Der Ring und sein Geheimnis
Predigt im Besonderen Gottesdienst am 10. Februar 2002 zu Matthäus 4,1-11 und zum Roman „Der Herr der Ringe“ von J.R.R. Tolkien
Der Predigt gingen im Gottesdienst eine Theaterszene („Der dunkle Herrscher im Kinderzimmer“) und zwei Leseszenen voraus. In den Leseszenen wurde die Handlung der Romantrilogie „Der Herr der Ringe“ konzentriert zusammengefasst.
1 Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde. 2 Und da er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn.
3 Und der Versucher trat zu ihm und sprach: Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden.
4 Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben (5. Mose 8,3): »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.«
5 Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels 6 und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben (Psalm 91,11-12): »Er wird seinen Engeln deinetwegen Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.« 7 Da sprach Jesus zu ihm: Wiederum steht auch geschrieben (5. Mose 6,16): »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.«
8 Darauf führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit 9 und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. 10 Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben (5. Mose 6,13): »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.«
11 Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel zu ihm und dienten ihm.
Die Menschen in dem Roman »Der Herr der Ringe« leben unter der Drohung des Bösen: er duldet neben sich nichts, was von ihm unabhängig wäre. Und alles, was unter seine Herrschaft gerät, wird besudelt und seiner Schönheit beraubt. In der Beschreibung des Feindes stimmen Tolkien und die Bibel am stärksten überein. Der Böse ist ein Feind der Freiheit und ein Feind der Schönheit. Er ist voll Wut und Hass, und gleichzeitig voller Angst, weil er im tiefsten selbst an seinem Sieg zweifelt. Aber nach außen scheint das Böse in der Welt übermächtig. Und viele lassen sich davon beeindrucken.
Aber in Wirklichkeit steht der Sieg des Bösen überhaupt nicht fest. In Wirklichkeit hängt alles davon ab, wie die Menschen und Elben, die Zwerge und die Hobbits sich verhalten: werden sie, jeder an seinem Platz, ihren Auftrag erfüllen? Oder werden sie verzagen und so dem dunklen Herrscher in die Hände spielen?
Es ist gerade ihre positive Lebenseinstellung, die die Hobbits stark macht, wenn sie erst einmal angefangen haben zu kämpfen. Eigentlich lieben sie alles Schöne und Gemütliche: reichliches Essen und eine gute Pfeife, Geschichten und Lieder aus alter Zeit, einen geruhsamen Schlaf in einem weichen Bett und die Schönheit der Schöpfung. Eigentlich sind sie überhaupt nicht auf Abenteuer aus. Aber wenn sie sich erst einmal aufgerafft haben, dann sind sie in ihrer unschuldigen Freude nur schwer vom Bösen zu kontrollieren.
Es gibt eine Szene, wo Frodo in die Hände der Orks gefallen ist und sein Gefährte Sam ihn in der Burg der Orks sucht. Sam hat sich verlaufen und ist völlig entmutigt. Er sieht keine Möglichkeit mehr, Frodo zu finden. Und was macht er? Ohne zu wissen, warum, beginnt er zu singen. Irgendwelche Verse und Lieder. Und am Ende wird ein Lied voller Hoffnung daraus. Und daran erkennt Frodo ihn, er antwortet ihm, und so finden sie wieder zusammen.
Wer die entsprechende Stelle aus der Apostelgeschichte kennt, dem fällt dabei die Geschichte ein, wie Paulus und Silas im Gefängnis von Philippi sitzen, zerschlagen und hungrig, aber um Mitternacht beginnen sie Loblieder zu singen, und das ist der Anfang der Freiheit für sie. So geht es auch im »Herrn der Ringe« immer wieder darum, wie die Helden Anschluss gewinnen an die Kraft des Lebens. Nur so können sie die Hoffnung aufrechterhalten.
Und dabei helfen ihnen die kleinen unschuldigen Freuden ebenso wie ihre Neugierde und eine tiefe Überzeugung, dass hinter allem ein gütiges Schicksal über sie wacht. Diese Hoffnung wird nie wirklich ausgesprochen und begründet, es ist, als ob sie geheim gehalten werden müsste, damit niemand sie zerstören kann. Aber im Verborgenen gibt es gute Mächte, deren Pläne auch für Sauron nicht durchschaubar sind und die in höchster Gefahr einen Weg zeigen.
Gandalf, der weise Zauberer repräsentiert diese Hoffnung wie kein anderer, und es ist Frodos Stärke, dass er auf Gandalfs Rat hört und ihn nicht in den Wind schlägt wie viele andere. Trotzdem ist nicht Gandalf die eigentliche Quelle dieser Hoffnung. Auch Gandalf ist nur ein Gesandter. Aber über ihn haben die Helden des Romans Anschluss an das, was wir in der christlichen Sprache vielleicht »die Kräfte des Himmels« nennen würden.
Und wenn es am Ende gelingt, Sauron zu besiegen und Mittelerde von seiner Drohung zu befreien, dann ist das möglich geworden durch diese Kräfte des Himmels in Verbindung mit dem Mut der Hobbits und ihrer Gefährten.
Es wird deutlich, dass diese schwere Aufgabe auch von kleinen, schwachen Wesen gelöst werden kann, wenn sie nur treu und tapfer sind. Weil es gar nicht so sehr auf ihre Stärke ankommt, sondern viel mehr auf ihre Bereitschaft zum Ertragen von Mühen und Schmerzen, und darauf, dass sie sich im richtigen Moment wieder an die Lebenskräfte anschließen und auf guten Rat hören.
Auch das erinnert sehr an den christlichen Satz, dass jeder durch den Glauben Berge versetzen kann. Denn nach biblischer Überzeugung ist Glaube kein Optimismus wider allen Augenschein, sondern Glaube ist ein Festhalten an Gott und eine ganz feste Verbundenheit mit ihm. Und dadurch kommt die entscheidende Kraft in die Welt und lässt Menschen erstaunliche Dinge erreichen.
So kann man in den Büchern Tolkiens noch viele andere christliche Motive entdecken. Nicht zuletzt den Leidensweg Frodos, den er am Ende fast ganz allein gehen muss, nur gemeinsam mit Sam, im Wissen, dass es sein Auftrag ist, nur auf sich gestellt, ohne Hilfe von Gandalf – so wie Jesus sich entschloss, seinen letzten Weg zu gehen, und er musste ihn allein gehen, ohne die Hilfe des Vaters, der ihm sonst immer mit seinem Rat zur Seite gestanden hatte.
Aber Frodo ist nicht ein verkappter Jesus. Er schafft es zuletzt nicht mehr, der Versuchung des Rings zu widerstehen. Er ist eben nur ein kleiner, tapferer Hobbit, der Fehler macht und auch versagt. Aber die Botschaft ist doch: auch der Kleinste kann die Welt retten, wenn er mit den Kräften des Himmels zusammenarbeitet und die Schritte tut, zu denen er berufen ist und die jeweils in seiner Macht stehen. Und wenn er versagt, nachdem er getan hat, was er konnte, dann wird eine gütige Hand das Werk zu Ende führen.
Auch darin stimmen Tolkien und die Bibel überein: die Welt ist nicht sich selbst überlassen und schon gar nicht den Plänen des Bösen; auf verborgene Weise regiert in ihr immer noch die Güte des Schöpfers, auch wenn Irrtum, Lüge und Gewalt immer wieder Schreckliches anrichten. Und wenn jemand in der Hoffnung auf diese verborgenen Macht handelt und sich nicht beirren lässt, dann wird es zu einem guten Ende führen.
Dass eine Geschichte wie der »Herr der Ringe« nun auch noch durch den Film weltweit die Herzen von Menschen erreicht, gehört auch zu den verborgenen Wegen Gottes in unserer Welt. Da werden in vielen Menschen Denkwege vorbereitet, die es ihnen leichter machen, das Evangelium zu verstehen. Da beginnen Menschen etwas davon zu ahnen, dass wirkliche Stärke nicht aus Ringen der Macht kommt, nicht aus der äußeren Verfügungsgewalt, die einer hat. Die wirkliche Stärke, die zuletzt siegt, kommt aus der Quelle in unserem Innern, wo wir Anschluss haben an die Kraft Gottes und den Geist Jesu. Und so wie Jesus der Versuchung widerstand und allein aus dieser Quelle leben wollte, so ist es Aufgabe jedes Menschen, der Versuchung zu widerstehen und von der göttlichen Gegenwart zu leben, zu der Jesus uns wieder Zugang verschafft hat.
Da gibt es nämlich einen Unterschied zwischen der Mythologie, die Tolkien geschaffen hat, und der Geschichte Jesu: Jesus hat ein Datum in der realen Geschichte unserer Welt; in ihm sind die Märchen und Geschichten wahr geworden. In all den Sagen und Mythen der Völker — und auch der »Herr der Ringe« gehört dazu — spiegelt sich ja die Ahnung von der Versöhnung zwischen Gott und der Welt und zugleich die Sehnsucht danach. Aber in Jesus ist diese Sehnsucht wahr geworden. Und die Wahrheit drängt nach Verwirklichung in unserer realen Welt, bis heute, und sie sagt uns, dass es unsere Berufung ist, daran mitzuarbeiten.
Das ist die Linie, die wir überschreiten sollen: von der Freude und Begeisterung über eine Geschichte, die das Herz bewegt, weil sie so viel Wahrheit und Schönheit enthält, hin zu der Entdeckung der realen Welt, in der auch ein Sauron alles verderben möchte, wo es auch Orks gibt, die um sich herum Schmutz und Gemeinheit verbreiten, wo aber auch der Plan Gottes schon längst durchgeführt wird und wo eine Berufung auf uns wartet.
Bei Tolkien kann man lernen, dass Helden nicht die Muskelmänner sind, die Haudraufs, die keine Furcht kennen. Die wirklichen Helden sind die, die sich sehr wohl fürchten, die aber, wenn es sein muss, mit ihrer Furcht und ihrer Trägheit kämpfen und sie besiegen und dann auch in der äußeren Welt unerwartet große Dinge tun. Genau das ist das Muster, das wir schon von der Versuchung Jesu her kennen.
Und während wir versuchen, die Risiken zu vermeiden und es uns wohl sein zu lassen in unserer reichen Gesellschaft, bleibt dennoch das Körnchen Mut am Leben. Wie tief versteckt es auch sein mag, jeder von uns ist berufen, Apathie und Angst zu überwinden und eine heldenhafte Rolle in den Szenen des Lebens zu spielen.
Der Lauf der Welt ruht in der Hand Gottes; aber wie er im Einzelnen aussehen wird, das hängt nicht zuletzt von unserem Mut und von unseren Entscheidungen ab. Wir sind tatsächlich Teil einer großen Geschichte und schreiben alle an ihr mit. Niemand anders wird diese Rolle an unserer Stelle übernehmen. Werden wir unsere Berufung annehmen und unseren Auftrag erfüllen?