Meinem Knecht wird es gelingen!
Predigt am 29. März 2002 (Karfreitag) zu Jesaja 52,13 – 53,12
13 Der HERR sagt: »Gebt acht: Meinem Bevollmächtigten wird gelingen, wozu ich ihn bestellt habe; er wird zu großem Ansehen und höchsten Ehren gelangen. 14 Viele haben sich entsetzt von ihm abgewandt, so entstellt war er. Er hatte keine Ähnlichkeit mehr mit einem Menschen. 15 Doch nun werden viele Völker über ihn staunen, sogar ihren Königen wird es die Sprache verschlagen. Was niemals zuvor geschehen ist, das erleben sie jetzt; wovon sie noch nie etwas gehört haben, das sehen sie mit eigenen Augen.«
53 1 Wer hätte geglaubt, was uns da berichtet wurde? Wer hätte es für möglich gehalten, dass die Macht des HERRN sich auf solche Weise offenbaren würde? 2 Denn sein Bevollmächtigter wuchs auf wie ein kümmerlicher Spross aus dürrem Boden. So wollte es der HERR. Er war weder schön noch stattlich, wir fanden nichts Anziehendes an ihm. 3 Alle verachteten und mieden ihn; denn er war von Schmerzen und Krankheit gezeichnet. Voller Abscheu wandten wir uns von ihm ab. Wir rechneten nicht mehr mit ihm. 4 In Wahrheit aber hat er die Krankheiten auf sich genommen, die für uns bestimmt waren, und die Schmerzen erlitten, die wir verdient hatten. Wir meinten, Gott habe ihn gestraft und geschlagen; 5 doch wegen unserer Schuld wurde er gequält und wegen unseres Ungehorsams geschlagen. Die Strafe für unsere Schuld traf ihn, und wir sind gerettet. Er wurde verwundet, und wir sind heil geworden.
6 Wir alle waren wie Schafe, die sich verlaufen haben; jeder ging seinen eigenen Weg. Ihm aber hat der HERR unsere ganze Schuld aufgeladen. 7 Er wurde misshandelt, aber er trug es, ohne zu klagen. Wie ein Lamm, wenn es zum Schlachten geführt wird, wie ein Schaf, wenn es geschoren wird, duldete er alles schweigend, ohne zu klagen. 8 Mitten in der Zeit seiner Haft und seines Gerichtsverfahrens ereilte ihn der Tod. Weil sein Volk so große Schuld auf sich geladen hatte, wurde sein Leben ausgelöscht. Wer von den Menschen dieser Generation macht sich darüber Gedanken? 9 Sie begruben ihn zwischen Verbrechern, mitten unter den Ausgestoßenen, obwohl er kein Unrecht getan hatte und nie ein unwahres Wort aus seinem Mund gekommen war.
10 Aber der HERR wollte ihn leiden lassen und zerschlagen. Weil er sein Leben als Opfer für die Schuld der anderen dahingab, wird er wieder zum Leben erweckt und wird Nachkommen haben. Durch ihn wird der HERR das Werk vollbringen, an dem er Freude hat. 11 Nachdem er so viel gelitten hat, wird er wieder das Licht sehen und sich an dessen Anblick sättigen. Von ihm sagt der HERR: »Mein Bevollmächtigter hat eine Erkenntnis gewonnen, durch die er, der Gerechte, vielen Heil und Gerechtigkeit bringt. Alle ihre Vergehen nimmt er auf sich. 12 Ich will ihn zu den Großen rechnen, und mit den Mächtigen soll er sich die Beute teilen. Denn er ging in den Tod und ließ sich unter die Verbrecher zählen. So trug er die Strafe für viele und trat für die Schuldigen ein.«
Erinnerungen an diesen Abschnitt aus dem Buch des Propheten Jesaja tauchen immer wieder im Mund Jesu auf, wenn er über sein Leiden spricht. z.B. wenn er von den »Vielen« redet, für die er leiden wird. Oder davon, dass er zu den Verbrechern gerechnet werden wird.
Jesus hat seinen Weg immer wieder im Licht der Heiligen Schriften durchdacht und verstanden. Und gerade diese Stelle hat ihm wohl vor allem geholfen, auch seinen Weg in Leiden und Tod hinein anzunehmen. Auch die ersten Christen haben schnell die erstaunlichen Parallelen gesehen zwischen dem Schicksal Jesu und dem, was hier beschrieben wird.
Das sind ja erst einmal dunkle Verse, von denen wir nicht alles verstehen. Wer war dieser Mensch, der Bevollmächtigte, der Knecht, der die Strafe auf sich nahm, die eigentlich andere zu tragen hatten, und Gerechtigkeit für viele schafft? Welches Schicksal ereilte ihn damals?
Soviel ist zu erkennen: es geht um einen Menschen, der auf der Schattenseite des Lebens lebt. Es war in der Zeit, als das Volk Israel in Babylon gefangen war. Da war einer, der sein Leben lang geplagt war, von Krankheit, von Schmerzen, eine hässliche Gestalt, die keiner ansehen mochte. Ein Mensch wie ein kümmerlicher dürrer Zweig, und die Leute sagten: was haben wir mit dem zu tun? Auf dem liegt Gottes Fluch. Irgendeine schwere Sünde wird dahinterstecken, wenn sein Leben dermaßen zerstört ist.
So lebte er ein quälendes Leben am Rand der Gesellschaft, eine Figur, von der man sich abwandte, und die wohl trotzdem keiner übersehen hat. Aber in ihm drin war Geduld und die Bereitschaft, sein Los ohne Klagen zu tragen und anzunehmen. Er wurde nicht bitter und vorwurfsvoll, er wurde auch nicht anspruchsvoll und geltungsbedürftig, so als müssten sich alle besonders um ihn kümmern, er trug einfach sein Schicksal und blieb geduldig und demütig.
Eines Tages geschah etwas Furchtbares. Was es genau war, das ist fast nicht mehr zu erkennen. Waren es die babylonischen Sicherheitskräfte oder waren es die eigenen Leute, die ihn quälten und am Ende umbrachten? Sie schlugen und folterten ihn, aber er blieb stumm bis zuletzt. Es scheint auch irgendeine Art von Gerichtsverfahren gegeben zu haben. Vielleicht war alles ein schreckliches Missverständnis. Vielleicht wurde er aber auch beseitigt, weil er eine Botschaft Gottes hatte, eine Botschaft gegen Götzendienst, gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit.
Auf jeden Fall, am Ende war er tot, und sie begruben ihn irgendwo, hinten an der Friedhofsmauer, wo die Verbrecher damals verscharrt wurden. Und damit schien die Sache erledigt zu sein, und man wollte es so schnell wie möglich vergessen.
Aber die Geschichte geht weiter, und zwar auf eine völlig ungeahnte Weise. Da wäre keiner drauf gekommen, heißt es. So aufregend ist das, dass die Menschen, die ihn vorher verachtet haben und vielleicht auch schuld an seinem Tode waren, hinterher völlig anders über ihn denken. Man sprach von ihm als von dem „Knecht Gottes“, der in Gottes Auftrag all das tragen sollte und damit Gottes Plan ausgeführt hat.
Und jetzt fragen Sie, was da eigentlich passiert ist. Ja, das wüsste ich auch gern. Aber der Bibeltext bleibt hier merkwürdig dunkel. Was da passiert ist, ist nicht mehr zu erkennen. Wir wissen noch nicht einmal, ob das ein tatsächlicher Vorgang in der damaligen Zeit war, oder ob es eine Prophetie ist, eine Ankündigung, was einmal passieren wird. Vielleicht auch eine Mischung aus beidem. An dieser Stelle bleibt eine merkwürdige Unschärfe. Da werden wir noch drüber nachdenken.
Aber was ganz deutlich zu erkennen ist, das sind die Folgen dieses völlig unerwarteten Ereignisses. Auf einmal gehen den Leuten die Augen auf. Jetzt sagen sie: der ist ja gar nicht an seiner Schuld gestorben. Es war unsere Schuld, dass er so leben und so sterben musste. Es ist völlig falsch, wenn wir sagen: das ist sein Problem gewesen. In Wirklichkeit war es unser Problem. Vielleicht verstanden die Juden damals in der Verbannung in Babylon: Er musste sterben, weil wir nicht besser zusammengehalten haben. Oder: er musste sterben, weil er als einziger von uns an Gott festhielt und sich den babylonischen Göttern nicht gebeugt hat. Oder: wir haben Aufstandspläne geschmiedet ohne Gott, und ihn traf der Verdacht, ja vielleicht hat irgendwer ihn bewusst in die Hände der Geheimpolizei fallen lassen, um sich selbst zu retten, und er hat das akzeptiert und sich nicht verteidigt, und so kamen wir davon. Aber das sind letztlich nur Vermutungen, die uns helfen, das alles etwas besser zu verstehen.
Wichtig ist: die Menschen, die hier im Buch Jesaja zu Wort kommen, die haben eine lebensverändernde Einsicht hinter sich. Sie haben verstanden, dass sich in diesem Tod ihre eigenen Probleme spiegeln. Über diesen Mann ist etwas hereingebrochen, was sie eigentlich alle betroffen hat.
Es ist ja in der Welt so, dass nichts verschwindet. Auch unsere Taten, die guten und die bösen, gehen nicht verloren, sondern begleiten uns weiter. Sie wirken weiter. Manchmal meldet sich eine ganz bestimmte Tat plötzlich wieder, meistens aber reden unsere Taten einfach nur mit im großen Chor der Taten einer ganzen Gesellschaft. Wir hören ihre Stimme kaum noch heraus, aber sie sind nicht verschwunden. Gott hat es so eingerichtet. Und nun haben wir Möglichkeiten, uns die Folgen unserer Taten auf Abstand zu halten. Nicht in der Ewigkeit, und auch hier auf der Erde meistens nicht auf Dauer. Aber wir können eine Zeitlang dafür sorgen, dass die Widersprüche nicht so schnell zu uns zurückkommen.
Deswegen hat jede Gesellschaft ihre Dreckecken und Problemzonen, wo sie das Leid, die Probleme und Widersprüche konzentriert. Das sind die Gefängnisse, Krankenhäuser und Heime, die Müllhalden und Endlager, die Bordelle und Kneipen, die Büros der Kredithaie und die Sammelunterkünfte der Fremden und noch vieles mehr. Und wer da landet, der ist nicht immer unschuldiges Opfer, der hat sich da nicht selten selbst hinmanövriert, aber er leidet unter dem, was die ganze Gesellschaft produziert. Die Starken schützen sich davor, und die Schwächsten, die sich nicht so gut wehren können, die trifft es.
Und damit das ganze Elend dort uns nicht überflutet, deshalb bezahlen wir Wärter und Polizisten und Sozialarbeiter und Anti-Terror-Spezialisten und Müllmänner und Pfleger und noch andere solche Berufe, damit sie da einigermaßen Ordnung halten in den Unglückszonen. Aber zu viel wollen wir dafür eigentlich auch nicht bezahlen.
Der Knecht Gottes lebt auch in so einem Unglücksrevier, aber er ist nicht durch seine Schuld da hineingeraten. Und er versucht nicht, um jeden Preis da irgendwie wegzukommen, sondern er akzeptiert das, er nimmt es auf sich, er beklagt sich nicht. Und so sorgt er dafür, dass Gott dort zum Zuge kommen kann.
Anscheinend ist es das Besondere an dem Knecht Gottes, dass er dieses unverdiente Los anders trägt als andere es getan hätten. Er trägt es mit großer Geduld und Leidensbereitschaft. Er lehnt sich nicht auf dagegen, er läßt sich nicht zu Unrecht oder Unwahrheit verleiten. Und so ist Gottes Plan durch ihn zum Ziel gekommen.
Was war das für ein Plan? Es ging dabei um die Sünden und Verschuldungen aller. All das, was nicht aus der Welt verschwindet und dann in den Problemzonen konzentriert wird. Aber das war eigentlich nicht Gottes Absicht! Gott wollte ja, dass wir die Folgen unserer Taten spüren, damit wir verstehen, was wir tun. So wie sie neulich in Washington einen Hausbesitzer, der seine Mieter für gutes Geld in einem ganz verfallenen Haus wohnen ließ, verurteilt haben, drei Monate in diesem Haus zu wohnen. Damit er spürt, was er da eigentlich macht. So will Gott, dass wir an den Folgen unserer Taten spüren, auf was für einem Weg wir sind.
Nur, es ist im Lauf der Menschheitsgeschichte so viel zusammengekommen an Bosheit, Gewalt und Unterdrückung, und alle sind da irgendwie hineinverwickelt, wenn das jetzt alles zu uns zurückkommt, das könnten wir nicht überleben, es würde uns zerstören. Und deshalb hat Gott einen gesucht, der das an unserer Stelle trägt. Und wenn Menschen es sehen, dann erkennen sie wenigstens an diesem anderen und seinem Schicksal, was sie angerichtet haben.
Das ist der Knecht Gottes.
»Die Strafe liegt auf ihm auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt« heißt es. Und das alles wird bestätigt durch ein Gotteswort am Anfang und am Ende: »Meinem Knecht wird es gelingen … Mein Knecht, der Gerechte, wird den Vielen Gerechtigkeit schaffen.«
Und nun kommt die Frage: wer war das? Schon im Neuen Testament gibt es eine Stelle, wo sich zwei über diesen Text unterhalten, und der eine fragt: wen meint der Prophet, sich selbst? Oder einen andern? Und als ob es so sein sollte ist ausgerechnet an dieser Stelle auch die Textüberlieferung nicht vollständig, da scheinen Worte zu fehlen und Buchstaben vertauscht zu sein. Es bleibt rätselhaft.
Und ich kann mir das alles nur so erklären, dass hier der Geist Gottes Jahrhunderte vor Jesus doch schon seine Gestalt angekündigt hat, so, wie es die Menschen damals mit ihren Gedanken erfassen konnten. Gottes Geist hat Erfahrungen des Volkes Israel in der Babylonischen Gefangenschaft aufgegriffen und umgeformt und daraus durch einen prophetischen Menschen ein Bild geschaffen, das die Gestalt Jesu überraschend deutlich beschreibt und deutet. Sechs Jahrhunderte vor Jesus hat Gott schon die Gedanken aufschreiben lassen, mit denen man die Mission Jesu verstehen kann!
Was ist also geschehen, als Jesus starb? Er hat als Knecht Gottes all die Zerstörung auf sich gezogen, die wir produzieren. Er hat den Hass und die Ablehnung auf sich gezogen, die entstehen, wenn wir unser Leben ohne Gott meistern wollen. Und er hat den Schmerz erlitten, den wir immer wieder produzieren, aber am liebsten weit von uns weg auf andere schieben. Das alles hat Jesus getragen, und er hat es auf eine Weise getragen, dass es geheilt werden konnte.
In dem Moment, wo Jesus, der Knecht Gottes, sein Kreuz einfach nur erduldete, als er all das ertrug, was er nicht verschuldet hatte, die Suppe auslöffelte, die er nicht eingebrockt hatte, zusammenbrach unter der Last, die wir alle ihm aufladen – als er sich opferte für alle andern und ihr Los auf sich nahm – und dabei doch nicht den Weg der Trennung von Gott ging – da war der Weg zu Gott wieder frei. Jesus hat es alles auf sich genommen, getragen und zu Gott gebracht. Zum ersten Mal war einer bereit, all das Dunkle und Schreckliche allein Gott anzuvertrauen. Und als er so die Schuld und Zerstörung der Welt demütig Gott anvertraute, da nahm Gott sie fort aus der Welt und heilte.
Es hat ihn einen schrecklichen Preis gekostet. Billiger war die Heilung nicht zu haben. Aber jetzt, wo diese Last von der Welt genommen ist, jetzt ist auch Spielraum dafür, dass wir die Augen nicht mehr verschließen vor den Folgen unserer Taten, dass wir das anschauen und es nicht mehr wegschieben. Dass wir aussteigen aus diesem mörderischen Verdrängungssystem, dass wir frei werden davon.
Das dreht die ganze Sichtweise um. Wo alle ihr Heil in der Verdrängung des Leids sehen, da wissen Jesus und seine Leute, dass es getragen und aus der Welt geschafft werden kann. Das ist die Rettung. Wir gehören zu denen, die von Gott alles zu erwarten haben. Wir gehören zu denen, die Heilung in die zerstörerische Welt bringen können. Wir gehören zu denen, die mit Gottes Frieden beschenkt sind und die diesen Frieden weitergeben können.