Bei euch herrscht eine andere Art von Macht!
Predigt am 3. April 2022 zu Markus 10,35-45
35 Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, traten an Jesus heran und sagten: »Meister, wir möchten, dass du uns eine Bitte erfüllst.« – 36 »Was wollt ihr?«, fragte er. »Was soll ich für euch tun?« 37 Sie antworteten: »Wir möchten, dass du uns in deiner Herrlichkeit neben dir sitzen lässt, den einen an deiner rechten Seite und den anderen an deiner linken Seite.« – 38 »Ihr wisst nicht, um was ihr da bittet«, entgegnete Jesus. »Könnt ihr den bitteren Kelch trinken, den ich trinken werde, und die Taufe empfangen, mit der ich getauft werden muss?« – 39 »Das können wir!«, erklärten sie.
Da sagte Jesus zu ihnen: »Den Kelch, den ich trinke, werdet ihr zwar auch trinken, und die Taufe, mit der ich getauft werde, werdet auch ihr empfangen. 40 Aber darüber zu verfügen, wer an meiner rechten und an meiner linken Seite sitzen wird, das steht nicht mir zu. Wer dort sitzen wird, das ist von Gott bestimmt.«
41 Die übrigen zehn Jünger hatten dem Gespräch zugehört und ärgerten sich über Jakobus und Johannes. 42 Da rief Jesus sie alle zusammen und sagte: »Ihr wisst, dass die, die als Herrscher über die Völker betrachtet werden, sich als ihre Herren aufführen und dass die Völker die Macht der Großen zu spüren bekommen. 43 Bei euch ist es nicht so. Im Gegenteil: Wer unter euch groß werden will, soll den anderen dienen; 44 wer unter euch der Erste sein will, soll zum Dienst an allen bereit sein.
45 Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele hinzugeben.«
Dieses Gespräch findet statt auf dem Weg nach Jerusalem. Immer wieder sagt Jesus den Jüngern, dass er dort sterben wird, und sie sind alle beunruhigt von seinen Worten, die sie nicht verstehen und erst recht nicht glauben können. Aber sie spüren die Gefahr, und sie sind sich nicht mehr sicher, dass Jesus sie davor beschützen wird wie bisher.
Die Jünger unter Druck
Emotional gesehen ist das gar nicht so weit weg von dem, was wir gerade erleben: irgendwie spüren wir gerade deutlich, dass wir auf eine ungewisse Zukunft zugehen. Die Krisen und Konflikte reißen gar nicht mehr ab, und die Einschläge kommen näher. Und unter Druck wird klarer erkennbar, was Menschen wirklich antreibt; was bisher unter der Decke geblieben ist, wird plötzlich sichtbar. Oft sind das keine schönen Charakterzüge.
In diesem Fall betrifft das die Brüder Jakobus und Johannes. Mit Petrus zusammen bilden sie eine Art »Inneren Kreis« um Jesus; er nimmt sie mit, wenn es um besonders heiklen Angelegenheiten geht. Und jetzt, wo alles unsicher wird, möchten sie ihren Status noch schnell sichern. Sie tun das auf besonders trickreiche Art: sie versuchen, Jesus darauf festzulegen, dass er ihnen einen Wunsch erfüllt. »Kannst du uns eine Bitte erfüllen, nur eine Bitte?« Das ist natürlich ein plumper Versuch, und Jesus reagiert einfach so vernünftig, wie wir das hoffentlich in so einem Fall auch tun würden: »Worum geht es?«
Und dann kommen sie mit der Sprache heraus: Wir wollen in deiner Herrlichkeit rechts und links von dir sitzen. Rechts und links von einem König sitzen in der Regel seine engsten Vertrauten, seine Ratgeber, auf die er hört. Deshalb sitzt Putin auch allein an seinem langen Tisch, weil er niemandem vertraut.
Eine andere Art von Herrlichkeit
Offenbar erwarten die beiden, dass Jesus sich jetzt endlich durchsetzen und seine Macht enthüllen wird. In Jerusalem wird irgendwie die Entscheidung fallen, und die Brüder möchten jetzt schon die Garantie, dass ihr Rang erhalten bleibt. Wenn Jesus in seiner Herrlichkeit sichtbar wird, dann soll auch etwas von seinem Glanz auf sie fallen, weil sie den Platz direkt neben ihm haben.
Das heißt, sie haben überhaupt nicht ernst genommen, was Jesus über sein Sterben in Jerusalem gesagt hat. Zum einen Ohr rein, zum andern raus. Und deswegen antwortet Jesus mit einer doppeldeutigen Gegenfrage: könnt ihr den Kelch trinken und die Taufe ertragen, die mir bevorstehen? Damit meint er den bitteren Kelch des Leidens und die Taufe in den Tod. Taufe ist bis heute ein Sich-mit-dem-Tod-Jesu-Verbinden. Die Taufe stellt uns in genau den tödlichen Konflikt mit der Macht, den Jesus ausgefochten hat. Das sollten sich alle klar machen, die ihr niedliches Baby zum Taufen bringen! Taufe ist keine Segenshandlung, sondern der Beginn eines Fundamantalkonflikts, den wir in der Nachfolge Jesu auf uns nehmen.
Und die Herrlichkeit Jesu wird sich konzentriert gerade bei seinem Tod am Kreuz zeigen. Als Johannes später das Johannesevangelium schrieb, da hat er ganz oft das Wort »Herrlichkeit« benutzt. Dieses Gespräch mit Jesus auf dem Weg nach Jerusalem ist offenbar bei ihm hängengeblieben. Das hat an ihm gearbeitet, und irgendwann hat er es verstanden. Und er hat wie kein anderer Evangelist betont, dass die Herrlichkeit Jesu am Kreuz sichtbar wurde: nämlich sein Vertrauen zum Vater im Himmel bis zum letzten Atemzug, und seine Liebe zu den Menschen, sogar zu seinen Feinden. Das war der Kern der Macht, die Jesus ausübte. Eine Macht, die zwar wirkt, aber auf eine ganz andere Weise als die Macht, die aus den Gewehrläufen und von den Bankkonten kommt. Johannes hat das Kreuz Jesu deshalb auch als Jesu »Erhöhung« bezeichnet.
Gott verteilt die Plätze
Aber damals auf dem Weg kurz vor Jericho waren er und sein Bruder noch längst nicht so weit. Sonst hätten sie nicht einfach so pausbäckig geantwortet: Ja, den Kelch und die Taufe, die dich erwarten, die können wir auch auf uns nehmen.
Jesus antwortet: ok, könnt ihr haben, werdet ihr auch haben. Aber die Jobs in meinem engsten Beraterstab vergebe nicht ich; nur Gott weiß, wer das sein wird. Ja, sie werden beide später leiden müssen, vielleicht sogar Märtyrer werden, aber das bedeutet noch längst nicht, dass es in Jesu Herrlichkeit eine Rangordnung gibt, und wer da welchen Rang bekleiden wird. Das wird sich herausstellen. Das hängt auch davon ab, ob sie verstehen, was er ihnen jetzt gesagt hat.
Jesus wird grundsätzlich
Damit könnte die Geschichte zu Ende sein, aber wenn einer anfängt, die Machtkarte zu spielen, dann triggert das auch die anderen. Die sind sauer auf Johannes und Jakobus. Glauben die denn, sie wären etwas Besseres? Haben andere vielleicht nicht ebenso viel Anspruch auf die wichtigsten Posten bei Jesus? Was ist z.B. mit Petrus, der gehört doch auch zum engeren, innersten Kreis der Jesusvertrauten! Machtspielchen lassen keinen kalt. Erst recht nicht, wenn man sowieso schon beunruhigt und ängstlich ist.
Jesus merkt, dass er jetzt mal grundsätzlich etwas klarstellen muss. »Alle mal herhören!« sagt er. »Ihr wisst, natürlich dass die Welt voller Macht ist. Die Völker werden unterdrückt und ausgebeutet. Wer Herrschaftsmacht hat, bringt seine Schäfchen ins Trockene.« Das ist schon eine klare Beschreibung, und wir reden da in der Kirche leider viel weniger klar. Jesus wusste gut darüber Bescheid, wie Macht funktioniert. Er kannte sich in der Welt aus.
Aber dann geht es weiter: »Ja, so ist es normalerweise in der Welt. Aber bei euch nicht. Bei euch, meinen Jüngern, läuft es anders. Bei meinen Leuten sind die Chefs die Diener. Den größten Einfluss haben die, die sich am engagiertesten in den Dienst an den anderen stellen.«
Macht am Beispiel Jesu
Es fällt auf, dass Jesus hier nicht sagt: so soll es bei euch sein. Er sagt: so ist es bei euch. Versteht: das ist die Art, wie meine Gemeinschaft funktioniert. Anders funktioniert sie nicht. Ich habe es euch vorgemacht. An anderer Stelle sagt er: ich bin unter euch wie der Diener. Das heißt: ich tue alles dafür, dass ihr vorankommt auf eurem Weg, klare Menschen Gottes zu werden. Ich denke über euch nach, habe Geduld mit euch, erkläre immer wieder, gehe euch voran, damit ihr mit nachfolgen könnt.
Ich hätte es auch bequem haben können im Himmel bei Gott, aber wegen euch bin ich Mensch geworden und habe alle Mühen eines Menschenlebens in dieser beschädigten Welt auf mich genommen. Meine Gemeinschaft funktioniert so, dass man sich nicht von den Mühen und Schmerzen der anderen distanziert, sondern sie mitträgt und auf sich nimmt. Wer das tut, der übt den nachhaltigsten Einfluss aus. Befreite Menschen Gottes sind die stärkste Kraft der Welt. Das zeigt sich oft erst nach längerer Zeit, aber manchmal kann man es auch schon schnell und deutlich sehen.
Menschen gut behandeln
Denken Sie nur mal an den Krieg in der Ukraine! Warum kommen die russischen Truppen da nicht richtig voran, trotz ihrer gewaltigen Übermacht? Weil das alles Soldaten sind, die Angst haben. Die armen Wehrpflichtigen, die bei der Armee übelst schikaniert und gequält werden, denen man noch nicht mal gesagt hat, dass sie in den Krieg ziehen – wieso sollen die denn kämpfen und ihr Leben riskieren? Und die Offiziere, die Druck von oben kriegen und sich nicht trauen, realistisch zu melden, was schief läuft? Wer wird sich da selbstlos einsetzen? Wie soll so eine Armee funktionieren?
Wenn Menschen schlecht behandelt werden, dann können sie ihr Potential nicht entfalten. Das gilt immer. Du kannst Menschen in Furcht und Schrecken halten, du kannst sie zu Sklaven machen, aber so werden sie nie ihr volles Potential entfalten. Deswegen sind freie Gesellschaften effektiver. Die haben dann nur das Problem, dass man sich da auch von der Verantwortung für die Schwächeren frei machen kann. Aber Menschen brauchen es, dass sie eingebunden sind in eine Gemeinschaft, dass sie einen Wert und eine Würde haben, unabhängig davon, wie viel sie leisten und wie angesehen sie sind. Keine Gesellschaft kann es sich leisten, einen Teil ihrer Leute einfach abzuhängen.
Der neue Weg Jesu reduziert die Angst
Und Jesus sagt: wer in meiner Nachfolge an dieser Art von Gemeinschaft baut, der hat den größten Einfluss. Der bewirkt am allermeisten in der Welt. Der baut jetzt schon an der neuen Welt Gottes mit. Macht ist nicht dazu da, dass ich mich wichtig fühle und mir von anderen die Schuhe putzen lasse. Macht ist dazu da, andere zu ermächtigen und ihnen die Augen zu öffnen für den Wert jedes einzelnen Menschen und jeder Kreatur überhaupt. Wir hängen alle zusammen in einem großen Netzwerk des Lebens, und dieses Netzwerk zu erhalten und zu pflegen, das ist der größte Einfluss, den wir ausüben können.
An Jesus sieht man, dass das in Konflikte bringt. An Jesus sieht man, dass es auch das Leben kosten kann. Aber das Kreuz ist sozusagen die Spitze der Pyramide. Die Basis ist das tägliche Bemühen darum, andere Menschen voranzubringen auf dem Weg, ihre Bestimmung als freie Söhne und Töchter Gottes zu finden. Die Grundlage ist dieser Dienst an dem Wohlergehen anderer und an ihrer Befreiung. Das ist die Art und Weise, wie christliche Gemeinde funktioniert, und wenn das nicht geschieht, ist es nicht die Gemeinde Jesu.
Aber wo es geschieht, da wird das Potential Gottes entfaltet, und dann wird sich die Welt nachhaltig wandeln. Die Welt heute ist unsicher und macht uns zu Recht Sorge. Aber wenn wir in diese Fürsorge für das Lebendige investieren, wenn wir uns und anderen helfen, freie Menschen Gottes zu werden – all das ist auf keinen Fall vergebens. Es wird nachhaltig bleiben, und wir werden damit schon jetzt zur neuen Welt Gottes gehören, egal, auf welcher Rangstufe. Und in dieser Sicherheit müsste sich doch schon einiges von unserer Unsicherheit und Ängstlichkeit auflösen.