Authentisch leben macht anziehend
Predigt am 24. Juni 2001 zu Jesaja 55,1-5
1 »Her, wer Durst hat! Hier gibt es Wasser! Auch wer kein Geld hat, kann kommen! Kauft euch zu essen! Es kostet nichts! Kommt, Leute, kauft Wein und Milch! Zahlen braucht ihr nicht! 2 Warum gebt ihr euer Geld aus für Brot, das nichts taugt, und euren sauer verdienten Lohn für Nahrung, die nicht satt macht? Hört doch auf mich, dann habt ihr es gut und könnt euch an den erlesensten Speisen satt essen! 3 Hört doch, kommt zu mir! Hört auf mich, dann werdet ihr leben!
Ich will mit euch einen unauflöslichen Bund schließen. Die Zusagen, die ich David gegeben habe, sind nicht ungültig geworden: an euch werde ich sie erfüllen. 4 Ihn habe ich einst zum Herrscher über viele Völker gemacht, damit sie durch ihn meine Macht erkennen. 5 Auch durch euch sollen jetzt fremde Völker mich kennenlernen: Ihr werdet Völker rufen, die ihr nicht kennt; und Völker, die euch nicht kennen, werden begierig zu euch kommen, wenn sie sehen, was ich an euch tue. Denn ich, der heilige Gott Israels, euer Gott, bringe euch zu hohen Ehren.«
Es gehört zu den traurigsten Erfahrungen mit Menschen, dass sie nicht gut für sich selbst sorgen können, obwohl sie sehr viel nachdenken über sich selbst und ihre Wünsche. Aber vielleicht gerade deswegen bleiben sie ganz häufig unzufrieden. Schlimm ist nicht, dass Menschen immer auf ihren eigenen Vorteil aus sind, wirklich schlimm ist, dass sie nicht wissen, was ihr Vorteil in Wirklichkeit ist. Den meisten Schaden richtet an, dass Menschen ihren Vorteil auf dem falschen Weg suchen.
Deshalb fragt Gott durch den Propheten: Warum gebt ihr euer Geld aus für Essen, das nicht satt macht? Warum zahlt ihr Unsummen für Dinge, die euch leer zurücklassen? Warum immer Fast Food? Ihr könntet viel besseres haben, und zwar umsonst!
An der Sucht in jeder Form ist es am deutlichsten, wie Menschen oft einen schrecklichen Preis bezahlen, und am Ende haben sie gar nichts davon. Wie Menschen sich mit aller Gewalt Geld beschaffen, wie sie stehlen und lügen und sich kaputtmachen, wie sie ihre Gesundheit ruinieren, und wofür? Welche Sucht schenkt Menschen eine wirkliche Freude?
Gott ruft uns zum Leben, zur Freude, die er gibt, die er umsonst gibt, und er ruft uns zurück von den Wegen, auf denen wir mit viel Aufwand am Ende nichts erlangen. Wenn wir ein Gespür dafür hätten, was echt ist und uns wirklich erfreut und zutiefst zufrieden macht, dann gäbe es nicht mehr so viel Menschen, denen es eigentlich gut geht, die alles haben, was ein Mensch zum Leben braucht, und die trotzdem unzufrieden und schlecht gelaunt durchs Leben laufen.
Wenn wir glauben würden, dass Gott uns als ein unvergleichliches Einzelstück geschaffen hat, dann brauchten wir nicht so viele Leute, die uns sagen, wie man in diesem Jahr leben und aussehen muss.
Wenn Jesus sagt: »Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, wird nicht hineinkommen«, dann meint er damit, dass Kinder noch einen spontanen, echten Zugang zum Leben haben. Wenn sie ein kleines Tier sehen, dann müssen sie nicht erst nachdenken, ob es ihnen gefällt. Sie denken auch nicht darüber nach, ob es gefährlich ist. Sie haben auch noch nicht gelernt, dass man Regenwürmer nicht in den Mund steckt. Ein Kind erlebt die Welt noch ziemlich spontan und unreflektiert. Es freut sich und es hat Angst vor den Dingen selber, es hat noch nicht gelernt, sich über die »richtigen« Dinge zu freuen und die »richtigen« Dinge zu verabscheuen.
Aber weil wir als Erwachsene zu uns selbst kein gutes Verhältnis haben, deshalb merken wir so wenig, was für uns gut ist und was nicht, und dann wenden wir so viel Energie auf für Dinge, die angeblich gut und wichtig sind und die man unbedingt machen oder haben muss. Und wir trauen uns nicht, das zu tun, was uns wirklich stärkt.
Vor 70 Jahren zog in Amerika ein 17jähriger junger Mann allein los und wanderte durch die Felsenberge und Canyons von Arizona. Damals war das eine Einöde, in die sich kaum mal ein Weißer verirrte. Es gab noch nicht mal Karten von dieser Gegend. Everett Ruess, so hieß der junge Mann, stieg in menschenleere Schluchten hinab, durchwatete reißende Bäche, schlief im Dreck und hungerte tagelang. Aber in seinen Briefen und Tagebüchern spiegelt sich die Begeisterung über die Schönheit dieses einsamen Landstrichs, er schreibt über Rodeos und das Leben der Indianer, er setzt sich zu den Cowboys ans Lagerfeuer und hört auf die Lieder der Navajos, er versucht, die faszinierende Landschaft in Holzschnitten und Ölgemälden einzufangen, und er schreibt Gedichte über sein Leben zwischen Steilhängen und Pinienwäldern. Er ist neugierig auf das, was ist, und dafür nimmt er all die Gefahren und Entbehrungen auf sich. Als er zwanzig ist, verschwindet er spurlos – keiner weiß, ob er verunglückt ist oder freiwillig untergetaucht.
Everett Ruess war damals ein Außenseiter, vielleicht der erste, der die Schönheit eines Landes sah, das bei den meisten Weißen nur als heiße, staubige Einöde galt. Weil er sich traute, etwas zu sehen, was kein anderer bis dahin so gesehen hatte, entdeckten auch andere diese Schönheit. Heute kennen wir alle diese grandiose Landschaft: von den Werbeplakaten für starke amerikanische Zigaretten. Wir haben sie so oft gesehen, dass wir sie nur flüchtig mit dem Blick streifen und sie nicht mehr erleben. Und wir sollen ja auch glauben, dass es niemand mehr nötig hat, selbst loszuziehen und all die Mühe auf sich zu nehmen, um davorzustehen und überwältigt und verändert zu werden von dieser Herrlichkeit – es reicht doch, ein Päckchen Zigaretten zu kaufen, da ist der Geschmack von Freiheit und Abenteuer schließlich auch drin. Und sinnigerweise wird dann auch noch behauptet, das wäre das Echte.
Verstehen Sie den Unterschied? Das Päckchen Zigaretten kostet etwas, wenn auch nicht viel Geld, so doch viel Gesundheit. Was Everett Ruess erlebt hat, war umsonst, denn er hat die Mühen und Gefahren und Entbehrungen nie als einen Preis erlebt, den er bezahlen musste. Aus seinen Briefen spürt man, dass da einer die Fähigkeit hatte, sich beschenken zu lassen, einfach das Leben und das, was ist, als Geschenk entgegenzunehmen und sich daran zu freuen. Wenn wir diese Fähigkeit nicht haben, dann kommen wir aus dem teuersten Erlebnisurlaub leer und unzufrieden zurück. Wir haben dann vielleicht aufregende Tage gehabt, aber wir sind nicht in der Tiefe berührt worden, wir sind weder uns selbst noch Gott begegnet.
Ich erzähle das so ausführlich, weil es auch bei Jesaja genau darum geht, dass wir in unserer Mitte leben und nicht am Rand, dass wir uns auf das konzentrieren, was uns wirklich stärkt und nicht auf das, was viel kostet und uns am Ende leer und ausgebrannt zurücklässt.
Jesaja sprach zu Menschen, die aus Israel in die Fremde verschleppt worden waren, in die Babylonische Gefangenschaft, und jetzt als kümmerliche Minderheit in einer fremden Kultur lebten. Ihnen war alles entrissen worden, was bis dahin ihr Leben ausgemacht hatte: die Heimat, die politische Macht, der Glanz der Stadt Jerusalem, der Prunk der Tempelgottesdienste. Sie waren arm und leer geworden, gedemütigt und mit dem Überleben beschäftigt. Und Jesaja versucht, ihnen deutlich zu machen, dass dies trotz allem eine hoffnungsvolle Lage ist, wenn sie jetzt zurückfinden zu dem, was ein Mensch wirklich braucht.
Als sie reich und mächtig waren, da lebten sie mit ganzer Energie in den Randbezirken des Lebens, in dem Äußeren, in dem, was man tun und bewegen kann. Diese Bezirke sind an sich nichts Schlechtes, aber sie sind nicht geeignet, unsere Seele zu rufen und unseren Geist herauszufordern. Wir können so viele Dinge tun und in Bewegung halten, aber wir bleiben dabei weit weg von uns selbst und von Gott. Jesaja ruft seine Leute deshalb im Namen Gottes und sagt: jetzt, hier in der Fremde, wo uns alles aus der Hand geschlagen ist, da ist doch die Gelegenheit, zum Zentrum zurückzufinden und das Leben und die Liebe zu spüren, die von Gott ausgeht, sich nicht mehr zu verlieren an den Rändern unseres Lebens, sondern authentisch zu werden, die Wirklichkeit zu entdecken und die Freude, die uns tatsächlich wunschlos glücklich macht und für die wir geschaffen sind.
Ich glaube nicht, dass er damit meint, dass man ins Kloster gehen oder pausenlos beten müsste. Man muss auch nicht in die Canyons von Nevada ziehen, obwohl wir nicht vergessen sollten, dass Jesus am Anfang seiner Sendung auch eine Zeitlang in der Wüste gelebt hat. Es kommt Jesaja darauf an, dass das ganze Leben anders aussieht, wenn man einmal erlebt hat, wie es ist, Gott zu begegnen und gleichzeitig zu sehen, wer wir selbst sind. Beides gehört zusammen.
Wenn wir das erleben und nicht wieder vergessen, dann wissen wir, worauf es ankommt und was wirklich nötig ist. Und dann werden wir nicht mehr so viel Energie brauchen, um unser Ego aufrechtzuerhalten mit all seinen Launen, Vorwürfen, Empfindlichkeiten und Ängsten. Wir müssen dann nicht mehr Lebensfassaden bauen, weil wir die Wirklichkeit kennen, das Echte. Wir denken dann nicht mehr so viel darüber nach, wie wir auf andere wirken, weil wir verstanden haben, dass es darauf ankommt, wie Gott uns sieht.
Gott sagt durch Jesaja, dass dies der Weg ist, wie es seinem Volk auch äußerlich wieder anders gehen wird. Menschen, die gelernt haben, sich auf die Transformation einzulassen, auf die Bekehrung, die darin besteht, dass wir uns selbst und Gott finden, die sind für andere attraktiv. Menschen sehnen sich nach Echtheit, deswegen rühren uns ja die Fotos auf der Zigarettenwerbung so an, aber Menschen haben gleichzeitig Angst davor. Aus irgendeinem Grund fürchten wir uns, die ganzen künstlichen und selbstkonstruierten Wirklichkeiten aufzugeben. Wir ziehen sie der starken und anrührenden Begegnung mit der echten Wirklichkeit vor.
Wenn wir aber auf Menschen stoßen, die sich dieser Begegnung gestellt haben, dann möchten wir, dass etwas von ihren Erfahrungen auch zu uns kommt. Eine Mutter Teresa beeindruckt auch viele, die sich nie im Leben trauen würden, nur einen Fuß in die Slums von Kalkutta zu setzen. Aber es fasziniert uns, wenn Menschen sich trauen, der vollen Wirklichkeit zu begegnen, gerade auch den dunklen Seiten. Und es strahlt bis zu uns aus, wenn Menschen mit beharrlicher Energie in diesen dunklen Seiten der Welt Leben finden.
Deswegen wird das Volk Gottes für die Menschen immer dann attraktiv, wenn wir vorstoßen in die echten Bezirke der Wirklichkeit, in die andere sich nicht hineintrauen. Also:
• wenn wir uns auseinandersetzen mit dem Leid und der Dunkelheit in der Welt, wenn wir davor nicht die Augen verschließen, weil wir Hoffnung haben;
• wenn wir uns den Mächten der Zerstörung entgegenstellen, vor denen alle anderen kuschen, wenn uns die großen und kleinen Machthaber keine Angst einjagen, weil unser Herr größer ist;
• wenn wir uns den Lügen und Erfindungen unseres eigenen Herzens stellen, in denen die anderen ja genauso gefangen sind wie wir – wenn wir davon befreit werden und besser leben als vorher.
Das wollen Menschen erleben, und wenn andere vorangehen, dann trauen sie sich vielleicht auch selbst, einige Schritte auf diesem Weg zu machen. Eine Kirche, die sich all dem nicht stellt, ist vielleicht beruhigend, aber eben auch langweilig und nicht begeisternd.
Jesaja sagt: Der alte König David hatte mit Gottes Hilfe die Herrschaft über viele Völker gewonnen. Das war ein erster Wurf in die richtige Richtung. In Zukunft geht es aber nicht mehr um militärische Unterwerfung von Völkern, sondern es geht darum, dass das Volk Gottes mit seiner inneren Vollmacht die Völker einnimmt. Menschen von überallher werden zu euch kommen, weil sie von euch lernen wollen, wie man in der Wirklichkeit Gottes lebt. Das ist die eigentliche Aufgabe der Gemeinde, voranzugehen im Wachstum und in der Erneuerung, und wir sollen darauf vertrauen, dass es die Menschen anziehen wird, wenn es tatsächlich und real geschieht.