Kehrt um, und ihr werdet leben! (Hesekiel II)
Predigt am 30. Juni 2002 zu Hesekiel 18,1-32 pass.
Als die Herrlichkeit Gottes dem Propheten Hesekiel bei seiner Berufung erschien (davon haben wir vor einer Woche gehört), war es nicht das letzte Mal, dass er sie sah. In Kap. 8 (v. 1-6) lesen wir folgendes:
8,1 Es war im sechsten Jahr unserer Verbannung, am 5.Tag des 6.Monats. Die führenden Männer der aus Juda Weggeführten saßen bei mir in meinem Haus. Da spürte ich, wie der Herr, der mächtige Gott, seine Hand auf mich legte. 2 Als ich aufblickte, sah ich eine Gestalt, die aussah wie ein Mann. Von der Stelle, wo die Hüften sind, nach unten sah sie aus wie Feuer, nach oben aber strahlend wie helles Gold. 3 Sie streckte etwas wie eine Hand nach mir aus und packte mich an den Haaren. So hob mich der Geist in meiner Vision weit über die Erde empor und trug mich nach Jerusalem, zum Eingang des nördlichen Stadttors. Bei diesem Tor stand das Götzenbild, das den Zorn des HERRN erregt. 4 Da sah ich den Gott Israels in seiner strahlenden Herrlichkeit, genau wie ich ihn in der Ebene am Fluss Kebar gesehen hatte. 5 Er sagte zu mir: »Du Mensch, sieh nach Norden!« Ich blickte nach Norden und sah außerhalb des Tores einen Altar; am Toreingang stand ein Götzenbild. 6 »Du Mensch«, sagte der HERR, »siehst du, was sie da treiben? Die Leute von Israel kümmern sich nicht um meinen Tempel; statt dessen verüben sie diesen abscheulichen Götzendienst. Aber du wirst noch Schlimmeres sehen.«
Das ist der Beginn einer großen Vision, 3 Kapitel lang, in der Hesekiel sehen muss, wie sehr der Götzendienst das Leben der Menschen in Jerusalem prägt. Und am Ende heißt es :
10,3b Der innere Vorhof des Tempels war ganz angefüllt von der Wolke der göttlichen Gegenwart. 4 Da erhob sich die Herrlichkeit des HERRN von ihrem Thron und trat auf die Schwelle des Tempelhauses. Die Wolke erfüllte das ganze Haus, und der Vorhof leuchtete im Glanz der Herrlichkeit des HERRN. 5 Das Rauschen der Kerubenflügel klang wie die Donnerstimme Gottes, des Gewaltigen; es erfüllte auch den äußeren Vorhof des Tempels.
…
11,18 Die Herrlichkeit des HERRN ging von der Schwelle des Tempelhauses weg und nahm den Platz über den Keruben ein. 19 Die Keruben breiteten ihre Flügel aus und erhoben sich vor meinen Augen ein Stück über den Boden, und die Räder erhoben sich mit. Dann verließ die Herrlichkeit des Gottes Israels den Tempelbezirk, über den Keruben thronend, durch das östliche Tor. 20 Ich erkannte deutlich die vier mächtigen Gestalten wieder, die am Fluss Kebar vor meinen Augen den Thron des Gottes Israels getragen hatten.
…
11,23 So verließ die Herrlichkeit des HERRN die Stadt in Richtung auf den Berg im Osten Jerusalems. 24 Mich aber nahm der Geist und brachte mich in meiner Vision zurück nach Babylonien. Dann verschwand die Vision, 25 und ich berichtete den Verbannten alles, was der HERR mir gezeigt hatte.
Hesekiel wird extra in einer Vision aus Babylon nach Jerusalem versetzt, damit er einen entscheidenden Moment miterlebt: Die Gegenwart Gottes verlässt die Heilige Stadt. Jahrhundertelang hat Gott dort im Tempel gewohnt. Jetzt verlässt er diesen Ort. Weil sein Volk sich auf breiter Front von ihm abgewandt hat, entzieht Gott ihm seine Gegenwart. Gott kann nicht mit Gewalt und Götzendienst Tür an Tür leben. Er geht dann. Das ist der Kern des Gerichtes Gottes: er entzieht sich. Und die, die ihn nicht wollten, müssen ohne ihn leben. Deswegen werden wir im Neuen Testament aufgerufen: »Betrübt nicht den Heiligen Geist!«. Gottes Geist, Gottes Gegenwart entschwindet, wenn wir nachhaltig gegen seinen Willen handeln.
Als Gottes Gegenwart die Stadt verlässt, da ist ihr Schicksal endgültig besiegelt. Und Hesekiel kündigt in immer neuen Bildern die Zerstörung der Stadt und die Verschleppung ihrer Bewohner an. Jetzt kommt die Zeit des Gerichts. Und er sagt: glaubt nicht, dass es noch lange dauert. Es ist soweit. In kurzer Zeit und unabwendbar.
Vielleicht kann man sich vorstellen, dass die Menschen, die das hörten, fragten: ja, und was sollen wir jetzt tun? Das Gericht ist besiegelt, was bleibt uns noch? Es ist eh nichts mehr zu ändern. Da werden Menschen zynisch. Und mit diesem Zynismus sollte sich Hesekiel auseinandersetzen:
18,1 Das Wort des HERRN erging an mich, er sagte: 2 »Was habt ihr da für ein Sprichwort im Land Israel? Ihr sagt: ‚Die Väter essen unreife Trauben, und die Söhne bekommen davon stumpfe Zähne.‘ 3 So gewiss ich, der Herr, lebe: Niemand von euch, niemand in Israel wird dieses Wort noch einmal wiederholen! 4 Ich habe das Leben jedes einzelnen in der Hand, das Leben des Sohnes so gut wie das Leben des Vaters. Alle beide sind mein Eigentum. Nur wer sich schuldig macht, muss sterben.
5 Nehmt den Fall eines Menschen, der stets das Rechte tut und sich nichts zuschulden kommen läßt: 6 Er betet nicht zu den Götzen der Leute von Israel und hält für sie auf den Bergen keine Opfermähler. Er rührt keine fremde Frau an und keine Frau, die gerade ihre Blutung hat. 7 Er beutet andere nicht aus und gibt dem armen Schuldner sein Pfand zurück. Er nimmt niemand etwas weg, sondern gibt den Hungernden zu essen und den Frierenden etwas anzuziehen. 8 Er nimmt keinen Zins, wenn er Geld ausleiht. Er unterstützt vor Gericht nicht die ungerechte Sache, sondern fällt stets ein unparteiisches Urteil. 9 Mit einem Wort: Er gehorcht meinen Geboten und tut, was recht ist. Ein solcher Mensch hat keine Schuld, er soll am Leben bleiben. Das sage ich, der Herr, der mächtige Gott.
10 Nun kann es sein, dass dieser rechtschaffene Mann einen missratenen Sohn hat, der Blut vergießt oder sonst etwas von alldem tut, 11 was sein Vater gemieden hat: auf den Bergen Opfermähler hält, mit fremden Frauen schläft, 12 die Schutzlosen unterdrückt und ausraubt, das Pfand nicht zurückgibt, sich mit den Götzen einlässt und zu ihnen betet 13 oder Geld gegen Zins leiht. Soll ein solcher Mensch am Leben bleiben? Nein! Wer solche Verbrechen begeht, muss getötet werden. Ihn trifft die gerechte Strafe.
14 Dieser verbrecherische Mensch hat vielleicht wieder einen Sohn, der die Untaten seines Vaters sieht und sich durch sein schlimmes Beispiel warnen läßt. 15 Er betet nicht zu den Götzen der Leute von Israel und hält für sie auf den Bergen keine Opfermähler; er rührt keine fremde Frau an; 16 er beutet niemand aus; er fordert kein Pfand, wenn er etwas ausleiht; er nimmt niemand etwas weg, sondern gibt den Hungernden zu essen und den Frierenden Kleidung; 17 er begeht kein Unrecht an den Schutzlosen und nimmt keinen Zins – mit einem Wort: er gehorcht meinen Geboten und tut, was recht ist. Ein solcher Mensch muss nicht für die Schuld seines Vaters büßen; er soll am Leben bleiben. 18 Nur sein Vater, der andere erpresst und beraubt und seiner Familie ein schlechtes Vorbild gegeben hat, muss sterben.«
19 »Ihr fragt, warum der Sohn nicht mit dem Vater bestraft wird? Weil er das Rechte getan und meine Gebote befolgt hat! Deshalb bleibt er am Leben. 20 Nur wer sich schuldig macht, muss sterben. Der Sohn soll nicht für den Vater büßen und der Vater nicht für den Sohn. Am Rechtschaffenen wird sich seine Rechtschaffenheit auswirken und am Verbrecher sein Verbrechen.
21 Wenn aber der Verbrecher umkehrt und das Böse läßt, das er getan hat, wenn er alle meine Gebote befolgt und das Rechte tut, bleibt auch er am Leben und muss nicht sterben. 22 All das Böse, das er früher getan hat, wird ihm nicht angerechnet. Weil er danach das Rechte getan hat, bleibt er am Leben.
…
18,30 Jeder einzelne von euch bekommt das Urteil, das er mit seinen Taten verdient hat. Das sage ich, der Herr, der mächtige Gott! Kehrt also um und macht Schluss mit allem Unrecht! Sonst verstrickt ihr euch immer tiefer in Schuld. 31 Trennt euch von allen Verfehlungen! Schafft euch ein neues Herz und eine neue Gesinnung! Warum wollt ihr unbedingt sterben, ihr Leute von Israel?
32 Ich habe keine Freude daran, wenn ein Mensch wegen seiner Vergehen sterben muss. Das sage ich, der Herr, der mächtige Gott. Also kehrt um, damit ihr am Leben bleibt!«
Gott hat kein Interesse und keine Freude daran, Menschen ihre bösen Taten zu vergelten. Es gibt ja Menschen, die nur darauf lauern, dass wir etwas falsch machen, damit sie etwas gegen uns haben und es uns vielleicht lebenslang vorhalten können. Und manchmal stellen sich Leute Gott genauso vor, dass er nur wartet, bis wir etwas falsch machen, damit er dann sagen kann: na warte Freundchen, jetzt bekommst du deine Abreibung!
Aber so ist Gott nicht. Gott hat Interesse am Leben und am Gelingen. Im Interesse des Lebens kann er Unrecht nicht durchgehen lassen, aber er hat überhaupt keine Freude daran, jemanden der gerechten Strafe zuzuführen. Auch ein menschlicher Richter, der Freude daran hätte, Menschen möglichst hart zu bestrafen, wäre ja fehl am Platz.
Gott sagt zwar: »die Rache ist mein, ich will vergelten«. Aber das heißt nicht, dass die Rache für ihn süß wäre. Er nimmt uns da etwas ab, was wir nicht verkraften würden – wir würden unmenschlich werden, wenn wir die Rache für Unrecht in die eigene Hand nehmen würden. Gott kann die Vergeltung gerade deshalb übernehmen, weil sie für ihn nicht süß ist, weil er daran überhaupt keinen Gefallen hat. Gott will nicht Strafe, sondern Umkehr, und Strafe kann manchmal Mittel zu diesem Zweck der Umkehr sein, aber längst nicht immer.
Es gibt aber einen fatalen Umgang mit Schuld, eine zynische Haltung, die dazu führt, dass es nicht zu der Umkehr kommt, die das Ziel Gottes ist. Sie spiegelt sich in dem Spruch, der in Israel zur Zeit der Katastrophe im Umlauf war, gerade unter Menschen, die etwas wussten von der Schuld des Volkes: »Die Väter essen unreife Trauben, und die Söhne bekommen davon stumpfe Zähne.« Sie meinen damit: unsere Väter haben uns das Unheil eingebrockt, und wir müssen es auslöffeln. Gott ist ungerecht! Unsere Väter haben den falschen Weg eingeschlagen, aber wir müssen die Folgen tragen.
Was für eine Haltung steht hinter diesem Satz? Die Menschen sagen damit: Wir können nichts machen. Warum sollten denn wir umkehren? Wir sind ja nur die Opfer, wir büßen fremde Schuld ab. Wir sind ohnmächtig und ohne Spielraum, gebunden an das Versagen der Generation vor uns. Gott ist ungerecht, wenn er uns eine Kollektivschuld anrechnet!
Die Menschen, die auf diesem Spruch mit den unreifen Trauben immer wieder herumreiten, die bringen sich damit selbst um den Spielraum, den sie in Wirklichkeit noch haben. Sie schneiden sich selbst den Weg zur Umkehr ab, weil sie sich als hilflose Opfer sehen. Sie beschäftigen sich damit, Gott die Schuld zu geben, anstatt ihren Spielraum zu nutzen. Früher, als Unrecht und Götzendienst in Blüte standen, da wollten sie nicht einsehen, was denn daran so schlimm ist, und jetzt, als sie sehen, wohin das alles geführt hat, da sagen sie: nun ist es zu spät, noch etwas zu ändern. Mal bedenkenlos, mal einsichtig, aber immer läuft es darauf hinaus, dass man keine Konsequenzen ziehen muss. Zerknirscht zu sein, voll Reue über die eigenen Sünden oder die der Väter, das ist vielen Menschen immer noch lieber als Umkehr und Neuanfang. Aber damit sabotieren sie exakt Gottes Ziel.
Deshalb lässt Gott durch Hesekiel sagen: dies Wort mit den sauren Trauben, das will ich bei euch nicht mehr hören! Ich bin nicht ungerecht. Ich lege euch nicht fest auf das, was eure Väter getan haben. Es geht um die Verantwortung jedes Einzelnen, und ich werde dich nur für das zur Rechenschaft ziehen, was in deiner eigenen Verantwortung lag. Niemand wird zur Rechenschaft gezogen für den Platz in der Geschichte, an dem er geboren ist, aber er wird zur Rechenschaft gezogen dafür, was er selbst an diesem Platz in der Geschichte getan hat.
Und ihr hättet auch in eurer Lage noch Spielraum, wenn ihr euer Selbstmitleid endlich aufgeben würdet. Mit dem Wort von den sauren Trauben verbaut ihr euch die Zukunft. Ihr könnt nicht mehr die Schuld der Generation vor euch ungeschehen machen, aber ihr könnt es anders machen als sie, und das ist eure Chance. Nehmt euch diese Chance nicht durch so einen Fatalismus, indem ihr euch Ohnmacht einredet. Der Weg zum Leben steht offen, auch für euch. Kehrt um, und ihr werdet leben!
Es ist Hesekiels Aufgabe, an den Spielraum zu erinnern, den jeder Mensch hat, auch in den bösesten und verfahrensten Situationen. Kein Mensch ist alternativlos auf einen einzigen Weg festgelegt, auch wenn ihn die äußeren Umstände massiv in diese Richtung schieben. Es gehört zur von Gott verliehenen Menschenwürde, dass Menschen eine Alternative haben, die Möglichkeit zu Umkehr, Bekehrung und Neuanfang. Auch niemand von uns wird festgelegt auf das, was er in der Vergangenheit getan hat. Niemand soll sagen: es ist schon zu viel schief gelaufen in meinem Leben, ich kann nicht mehr zurück, ich bin schon zu alt, da ändert sich nichts mehr, wie soll denn das geschehen? Umkehr ist immer möglich, und wenn es auf dem Sterbebett ist – auch wenn wir wissen, dass das der denkbar schlechteste Ort dafür ist, wenn ein Mensch vielleicht an Schläuchen und Kabeln hängt und unter Medikamenten steht. Wir sollten uns also nicht darauf verlassen, dass es dann auch noch früh genug ist.
Aber es gibt keine von vornherein hoffnungslosen oder unfruchtbaren Zeiten im Leben der Völker und auch nicht im Leben der Menschen. Jede Zeit kann zur Segenszeit werden, wenn Menschen den Ruf Gottes zur Umkehr hören. Das müssen dann nicht unbedingt äußerlich glanzvolle Zeiten werden, aber es sind Zeiten, die in Gottes Chronik mit dicken Strichen markiert sind.
Wir müssen nur einmal auf diese Zeit der babylonischen Gefangenschaft schauen, als das Volk Israel äußerlich gesehen am Tiefpunkt seiner Geschichte angekommen war. Aber aus dieser Zeit stammen die Texte, die dem Neuen Testament am nächsten kommen und am stärksten die Gestalt Jesu vorabbilden. Man muss nur an die Worte vom leidenden Gottesknecht bei Jesaja denken, die Jesus selbst geholfen haben, seinen Auftrag und seinen Weg ins Leiden zu verstehen. Die sind damals entstanden, in einer Zeit, die äußerlich so klein und unbedeutend war, aber es hat damals Menschen gegeben, die umgekehrt sind und auf Gott gehört haben, und daraus ist Segen entstanden.
Merken wir nicht auch selbst manchmal im Rückblick, wie äußerlich gesehen unscheinbare Zeiten in Wirklichkeit Zeiten des Segens waren, weil in dieser Zeit die Neuorientierung geschehen ist, die Gott dann später auch äußerlich fruchtbar gemacht hat? Es kommt doch vor allem darauf an, dass wir so werden, dass die Herrlichkeit Gottes bei uns wohnen kann. Und sie findet bei uns Heimat, so lange wir in dieser Bewegung der Umkehr sind. Wir müssen nicht perfekt sein oder schon eine bestimmte Stufe des Bewusstseins erklommen haben, aber wichtig ist, dass die Richtung stimmt. Die Richtung der Umkehr zurück zum Gott des Lebens. Und das geht immer.