Bleibt wach – ihr seid die Security!
Predigt am 20. November 2022 (Ewigkeitssonntag) zu Markus 13,28-37
Die Bibelstelle, mit der ich heute predige, gehört zu der langen Rede, in der Jesus über die Zukunft spricht: über das, was nach seinem Tod auf seine Jünger zukommen wird. Er bereitet sie darauf vor, dass die Welt, wie sie sie kennen, bald vergehen wird.
Wenn man das ganze Kapitel im Zusammenhang liest, dann merkt man, dass damit die Zerstörung des Jerusalemer Tempels gemeint ist. Der war das Zentrum des antiken Judentums. Etwa 500, eigentlich sogar 1000 Jahre lang hatte sich das Volk Gottes um dieses Zentrum herum organisiert. Jesus sieht, dass diese Zeit nun zu Ende geht. Und tatsächlich zerstörten 40 Jahre später die römischen Legionen den Tempel so gründlich, dass von ihm bis heute nur noch ein paar riesige Fundamentblöcke stehen: Das ist die Klagemauer in Jerusalem, an der Juden bis heute beten.
Wenn ich nun diese Verse vorlese, dann behalten Sie das in Erinnerung: es geht nicht um den Weltuntergang, obwohl es für unsere heutigen Ohren so klingen kann. Es geht um ein konkretes Geschehen. Und deshalb kommen wir da mit den Abbrüchen und Abschieden in unserer Welt auch mit hinein.
Jesus sprach:
28 Lernt etwas aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum! Sobald seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, erkennt ihr, dass der Sommer nahe ist. 29 So erkennt auch ihr, wenn ihr das geschehen seht, dass es nahe vor der Tür ist.
30 Amen, ich sage euch: Diese Generation wird nicht vergehen, bis das alles geschieht. 31 Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. 32 Doch wann jener Tag und jene Stunde sein werden, weiß niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn; nur der Vater weiß es. 33 Seht euch also vor und seid wachsam! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.
34 Es ist wie bei einem Mann, der verreist. Bevor er sein Haus verlässt, überträgt er seinen Dienern die Verantwortung und teilt jedem seine Aufgabe zu. Dem Türhüter befiehlt er, wachsam zu sein. 35 Darum seid wachsam! Denn ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses kommt: ob am Abend oder um Mitternacht, ob beim ersten Hahnenschrei oder früh am Morgen. 36 Seid wachsam, damit er euch, wenn er unvermutet kommt, nicht schlafend antrifft.
37 Ich sage es euch und sage es allen: Seid wachsam!«
»Himmel und Erde werden vergehen« sagt Jesus. Mit »Himmel und Erde« ist im biblischen Denken die Welt, wie wir sie kennen, gemeint: das Leben, das uns vertraut ist; der große oder kleine Kosmos, in dem wir uns eingerichtet haben; der selbstverständliche Rahmen, in dem wir leben und an dem wir uns orientieren, ohne groß darüber nachzudenken.
Und auch jedes menschliche Leben ist so eine Welt im Kleinen; wenn ein Leben zu Ende geht, dann stirbt auch ein ganzer Kosmos im Kleinen. Und wenn das ein Mensch war, der zu unserem Leben ganz selbstverständlich dazu gehörte und uns sehr nahe und vertraut war, dann kann sich das wirklich so anfühlen, als ob die Welt, wie wir sie kannten, auf einmal aufgehört hat zu existieren. Und wir wissen nicht, wie es nun weitergehen soll.
Was viele erschüttert
Als im Sommer die Queen starb, da haben wir sehen können, wie betroffen Millionen von Menschen dadurch waren; man hat gemerkt, wie sehr sie für viele Menschen ein wichtiger Teil ihrer Welt gewesen ist, und wie sehr dieser Tod sie erschüttert hat, weil jetzt etwas zu Ende war, das ihrer Welt Stabilität und Vertrauen gegeben hat. Und das betraf auch viele Menschen, die der Königin nie persönlich begegnet sind. Aber sie verkörperte das bessere England, an dem sich die Menschen auch dann noch orientiert haben, als viele von ihnen bei den Wahlen Lügnern und Prahlhanseln zur Macht verholfen hatten.
Nicht jeder Tod wird von anderen so stark erlebt, und wenn doch, dann sind es meistens viel weniger Menschen – Angehörige und Partner etwa. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n. Chr. erschütterte gleich ein ganzes Volk in seinem Kern. Mit der Zerstörung der Heiligen Stadt und des Heiligtums in ihrer Mitte verging eine Welt, die ungefähr 1000 Jahre lang durch alle Wendungen der Geschichte hindurch den Menschen Orientierung und Stabilität gegeben hatte, innerlich wie äußerlich. Was auch immer passiert, haben sie gedacht, die Stadt Gottes wird bleiben. Dieser Katastrophe vergleichbar ist wahrscheinlich nur der Zivilisationsbruch, der uns bevorsteht durch die Zerstörung unserer ganzen Lebenswelt infolge des Klimawandels und des Raubbaus an den natürlichen Lebensgrundlagen auf unserem Planeten.
Vorbereitung auf große und kleine Katastrophen
Und in dieser Situation sagt Jesus: wenn alles zusammenbricht, dann sind es immer noch meine Worte, die bestehen bleiben. Das gilt für die persönlichen Katastrophen, die nur einige wenige von uns gleichzeitig treffen, wie für den großen Bruch, der kaum noch einen Stein auf dem anderen lassen wird. Aber meine Worte, sagt Jesus, das Evangelium, das wird auch in den Abbrüchen des menschlichen Lebens nicht zerbrechen. Deswegen haltet euch daran, lebt damit, denkt darüber nach, lasst meine Worte unter euch lebendig bleiben, damit ihr etwas habt, das euch leitet, wenn die gewohnten Routinen eures Alltags nicht mehr da sind. Mit dem Evangelium ist man auch dann nicht verloren, wenn es sich anfühlt, als ob alles andere zusammenbricht.
Weil Jesus weiß, dass menschliches Leben von kleinen, großen und manchmal gigantischen Untergängen gezeichnet ist, deshalb bereitet er seine Leute darauf vor. Bleibt wach! sagt er. Ich kann euch keinen Termin nennen; die Katastrophe wird anders kommen, als ihr denkt und zu einer anderen Zeit, als ihr meint. Die konkreten Umstände kenne auch ich nicht, aber der Bruch wird kommen, und ihr werdet ihn noch erleben. Deshalb bereitet euch vor, verankert euch in meinen Worten, damit ihr nicht auf dem falschen Fuß erwischt werdet.
Achtet auf die Vorzeichen!
Jesus erinnert sie dann an die Türhüter, die damals in großen Häusern am Tor saßen und kontrollierten, wer ein und aus ging. Das wäre heute in einem großen luxuriösen Wohnkomplex die Security. Und die zentrale Aufgabe der Security ist: wach bleiben, 24 Stunden am Tag, aufmerksam bleiben, nicht denken: ach, es ist doch immer noch gut gegangen, da kann ich mal für eine Zigarette meinen Posten verlassen oder ein kleines Nickerchen im Nebenraum einlegen. Wachen bedeutet: damit rechnen, dass es nicht immer so ruhig weiterläuft wie sonst. Verstehen, dass die Welt unsicher ist, auch wenn man das nur gelegentlich zu spüren bekommt. Darauf eingestellt sein, dass alles anders werden kann. Nicht die Augen verschließen vor den kleinen oder großen Alarmzeichen, die den Brüchen so gut wie immer vorausgehen.
Ihr schaut doch auch auf die Bäume, sagt Jesus, und wenn sie anfangen auszutreiben, dann wisst ihr, dass es allmählich Zeit wird für die Sommerreifen. Ihr seid doch sonst nicht so schlecht darin, eins und eins zusammenzuzählen und euch einen Reim auf das zu machen, was ihr erlebt. Warum erwartet ihr dann, dass das Leben ewig so weiter läuft wie bisher? Ja, es ist kein schöner Gedanke, dass wir nicht vor Abbrüchen und Katastrophen sicher sind, weder persönlich noch als Volk noch als ganze Menschheit. Aber ich hinterlasse euch meine Worte, die auch dann noch stark sein werden und Orientierung geben, wenn die anderen Sicherheiten zerbrechen.
Ja, wenn ihr das Evangelium nicht hättet, dann könntet ihr nur den Kopf in den Sand stecken und, so lange es noch geht, weitermachen wie immer. Aber ihr habt meine Worte, und deshalb müsst ihr nicht die Augen verschließen, deshalb gibt es Hoffnung, deshalb gibt es Handlungsmöglichkeiten und nicht nur ohnmächtiges Ertragen. Aber dazu müsst ihr wach bleiben und aufmerksam bleiben und die Zeichen der Zeit beachten: Die Zeichen dafür, dass wir alle älter werden und unsere Körper uns unsere Verletzlichkeit und Sterblichkeit spüren lassen, und genauso die Zeichen dafür, dass wir als Menschheit gerade unseren Planeten gegen die Wand fahren. Und wir werden es noch erleben, dass diese Ahnungen wahr werden, jeder persönlich, aber auch wir als ganze Generation.
Gott kommt
Wir sollen wissen, dass wir als Christinnen und Christen die Security sind, die in ihrer Aufmerksamkeit nicht müde werden darf. Die weiß, dass da etwas im Anrollen ist. Und man sollte denken, dass Jesus jetzt in dem Gleichnis von bösen Buben spricht, die das Haus ausrauben wollen, und der Sicherheitsdienst muss sie daran hindern. In anderen Gleichnissen tut Jesus das auch. Aber hier nicht!
Stattdessen redet er davon, dass der Hausherr kommt und dann sehen soll, dass seine Leute auf dem Posten sind. Der Hausherr ist natürlich Gott, der Schöpfer der Welt, der auch jeden von uns ganz persönlich ins Leben gerufen hat. Und damit sagt Jesus: hinter all den großen und kleinen Erschütterungen, die euch begegnen, steht letztlich das Kommen Gottes. Gott kommt in seine Welt. Ab dem nächsten Sonntag ist ja Advent, die Zeit, die uns daran erinnert, dass Gott in seine Welt kommt. Er schickt Jesus, um seine Schöpfung zu befreien von allen Mächten der Zerstörung und des Bösen. Gott gibt seine Welt nicht auf. Und auch wenn alle bösen Mächte versuchen, ihn auszusperren, ihn zu ignorieren, seine Leute einzulullen und den Menschen Ohnmacht einzureden, trotzdem kommt Gott. Er ist in Jesus gekommen, und er kommt in alle dunklen und schrecklichen Winkel der Welt, damit sie nicht dunkel und schrecklich bleiben. Das ist der Grundkonflikt, und dieser Konflikt mit Tod und Zerstörung steht hinter all den Erschütterungen im Großen wie im Kleinen, die wir erleben.
Der Tod versucht sich gegen das Leben Gottes zu behaupten, und er würde lieber diese ganze Welt in den Abgrund reißen, als sie an den Gott der Liebe und des Lebens zu verlieren. Aber das Evangelium ist die gute Nachricht davon, dass der Tod besiegt ist. Jesus ist auferstanden, und die Kraft der Auferstehung ist in der Welt und kann nicht mehr vertrieben werden. Das Evangelium soll uns die großen und kleinen Katastrophen so entschlüsseln, dass wir dahinter den Gott des Lebens erkennen, der zu uns kommt; der auf dem Weg ist, um endlich und zuletzt alles Dunkle und Zerstörerische aus seiner Welt zu vertreiben. Wenn wir das verstanden haben, dann tun die Brüche und Abschiede immer noch weh; aber dahinter öffnet sich ein goldener Rand der Hoffnung, und wir sind nicht mehr ohnmächtige Opfer.
Sich nicht erschrecken lassen
Es wird erzählt, dass vor vielleicht 150 Jahren irgendwo im mittleren Westen der USA ein Parlament tagte, und plötzlich brach ein gewaltiges Unwetter los, so dass der Boden unter den Donnerschlägen wankte und die Fensterscheiben erzitterten. Unter den Abgeordneten brach Panik aus; sie dachten, das Ende der Welt sei gekommen. Aber der Vorsitzende verschaffte sich mit ein paar kräftigen Hammerschlägen Gehör und sagte: »Meine Herren, es kann sein, dass jetzt das Ende der Welt gekommen ist. Aber wenn unser Herr wirklich kommt, dann soll er uns bei der Arbeit finden. Bitte nehmen Sie wieder Platz!«
Der Mann hat Jesus verstanden. Wer weiß, dass hinter all den Erschütterungen der lebendige Gott steht, der sich aufgemacht hat, um den Tod ein für alle Mal aus seiner Schöpfung zu vertreiben, der muss nicht mehr erschrecken, wenn es donnert. Der muss auch sonst nicht die Augen verschließen. Der kann wach bleiben und hinter allem Schmerzlichen Ausschau halten nach dem Advent Gottes, der manchmal nur mit großer Mühe zu entdecken ist, aber manchmal zeichnet er sich auch schon deutlich ab. Wer das Evangelium kennt, wer die Worte Jesu lebendig in sich bewegt, der kann sich zurechtfinden, auch wenn vieles zerbricht. Schmerzen und Enttäuschungen erspart das nur manchmal, aber die Realität bleibt immer voll von den Möglichkeiten Gottes.
Solidarische Menschen
Wir müssen dann keinen Bogen machen um diejenigen, die durch Krankheit in Lebensgefahr schweben oder einen Verlust erlitten haben. Wir müssen dann auch keine Angst haben vor Veränderungen unseres Lebensstils, die so oder so kommen werden. Wir können immer Menschen sein, die aus Solidarität heraus handeln, aus Liebe, und nicht aus Furcht oder Unverständnis heraus.
Die Erschütterungen sollen sich für uns verwandeln in Zeichen, dass Gottes Kampf um seine Schöpfung im Gange ist und die Auferstehung Jesu die Welt des Todes bis in ihre Grundfesten erschüttert hat. Und wir sollen die sein, die das verstehen und sich nicht erschrecken lassen. Uns soll der Herr, wenn er kommt, bei unserer Arbeit als liebende, solidarische Menschen finden, die anderen Hoffnung geben und selbst voll Vertrauen der Zukunft entgegen sehen. Weil wir von den Worten Jesu leben, die auch vom Ende der Welt, wie wir sie kennen, nicht widerlegt werden.