Wir tragen viele Masken … und haben kein Gesicht?

Predigt im Besonderen Gottesdienst am 18. Februar 2001 zu Lukas 19,1-9

In diesem Besonderen Gottesdienst waren zwei Theaterszenen zu sehen: Die eine zeigte den Widerspruch von Echtheit und Außendarstellung am Beispiel eines Politikers; die andere war eine moderne Version der Zachäusgeschichte.

1 Jesus ging nach Jericho hinein und zog durch die Stadt. 2 In Jericho lebte ein Mann namens Zachäus. Er war der oberste Zolleinnehmer in der Stadt und war sehr reich. 3 Er wollte unbedingt sehen, wer dieser Jesus sei. Aber er war klein, und die Menschenmenge versperrte ihm die Sicht. 4 So lief er voraus und kletterte auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus sehen zu können; denn dort musste er vorbeikommen. 5 Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und redete ihn an: »Zachäus, komm schnell herunter, ich muß heute dein Gast sein!« 6 Zachäus stieg schnell vom Baum und nahm Jesus voller Freude bei sich auf.

7 Alle sahen es und murrten; sie sagten: »Bei einem ausgemachten Sünder ist er eingekehrt!« 8 Aber Zachäus wandte sich an den Herrn und sagte zu ihm: »Herr, ich verspreche dir, ich werde die Hälfte meines Besitzes den Armen geben. Und wenn ich jemand zu viel abgenommen habe, will ich es ihm vierfach zurückgeben.« 9 Darauf sagte Jesus zu ihm: »Heute ist dir und deiner ganzen Hausgemeinschaft die Rettung zuteil geworden! Auch du bist ja ein Sohn Abrahams. 10 Der Menschensohn ist gekommen, um die Verlorenen zu suchen und zu retten.«

Gott lädt uns ein, im Gegenüber zu ihm echt und wirklich zu werden. In der Tat, wir fragen uns oft genug, wer wir eigentlich sind. Wir kennen uns von vielen verschiedenen Seiten, und irgendwie sind wir das alles auch. Das ist nämlich die größte Gefahr, wenn wir uns nach außen anders geben, als wir wirklich sind: dass wir am Ende selbst nicht mehr wissen, wer wir sind, und was gilt. Dass wir uns selbst verlieren und nicht mehr wiederfinden.

Und dann leben wir als ein anderer Mensch und können nicht für den Menschen sorgen, der wir wirklich sind. Zachäus etwa hatte lange Zeit gelebt mit einem falschen Bild von sich selbst und seinen Bedürfnissen. Sein Bild von sich war, dass es darauf ankam, auch unter wechselnden politischen Verhältnissen immer obenauf zu bleiben und die politische Großwetterlage klug zu nutzen, um für sich persönlich das Beste herauszuholen. Er glaubte wirklich, dass das der beste Weg war, um durchs Leben zu kommen. Und die Weltlage bot einem tüchtigen Mann mit einem Blick für gute Geschäfte eine ganze Menge Gelegenheiten. Zachäus wurde reich dabei.

Aber Jesus half ihm zu der Erkenntnis, dass es nicht das war, was seinem Herzen Frieden und Glück schenken würde. Dieses Wissen hatte wahrscheinlich schon lange in Zachäus geschlummert, und als er von Kollegen hörte, die bei Jesus verkehrten, ja, die sogar in die Gruppe seiner Jünger aufgenommen wurden, da muss es in ihm tüchtig gearbeitet haben. Und die vage Hoffnung, dass mit Jesus auch für ihn eine Veränderung verbunden sein könnte, die war so stark, dass er es in Kauf nahm, sich unsterblich zu blamieren, wenn er als gesetzter Würdenträger in vollem Ornat auf einen Baum kletterte. Das heißt, lange bevor Jesus leibhaftig mit Zachäus zusammentrifft, beginnt er doch schon, bei Zachäus etwas zu bewegen. Seine Fernwirkung allein führt schon dazu, dass dem Oberzöllner die Maske viel lockerer sitzt. Schon die Ausstrahlung Jesu weckt den wirklichen Zachäus, und dessen Bedürfnisse und Wünsche sind ganz anders als sein sonstiger Lebensstil vermuten läßt. Das heißt natürlich noch nicht, dass er klar ist. Da geht noch viel durchein­ander und er weiß noch gar nicht, wo das hinführen wird. Aber in Bewegung gekommen ist er.

So sorgt Jesus dafür, dass Menschen nicht mehr fest und gedankenlos in ihren Rollen und Lebensumständen eingemauert bleiben. Aber diese Bewegung ist kein Selbstzweck. Das ist nur ein Vorzeichen wirklicher Veränderung. Menschen, die lange Zeit nicht echt gelebt haben, sondern mit einem falschen Bild von sich selbst, für die ist es sehr ungewohnt und auch beunruhigend, wenn sich all das meldet, was sie ausgeblendet haben.

Und so wird im Lauf der Begegnung mit Jesus ein ganz anderer Zachäus sichtbar: einer, der eigentlich gern mit Menschen verbunden wäre, statt sie als Ausbeutungsobjekte und Feinde zu sehen. Einer, der in Wirklichkeit nicht glücklich ist mit seiner Lebenssituation, den es nicht kalt läßt, wenn sie ihn alle verachten, und der sogar versteht, dass er ein Sohn Abrahams ist, dass er also zu dem Volk gehört, das Gott berufen hat, zum Segen für die Welt zu werden. Vielleicht ist der wirkliche Zachäus auch geprägt von ursprünglicher Armut und Ohnmacht, und er hat ein Leben lang gekämpft, um das nie wieder, nie wieder! erleben zu müssen. Viele Masken sind hart erarbeitet oder haben viel gekostet.

Aber damit es zu einer wirklichen Veränderung kommt, muss Zachäus diesen Schritt machen, sein Gesicht verlieren, indem er auf den Baum klettert. Er muss Stück für Stück erkennbar werden. Und dazu muss er eine Hoffnung haben, die stärker ist als seine Lebenssituation. So wie es für den Minister am Anfang wichtiger war, wieder an seine Wurzeln in der Kindheit anzuknüpfen: mit dem alten Freund einen trinken zu gehen, das war wichtiger als die Aufrechterhaltung seiner smarten Rolle.

Wir leben heute in einer Umwelt, wo überall mit Hingabe die Oberflächen poliert werden, und wo Menschen tatsächlich oft nach der Oberfläche urteilen. Menschen bringen sich selbst in Form mit Übungen, mit Garderobe, mit Kursen, in denen das Aussehen und das Auftreten gestylt wird, und die Medien spiegeln uns ja eine Perfektion vor, die man im wirklichen Leben nie erreicht. Aber trotzdem erleben wir immer wieder, wie teure und hochgejubelte Ereignisse als Flop enden, weil die echte Substanz dann doch nicht reicht. Am Ende entscheidet doch nicht die Oberfläche. Aber wir haben es heute vielleicht schwerer als frühere Generationen, das zu glauben. Wir haben es möglicherweise schwerer, echt zu sein. Aber:

Liebe Freunde, wir werden an der Veränderung, die Jesus in unser Leben bringen will, nur teilnehmen, wenn wir es selbst sind, die ihm begegnen. Jesus geht es nicht um oberflächliche Begegnungen. Wenn wir uns nicht selbst einbringen in diese Begegnung, dann gibt es Scheinveränderungen, aber kein echtes Neuwerden. Das ist die große Gefahr der Masken, dass wir uns darunter so sehr verlieren, dass Gott uns selbst gar nicht erreicht. Und wenn dann Menschen mit dem Christentum in Berührung kommen, dann machen sie aus der Veränderung, durch die der Heilige Geist unsere Seele und unser Leben umkrempelt, etwas anderes. Sie machen daraus die Befolgung von äußeren Regeln.

Menschen hören dann z.B. auf zu fluchen, aber sie erzählen weiterhin Schlechtes über andere. Menschen kennen die Gebote Gottes, aber sie benutzen sie, um zu wissen, was andere falsch machen. Menschen gehen zum Gottesdienst, aber sie erleben wenig Bewegung dabei. So könnte man noch lange fortfahren. Jedesmal ist aus der Neuwerdung, die Jesus bringt, eine Pseudo-Veränderung geworden, eine Scheinveränderung, die den Kern der Person unverändert läßt. Da ist eine Maske ausgewechselt worden, aber der wirkliche Mensch bleibt der alte. Und der kann auch unter einer christlichen Maske recht gut weiterleben.

Damit ist niemandem geholfen. Denn wenn ein Mensch das irgendwann mal merkt, dass er vielleicht nur eine christliche Maske angelegt hat, weil andere das von ihm erwarteten, oder weil er sich davon vielleicht sogar Vorteile erhofft hat, wenn einem das klar wird, dann wenden sie sich manchmal ganz von Jesus Christus ab, weil sie dem allen gar nicht mehr trauen und das nur noch als Last und Druck empfinden. Und das ist es dann ja auch. Es kostet Kraft, eine Maske zu tragen, es kostet ganz viel Energie, immer anders zu sein, als man ist. Irgendwann sind Menschen ausgebrannt. Und dann sagen sie: damit will ich nichts zu tun haben, ich brauche jetzt erst mal einen großen Abstand, ich will zu mir selbst kommen und prüfen, was denn vom Christentum echt ist, oder ob es alles nur Show ist. Und ob sie dann am Ende zum Echten hinfinden oder sich irgendwo ganz anders ankoppeln, das kann keiner vorhersagen.

Und das Schlimme ist, dass andere das natürlich auch sehen und glauben, das Christentum wäre genau das: eine religiöse Maske, unter der sonst nichts neues zu finden ist, und sich dann aus ganz gesundem Instinkt heraus lieber davon fernhalten. Unechtes Christentum erzeugt Rebellion und Ablehnung. Pseudo-Veränderung macht Menschen misstrauisch gegen die echte Veränderung, die der Heilige Geist im Herzen eines Menschen wirkt, und die sich auch außen zeigt, aber man kann das nicht auf einer Liste mit Verhaltensregeln abhaken.

Authentisches Christentum geht offen um mit all den Defiziten, die wir immer wieder an uns spüren, und andere noch viel mehr. Sich Druck zu machen ist genauso schlecht wie Faulheit. Genauso offen können wir umgehen mit den tatsächlichen Schritten nach vorne, über die wir uns auch immer wieder freuen. Und gleichzeitig wissen wir, wie vorläufig und brüchig das auch immer wieder ist. Aber wenn man seine Maske spürt, dann ist schon viel gewonnen. An Zachäus sehen wir, dass das der erste Schritt ist, hin zu Jesus. Und wenn wir an die zweite Szene denken, dann sieht man, dass das noch längst nicht der letzte Schritt ist, den einer in der Nachfolge Jesu gehen muss. Wir kommen da an die Grenzen dessen, was wir über uns wissen können, und wir müssen das endgültige Urteil Gott überlassen. Er wird richten, d.h. unterscheiden, zwischen dem, was Oberfläche ist, und was echte Substanz ist. Und wir können wissen, dass dieses Gericht in unserem Interesse ergeht, denn wir wären doch auch nicht glücklich, wenn all unsere dunklen Seiten auch noch in Gottes Ewigkeit hineinkämen und uns auch dort noch in Ruhe ließen.

Einer, der sehr bewusst mit den vielen Seiten dieses Veränderungsprozesses umgegangen ist, ist Dietrich Bonhoeffer gewesen. Er hatte dazu beigetragen, dass die Bekennenden Kirche einen Mindestabstand zum Staat Hitlers bewahrte, und er wusste von dem Plan zum – gescheiterten – Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Wegen seiner Gegnerschaft zum Nationalsozialismus war er 1943 – 1945 im Gefängnis und wurde noch kurz vor Kriegsende ermordet.

Er hat in dieser Zeit der Haft noch einmal neu gelernt, was es heißt, mit Jesus Christus zu leben. Aus dieser Zeit stammt ein Gedicht mit der Überschrift »Wer bin ich?«, das ich zum Schluss dieser Predigt vorlese:

WER BIN ICH?

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?

Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!