Der Immanuel und die Botschaft des Weihnachtsbaums
Predigt am 24. Dezember 2022 (Christnacht)
Die Predigt schloss sich an das Stichwort »Immanuel« aus der Evangelienlesung (Matthäus 1,18-25) an.
Jesus hätte auch Immanuel heißen können. »Immanuel« ist ein Name aus dem Alten Testament und bedeutet: Gott ist mit uns; »Jesus« heißt: der Herr hilft. Das ist ganz nah beieinander: Gott kommt zu uns und hilft uns. Wie er das macht, das ist in beiden Namen noch offen. Und das passt ja auch: bei einem neugeborenen Kind weiß man noch nicht, was einmal aus ihm werden soll, und alle Vermutungen, wem es denn ähnlich sieht, sagen mehr über die Wünsche der Verwandten aus als über das Kind.
Und so ist das Weihnachtsfest auch so ein Fest, bei dem noch nicht ganz klar ist, worauf es hinausläuft. Gott kommt zu uns und hilft uns, ok, aber wie wird er das machen? Das war bei Jesus auch lange unklar und umstritten. Erst als er gekreuzigt und auferstanden war, begannen wenigstens einige zu begreifen, dass er die Macht des Todes und die Drohung mit dem Tod untergraben hat, die die Grundlage aller menschlichen Macht und aller imperialen Gewalt ist.
Bei seiner Geburt war das alles noch viel ungewisser. Und deshalb kann Weihnachten so viele unterschiedliche Hoffnungen freisetzen, von der Hoffnung auf eine neue Spielkonsole über die Hoffnung auf familiäre Harmonie bis hin zur Hoffnung auf weltweite Gerechtigkeit unter den Menschen. Kleine wie große Hoffnungen, können sich mit dem Fest verbinden – es ist quasi das flexibelste der christlichen Feste. Und auch mehr oder weniger passende Bräuche können sich damit verbinden: vom Konjunkturmotor Weihnachtsbescherung über den zum Weihnachtsmann degenerierten Nikolaus bis zum National Christmas Tree am Weißen Haus in Washington.
Ein Symbol mit Substanz
Wobei der Weihnachtsbaum tatsächlich zu den weihnachtlichen Symbolen gehört, die am meisten Substanz haben. Man könnte sogar eine biblische Begründung dafür finden: im 96. Psalm heißt es (v. 12): »Das Feld sei fröhlich und alles, was darauf ist; jauchzen sollen alle Bäume im Walde.« Ich wundere mich, dass da noch kaum jemand drauf gekommen ist. So verstanden wäre der Weihnachtsbaum ein Zeichen dafür, dass auch die ganze Schöpfung von der Freude über den Immanuel bewegt ist, der kommen und die Welt erlösen soll von der Knechtschaft unter den Mächten der Zerstörung.
Diese Mächte der Zerstörung, die die ganze Schöpfungsgemeinschaft bedrohen, sind für uns ja heute noch viel klarer erkennbar als in biblischen Zeiten. Was damals prophetische Menschen nur geahnt haben – dass auch die Schöpfung seufzt und auf ihre Erlösung wartet – das ist heute für jeden plausibel, der sich noch eine Bindung an die Realität bewahrt hat.
Vielleicht kann man ja davon ausgehen, dass die Schöpfung bis heute nicht genau weiß, wie die Erlösung aussehen soll. Aber nehmen wir den Weihnachtsbaum als Zeichen für eine Solidarität des Schmerzes und der Hoffnung durch die ganze Schöpfungsgemeinschaft hindurch. Wir Menschen können diese Hoffnung klarer artikulieren; aber sie ist größer als die Hoffnung, dass nur wir Menschen als unsterbliche Seelen irgendwie noch eine Zukunft nach dem Tod haben. Nein, der Schmerz über die Zerstörung und das Hoffen auf Erlösung geht über die menschliche Gemeinschaft hinaus und umfasst auch die nichtmenschliche Kreatur.
Der Lebensbaum aus dem Paradies
Der Weihnachtsbaum als Vertreter der nichtmenschlichen Schöpfung in unseren Weihnachtsstuben passt auch gut, weil das keine willkürliche, nachträglich angeheftete Bedeutung ist. Der Weihnachtsbaum symbolisierte ursprünglich wirklich mal den Paradiesbaum, und die Kugeln dran erinnern an die Früchte aus dem Paradies. Die Erinnerung ans Paradies ist eine Utopie, die man in die Vergangenheit zurückprojiziert hat. Sie sagt: die Welt ist in ihrem Kern gut, gute Schöpfung, sie hat Herrlichkeit und Glanz. Und die Kerzen am Baum, ob Wachs oder LED, stehen für den Glanz, für den goldenen Horizont von allem was ist.
Und wenn jetzt jemand sagt: aber die Welt ist so weit weg von einem paradiesischen Zustand, dann stimme ich zu und sage: Genau, und das wird symbolisiert durch den Wackelkontakt in der Lichterkette, der ja regelmäßig kurz vor Weihnachten auftritt und zeigt, dass die Welt jetzt nicht mehr immer so funktioniert, wie sie eigentlich sollte. Sie kann sogar sehr gefährlich werden, und das spiegelt sich wiederum in den weihnachtlichen Zimmerbränden durch unbeaufsichtigte Wachskerzen am Baum.
Aber Christen hoffen sowieso nicht auf eine Rückkehr ins Paradies, auch nicht in irgendein Goldenes Zeitalter der Vergangenheit. Nein, die Hoffnung geht nach vorn, dass Gottes Schöpfung einschließlich der Menschheit ihre eigentliche Herrlichkeit noch vor sich hat. Der strahlende Glanz, der die Erscheinung der Engel begleitet, ist ein Abglanz dieser kommenden Herrlichkeit. Und weil am Baby in der Krippe noch nicht so viel davon zu sehen ist, übernehmen eben die Engel vorläufig und stellvertretend schon mal diesen Teil.
Kann der Anfang weitergehen?
Das ist ein Beispiel dafür, wie das, was Menschen später mit dem erwachsenen Jesus erlebten, schon in der Geburtsgeschichte vorläufig aufgeblitzt ist. Bei Gott ist in den kleinen Anfängen immer schon das Ziel enthalten, aber noch verborgen. So wie in einem winzigen Samenkorn der große Baum verborgen ist, der einmal daraus werden soll. Oder wie in einem Menschen, der zum Glauben findet, schon riesige Möglichkeiten angelegt sind, aber die müssen sich erst noch entwickeln, und leider finden nicht alle Menschen ein ermutigendes Umfeld dafür, wo sich der neue Mensch entfalten kann, der in ihnen angelegt ist.
Auch vom Weihnachtsbaum erwarten wir ja nicht, dass der nach dem Fest noch wächst und größer wird. Der ist in unsere Weihnachtszimmer eingesperrt, und im Neuen Jahr kommt er raus, damit ihn die Junggesellen abholen können. Selbst die Bäumchen im Topf überleben Weihnachten meistens nicht sehr lange.
Auch das kann man als Symbol ansehen, aber leider ist es kein sehr hoffnungsvolles: da wird diese aufblitzende Herrlichkeit entsorgt und kriegt keine Chance, das ganze Jahr über immer mal wieder aufzustrahlen. Die Herrlichkeit ist eingesperrt in die Festtage und in unsere Privatwohnungen. Früher war Weihnachten ein viel öffentlicheres Fest, weil sich die wenigsten einen eigenen Christbaum leisten konnten und deshalb die Bäume auf den großen Plätzen wichtiger waren und nicht nur Deko. In der modernen Zeit hat man die Hoffnungen arg beschnitten und immer mehr Bereiche des Lebens ihrer eigenen Logik überlassen. Gott wurde zurückgedrängt in die Privatsphäre oder gar ins menschliche Gemüt, und am Ende bleibt nur noch der Markt übrig als der, der alles regeln soll. Was dabei herauskommt, das wissen wir inzwischen alle. Hoffe ich jedenfalls.
Aber der Immanuel, der Gott-ist-mit-uns, Jesus Christus will die ganze Welt erneuern und soll nicht auf das kleine Paradies unserer privaten Zone begrenzt werden, das oft gar nicht so ein Paradies ist.
Wahrer Mensch sein in einer Welt voller Unwahrheiten
Und deswegen sollen wir für ein christliches Weihnachtsfest lernen, dass der erwachsene Jesus der Hoffnung auf Erlösung und Heil eine viel klarere Gestalt gegeben hat, als sie bisher in diesen großen Verheißungsworten wie »Immanuel« schon zu erkennen war. Gott war auf eine spezielle Weise mit uns, nämlich indem er durch einen Menschen gezeigt hat, wie ein Leben als wahrer Mensch aussieht. Als wahrer Mensch in einer Welt voller Unwahrheit zu leben – Jesus hat gezeigt, dass und wie das möglich ist. Und er hat Gemeinschaften angestoßen, in denen es leichter wird, als wahrer Mensch zu leben. Er hat eine Bewegung auf Wahrheit hin in die Welt gebracht, und in der Gemeinschaft von Engeln, Eltern Jesu und Hirten leuchtet die schon einmal auf. Aber wenn sie dann, 30 Jahre später, auch noch die Schubkraft der Auferstehung bekommt, dann fängt diese Bewegung an, die ganze Welt zu durchdringen und Herrlichkeit auszustreuen.
Wenn ihr also heute Abend noch oder morgen früh oder später euren Weihnachtsbaum anschaut, dann erinnert euch an die Geschichte, die er repräsentiert:
- den Baum des Lebens im Paradies, der für den heilen, lebendigen Kern unserer Welt steht,
- den Wackelkontakt in der Lichterkette, der zeigt, dass da etwas klemmt und manchmal auch schlimme Katastrophen entzündet,
- die Bestimmung, dass so ein Baum wachsen und Früchte tragen soll, bis er zur vollen Größe aufgewachsen ist, und das steht für die Bestimmung unserer Welt, aufzublühen zur vollen Herrlichkeit, die wir noch nie gesehen haben, weil sie noch vor uns liegt,
- die Begrenzungen, die wir dem Baum auferlegen, wenn er in die Weihnachtszeit und unsere Privatsphäre eingesperrt und später entsorgt wird, die symbolisieren die Grenzen, in denen Menschen häufig ihren Glauben einsperren, so dass er nicht aufblühen kann,
- und schließlich die Erinnerung, dass Jesus der Keim für eine neue Welt der Herrlichkeit ist, so wie ein kleiner Same der Keim zu einem großen, herrlichen Baum ist.
Wenn man das so sieht, dann bekommt es tatsächlich Sinn, einen Weihnachtsbaum aufzustellen und zu schmücken: als Zeichen, dass über der ganzen Schöpfungsgemeinschaft die Verheißung von Glanz und Freude liegt. Das Experiment Schöpfung ist nicht gescheitert. Es hat seine beste Zeit noch vor sich. Gott ist immer noch an der Arbeit und freut sich, wenn du dabei mitmachst.