Was willst du, Nikodemus?
Predigt am 26. Mai 2002 zu Johannes 3,1-8
1 Einer von den Pharisäern war Nikodemus, ein Mitglied des jüdischen Rates. 2 Eines Nachts kam er zu Jesus und sagte zu ihm: »Rabbi, wir wissen, dass Gott dich gesandt und dich als Lehrer bestätigt hat. Nur mit Gottes Hilfe kann jemand solche Wunder vollbringen, wie du sie tust.« 3 Jesus antwortete: »Amen, ich versichere dir: Nur wer von oben her geboren wird, kann Gottes neue Welt zu sehen bekommen.«
4 »Wie kann ein Mensch geboren werden, der schon ein Greis ist?« fragte Nikodemus. »Er kann doch nicht noch einmal in den Mutterschoss zurückkehren und ein zweites Mal auf die Welt kommen!«
5 Jesus sagte: »Amen, ich versichere dir: Nur wer von Wasser und Geist geboren wird, kann in Gottes neue Welt hineinkommen. 6 Was Menschen zur Welt bringen, ist und bleibt von menschlicher Art. Von geistlicher Art kann nur sein, was vom Geist Gottes geboren wird. 7 Wundere dich also nicht, dass ich zu dir sagte: ‚Ihr müsst alle von oben her geboren werden.‘ 8 Der Wind weht, wo es ihm gefällt. Du hörst ihn nur rauschen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht. So geheimnisvoll ist es auch, wenn ein Mensch vom Geist geboren wird.«
Da kommt einer nachts zu Jesus, so dass ihn keiner sehen soll. Er ist schließlich Mitglied im Hohen Rat, im obersten Leitungsorgan. Er möchte nicht unbedingt mit Jesus zusammen gesehen werden. Er hat schließlich einen Ruf zu verlieren. Er möchte nicht bekannt werden als Sympathisant von Jesus.
Aber Nikodemus ist ernsthaft ins Nachdenken gekommen. Das ist mehr, als man von den meisten sagen kann. Von den Wundern, die Jesus tat, fragt er zurück: wer ist das, der so etwas tun kann? Und das ist die richtige Frage.
In uns allen wohnt die Sehnsucht nach dem guten, heilen und gelingenden Leben. Aber die wenigsten denken wirklich darüber nach, was geschehen muss, damit damit es auch zu uns kommt. Da ist Nikodemus anders. Man kann sich vorstellen, dass er den ganzen langen Tag die Schriften studiert hat, um Klarheit zu finden. Und am Ende hat er sich durchgerungen, diesen Mann selbst aufzusuchen und zu fragen, Jesus, den er nicht versteht, und der doch solch einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn macht.
Aber kann man denn einfach zu einem hingehen und sagen – ja was soll man ihm sagen, was soll Nikodemus ihn fragen? Was ist der Name und die Bezeichnung für dieses Unbeschreibliche, das alle irgendwie suchen auf vielfältige Weise?
Und so beginnt Nikodemus, indem er Jesus seinen Respekt bezeugt: du bist ein Lehrer von Gott, wir wissen, dass Gott mit dir ist, das zeigen schon deine Wunder. So fängt man an, wenn man unsicher ist. Aber Jesus versteht ihn, noch ehe er richtig angefangen hat zu fragen und nimmt es ihm ab und gibt ihm die Antwort auf die Frage, die er noch gar nicht gestellt hat: »Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.«
Ja, das war die Frage: wie kann ich das Reich Gottes sehen? Jesus hat es auf den Punkt gebracht. Dieses Gespräch fängt da an, wo unsere Gespräche meistens aufhören. Es ist typisch für Jesus, dass er alle Gespräche sofort so umkrempelt, dass der Gesprächspartner das Thema ist. Nikodemus will diskutieren, aber er will sich selbst noch nicht zu sehr festlegen, deshalb kommt er nachts. Da merkt es keiner. Jesus hat das sofort durchschaut und gibt ihm zu verstehen: Gerade weil du schon so viel gemerkt hast, deshalb fordere ich dich heraus, die ganze Tragweite der Sache zu verstehen: es geht nicht um eine kleine Verbesserung hier und eine Erweiterung dort, dein ganzes Leben muss auf einem andern Grund stehen, anders kommst du mit Gott nicht weiter. Du musst von neuem geboren werden. Willst du das?
Verstehen Sie, ganz viele Menschen fühlen sich in ihrem Leben irgendwie nicht zu Hause. Sie merken, dass ihnen etwas fehlt. Dass sich eigentlich etwas ändern müsste. Die einen werden dann einfach nur unzufrieden und mürrisch, die anderen sagen: ich muss mal wieder etwas für mich tun und gehen ins Fitnessstudio oder zur Volkshochschule oder machen Yoga. Aber die Wahrheit ist, dass das nicht ausreicht. Das erleichtert alles für einige Zeit, aber es beantwortet die wirklichen Fragen in uns nicht.
Jesus sagt zu Nikodemus: du bist doch einer, dem man sagen kann, worum es geht. Es geht darum, das ganze Haus des Lebens auf einem neuen Fundament zu bauen. Von neuem geboren werden. Weniger wird dir nicht wirklich helfen.
Und Nikodemus versteht das, und er fragt genau das, was sich nahelegt: wie soll das möglich sein? Und erst recht bei einem wie mir. Ich bin schon alt. Ja, deine Jünger, das sind junge Leute, die können vielleicht noch mal neu anfangen, aber ich habe den größten Teil meines Lebens schon hinter mir.
Mit jedem Lebensjahr engen sich ja die Möglichkeiten ein, die man noch hat. Wenn man jung ist, dann sieht es aus, als ob einem die ganze Welt offensteht. Und dann fallen die ersten Entscheidungen: die Entscheidung für einen Beruf, für den Ort, wo man leben will, für einen Partner, für einen Freundeskreis, und auf einmal merkt man: da sind schon Jahre vergangen, und ich kann nicht einfach zurück an den Anfang und noch mal so tun, als ob alles noch offen wäre. Hätte ich vielleicht doch Lokomotivführer werden sollen? Das geht jetzt nicht mehr. Oder wär ich mit der Paula vielleicht doch glücklicher geworden? Aber die ist inzwischen anderweitig vergeben. Und hätte ich damals nur das Jahr im Ausland verbracht, als ich die Chance hatte, aber das ist jetzt auch vorbei. Und auf einmal scheint es, als ob die Zeit rasend schnell vorbeisaust.
Und eines Tages steht dann ein Mensch wie Nikodemus da und ist, na sagen wir mal, fünfzig oder sechzig Jahre alt und merkt: der entscheidende Teil meines Lebens ist gelaufen. Ich kann gar nicht mehr groß was ändern, ich habe nicht mehr die Kraft wie in meiner Jugend, ich kapiere nicht mehr so schnell Neues, mein Körper ist auch nicht mehr der gesündeste, was ich beruflich erreichen konnte, habe ich erreicht, und das Geld, was mir noch fehlt, werde ich jetzt auch nicht mehr verdienen. Und dann kommt einer wie Jesus und sagt: »noch mal neu anfangen!« – wie soll das gehen? Wir können uns nicht in ein Kind zurückverwandeln. Das ist vorbei. Was verlangst du da von mir?
Und Jesus antwortet: So war das nicht gemeint. Es geht um eine neue Geburt aus Wasser und Geist. Wasser steht für die Taufe – und Taufe ist ein Symbol dafür, dass etwas zu Ende geht, dass etwas stirbt und begraben wird. Damals hat man ja Menschen durch Untertauchen getauft, und das symbolisiert, wie der alte Adam ertränkt wird. Aber dann steigt ein neuer Mensch aus dem Wasser und empfängt den heiligen Geist, das Leben aus Gott.
Es geht nicht um eine Variante des normalen menschlichen Lebens, sondern um Leben, das seinen Ursprung direkt in Gott selbst hat. Das ist der Heilige Geist: Gott, wie er neues, unvergleichliches Leben schafft mitten in der alten, brüchig gewordenen Welt. Und sich dafür zu öffnen, das ist ein Schritt, der in der Jugend nicht schwerer oder leichter ist als mit 70 oder 80. Aber auf diesen Schritt kommt es an.
Und du, Nikodemus, musst dich fragen lassen, wo du hingehörst, ob du wirklich eingebunden sein willst in diese Machtclique, die das Volk unter Kontrolle hält, oder ob du diese scheinbare Sicherheit aufgibst, um ganz zu mir und zu Gott zu gehören, und dein Leben von daher zu gestalten. Nur wenn du diesen Schritt tust, wirst du verstehen.
Jesus sagt: ich vergleiche das mit dem Wind. Wind ist deutlich spürbar, an seiner Realität kann man nicht zweifeln. Und trotzdem überblicken wir nicht den ganzen Weg eines Windstoßes, sondern wir spüren ihn nur in dem Moment, wenn er uns trifft, und solange das nicht passiert, können wir nur sagen: da muss irgendwo Wind sein, ich höre ihn doch. Aber was Wind wirklich ist, das erleben wir nur dann, wenn wir den Windstoß abkriegen und mittendrin stehen.
Und solange du, Nikodemus, in sicherer Entfernung abwartest und beobachtest, was das wohl ist mit diesem Jesus, solange wirst du es auch nicht begreifen. Solange du dich mir nicht anvertraust, solange wirst du immer nur heimlich kommen, weil du von der Sache nicht wirklich überzeugt bist. Aber ich fordere dich heraus, deine Halbherzigkeit aufzugeben. Ich möchte nicht, dass dein Leben vergeht, ohne dass du dich entschieden hast, wo du hingehörst.
Das ist ja auch unter uns so: viele Menschen machen irgendwann einmal erstaunlich gute Erfahrungen mit Gott, mit Jesus Christus. Aber dann sollen sie sich dem auch wirklich anvertrauen und das für ihr ganzes Leben festhalten. Und wenn sie es nicht tun, dann haben sie den großen Neuanfang ihres Lebens umgewechselt in kleine Münze, wie bei Hans im Glück haben sie einen Goldklumpen bekommen, und am Ende ist nur noch ein Schleifstein übrig davon, und schließlich gar nichts mehr. Aber es war anders gemeint.
Und Jesus sagt: da mach ich nicht mit, ich muss in aller Freundlichkeit nein sagen, damit für dich, Nikodemus, noch eine Chance bleibt. Ich will nicht mitmachen, wenn du deine Träume und Hoffnungen begräbst. Du bist doch hergekommen mit einem Herzen, das sich nach einem Neuanfang mit Gott sehnt. Irgendwo wünscht sich das jeder Mensch: neu anfangen, nicht festgelegt sein auf die ganzen Entscheidungen der Vergangenheit, in eine andere Haut schlüpfen, eine neue Chance bekommen. Verrate diese Träume nicht, Gott will dir das wirklich geben, aber du darfst es dir nicht selbst kaputtmachen mit deiner Vorsicht und deinem Hin- und Hergerissensein.
Woher kommt dieses Zögern? Wir ahnen, dass der Geist Gottes gewaltige Erschütterungen mit sich bringt. Und wir merken deutlich: Wenn ich dem Raum gebe, da passiert etwas, das nicht mit dem zu vergleichen ist, was ich kenne. Ich weiß nicht, wohin es mich bringen wird. Je mehr man gewöhnt ist, sein Leben halbwegs im Griff zu haben, um so mehr macht das Angst. Das geht nicht immer so schiedlich-friedlich ab zwischen dem Alten und dem Neuen. Sondern das gibt Konflikte und Erschütterungen. Die Pfingstgeschichte erzählt ja davon, wie der Heilige Geist mit Macht unter den Jüngern und in ganz Jerusalem wirkt, wie sie in neuen Sprachen reden, wie sie in Bewegung geraten und merken: hier ist Gott ganz deutlich unter uns präsent. Und wie das einen Menschenauflauf gibt und die ganze Stadt erschüttert wird und in Aufregung gerät.
So wird Gott immer wieder handeln. Er wird nicht zulassen, dass das alles nur eine Erinnerung an eine ferne Vergangenheit bleibt. Immer wieder in der Geschichte der Christenheit hat er dafür gesorgt, dass der Heilige Geist die Menschen in Bewegung bringt. Eine Zeitlang kann er vertrieben werden, aber nicht für immer. Er kommt wieder.
- Es ist Zeit, sich dafür zu öffnen.
- Es ist Zeit, sich darauf einzustellen.
- Es ist Zeit, sich darauf zu freuen.