich gesehen hat. Wenn du in dieser bescheuerten Familienkonstellation drin bist, dann gibt es eine Perspektive nach vorn. Dann gibt es Hoffnung auch für den Krawallbruder Ismael, genauso wie für alle anderen Kollateralprodukte des Gottesvolkes. Auch wir Christen sind ja letztlich solch ein Kollateralprodukt: weil es den Konflikt zwischen den Jesusleuten und den jüdischen Autoritäten gab, kam das Evangelium zu uns Heiden. Gott nutzt auch die Konflikte und Blindheiten im Gottesvolk, um am Ende doch zum Ziel zu kommen.
Hoffnung auf Versöhnung
Aber die Hoffnung ist, dass all die verstreuten Stiefkinder und Kollateralprodukte des Gottesvolks eines Tages merken: den Menschen sind wir vielleicht egal, aber Gott sieht uns. So wächst Vertrauen neu. So wird Versöhnung möglich.
Zwölf Kapitel später wird in der Bibel erzählt, dass die beiden Söhne Abrahams ihn am Ende gemeinsam begraben (1. Mose 25,9). Vielleicht kann man vermuten, dass Hagar ihrem Sohn von Gottes Erscheinung am »Brunnen des Lebendigen, der mich sieht« erzählt hat und dass das auf die Dauer seine Wirkung getan hat, sogar beim Krawallbruder Ismael. Und deshalb ist Hoffnung, dass auch unsere westliche Zivilisation mit ihrem schwierigen Verhältnis zu Gott und seinem Volk am Ende noch rechtzeitig den freundlichen Blick Gottes entdeckt und versteht:
Du bist ein Gott, der mich sieht.
Es wäre für das Überleben auf unserem Planeten ein entscheidendes Ereignis, wenn die misstrauischen Menschen und Denker der neuzeitlichen Zivilisation zu diesem Vertrauen finden würden. Und deshalb müssen wir Kollateralprodukte des Gottesvolkes diese komplizierte Geschichte gut verstehen und unserer Zivilisation erzählen: von ihrem Ursprung nicht bei Menschen, sondern bei Gott, der uns nie aus den Augen und nie aus den Ohren verloren hat. Wer das verstanden hat, ist kein Kollateralprodukt mehr.