Glaube ist Utopiefähigkeit
Predigt am 22. Mai 2011 zu Römer 4,13-25 (Predigtreihe Römerbrief 11)
13 Nicht anders ist es mit der Zusage Gottes an Abraham, ihm als Erben die ganze Welt zum Eigentum zu geben. Auch diese Zusage, die ihm und darüber hinaus seinen Nachkommen galt, war nicht an die Befolgung des Gesetzes gebunden. Sie wurde ihm vielmehr gegeben, weil er aufgrund des Glaubens gerecht war. 14 Wenn das Erbe denen in Aussicht gestellt wäre, denen das Gesetz gegeben ist, wäre der Glaube überflüssig. Außerdem wäre die Zusage dann hinfällig, 15 denn das Gesetz zieht Gottes Zorn nach sich, weil es übertreten wird. Übertretungen gibt es nur dort nicht, wo es kein Gesetz gibt. 16 Deshalb also ist die Zusage an den Glauben gebunden; ihre Erfüllung soll ein Geschenk der Gnade sein. Damit ist sichergestellt, dass die Zusage für die gesamte Nachkommenschaft Abrahams Gültigkeit hat. Sie gilt nicht nur für die Nachkommen, denen das Gesetz gegeben wurde, sondern auch für die, die – ohne das Gesetz zu haben – so glauben, wie Abraham glaubte. Denn er ist der Vater von uns allen, 17 genau wie es in der Schrift heißt: »Ich habe dich zum Vater vieler Völker gemacht.« Ja, in Gottes Augen ist er das, denn er vertraute auf ihn, den Gott, der die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft. 18 Da, wo es nichts zu hoffen gab, gab er die Hoffnung nicht auf, sondern glaubte, und so wurde er der Vater vieler Völker. Es war ihm ja vorausgesagt worden: »So zahlreich werden deine Nachkommen sein.«
19 Abraham war damals fast hundert Jahre alt und konnte keine Kinder mehr zeugen; in dieser Hinsicht war sein Körper gewissermaßen schon tot. Nicht anders war es bei seiner Frau Sara, denn auch sie konnte keine Kinder mehr bekommen. Und obwohl Abraham seine Augen nicht vor dem allem verschloss, ließ er sich in seinem Glauben nicht entmutigen. 20 Statt die Zusage Gottes in Frage zu stellen, wie es der Unglaube tun würde, ehrte er Gott, ´indem er ihm vertraute,` und wurde dadurch in seinem Glauben gestärkt. 21 Er war fest davon überzeugt, dass Gott die Macht hat, das, was er zugesagt hat, auch zu tun. 22 Das ist also der Grund, weshalb ihm – ´wie es in der Schrift heißt` – der Glaube als Gerechtigkeit angerechnet wurde.
23 Die Aussage, dass der Glaube Abraham angerechnet wurde, betrifft nicht nur ihn, 24 sondern steht auch unseretwegen in der Schrift. Auch uns wird der Glaube angerechnet werden. Denn der ´Gott`, auf den wir unser Vertrauen setzen, hat Jesus, unseren Herrn, von den Toten auferweckt – 25 ihn, der wegen unserer Verfehlungen dem Tod preisgegeben wurde und der wegen unserer Gerechtmachung auferweckt wurde.
Paulus widmet ein ganzes Kapitel des Römerbriefs Abraham. Er hält eigentlich eine Predigt über 1. Mose 15 und auch 17, wo Gott mit Abraham einen Bund schließt und ihm verspricht, er werde unzählige Nachkommen haben und ein neues Land bekommen. Und er zeigt, dass schon in Abraham ein Muster angelegt war, das dann in Jesus und allen, die zu ihm gehören, voll zur Geltung kommt.
Dieses Grundmuster nennt Paulus Glauben, und es besteht darin, dass man Gott zutraut, dass er seine Zusagen auch einhält. Daraus wächst eine Hoffnung gegen alle Hoffnung, eine Hoffnung, die sich nicht geschlagen gibt. Abraham sollte aufbrechen und seine Heimat verlassen im Vertrauen auf das neue Land, das Gott ihm zugesagt hatte. Und er tat es. Und dann sollte er auch noch glauben, dass seine Nachkommenschaft unzählbar sein würde wie die Sterne am Himmel. Da war er schon fast 100 Jahre alt, er und seine Frau hatten keine Kinder, und auch damals schon war jedem klar, dass man in diesem Alter eigentlich nicht mehr damit rechnen kann, Kinder zu bekommen. Und trotzdem bekamen sie am Ende ihren Sohn Isaak.
Paulus zieht eine Linie von diesem Anfang bis hin zur Auferstehung Jesu und sagt: Von Anfang an ist es Gottes Handschrift, das Unmögliche zu tun. Gott macht die Toten lebendig und ruft das, was nicht ist, ins Dasein. Er ist der ultimative Vater des Lebens. Und Abrahams entscheidendes Verdienst war, dass er an diese lebenschaffende Macht Gottes glaubte. Abraham war ein Sünder, er lavierte sich oft durch und traf problematische Entscheidungen in seiner Familie, aber er glaubte an Gott und seine Zusagen. Und das war das Entscheidende. So konnte Gott an ihm arbeiten und dafür sorgen, dass Abraham Stück für Stück über sich hinaus wuchs. Dass Abraham glaubte, das rechnete Gott ihm als Gerechtigkeit an. Gott sah in diesem Glauben Abrahams den Keim für eine ganze neue Menschheit, und er bewertete Abraham nicht nach seinem vorläufigen Status, sondern nach diesem Keim und dem, was daraus werden sollte.
So wie Gott in der Lage ist, etwas völlig Neues ins Dasein zu rufen, so war Abraham in der Lage, mit diesem Neuen, Unbekannten zu rechnen und darauf zu vertrauen. Abraham war utopiefähig. Er orientierte sich nicht daran, wie es schon immer war und was nach menschlichem Ermessen möglich ist, sondern er rechnete mit dem Unsichtbaren, wie es der Hebräerbrief sagen würde. Und so wurde er zum Ersten in einer langen Reihe von Menschen, die im Vertrauen auf Gottes Zusagen aufbrechen, mutig neue Wege gehen und am Ende belohnt werden.
Paulus nun hat erlebt, wie auch Heiden zum Glauben an Jesus kommen, und deshalb betont er, dass für diese Reihe von Menschen nicht die leibliche Nachkommenschaft von Abraham her entscheidend ist, sondern er sagt: zu dieser Familie Abrahams gehört jeder, der glaubt. Diese internationale, multikulturelle Familie Abrahams ist die Wurzel der neuen Menschheit. Und in einer kühnen Auslegung des Alten Testaments redet Paulus nicht mehr von dem verheißenen Land Israel, dieser kleinen Landbrücke zwischen Asien und Afrika, sondern er sagt, dass Abraham der Erbe der ganzen Welt werden sollte.
Das heißt, die Zukunft gehört denen, die sich das Unmögliche vorstellen können, weil sie den Vater des Lebens kennen und seinen Zusagen glauben.
Ich möchte das mal an einem Beispiel hier aus unserer Gegend beschreiben, damit das nicht so abstrakt klingt. Ungefähr 150 Jahre ist es her, da war unsere Gegend hier eine ziemlich verschlafene Provinz. Das Einzige, was sie von anderen Gegenden des Königreichs Hannover unterschied war das Eisenerz, das hier relativ nah an der Oberfläche lag. Man hatte schon versucht, mit diesem Bodenschatz etwas anzufangen, aber das hatte nicht geklappt.
Dann kam ein Mann, der anscheinend in der Lage war, sich etwas vorzustellen, was es noch nicht gab. Das war Gerhard Lucas Meyer. Er übernahm eine bankrotte Aktiengesellschaft und die halbfertigen Industrieanlagen, die sie hinterlassen hatte, er überzeugte Menschen, da noch einmal Geld hineinzustecken, er holte fähige Mitarbeiter her, und als er gut 50 Jahre später starb, war in Groß Ilsede ein großes Hüttenwerk entstanden und in Peine das Stahlwerk, viele Tausend Menschen hatten Arbeit und Brot gefunden, Schulen und Kirchen waren gebaut worden, der Eisenbahnanschluss war gelegt und die ganze Region war in Bewegung gekommen. Und das Erstaunliche ist, dass es alles eigentlich an diesem einen Mann gehangen hat, so dass man Gerhard Lucas Meyer später den »Vater der Ilseder Hütte« genannt hat.
Nicht so bekannt ist, dass Gerhard Lucas Meyer ein entschiedener Christ gewesen ist, der sich immer von seinem Lebensmotto inspirieren ließ, einem Wort Jesu aus dem Johannesevangelium: »Ich muss wirken, so lange es Tag ist«. Da saß sein innerer Antrieb. Und das muss ihm geholfen haben, nicht die arme und verschlafene Gegend hier zu sehen, sondern die Möglichkeiten, die da noch warteten. Und auch wenn das Eisenerz minderwertig war, auch wenn es mühsam war, genügend Arbeitskräfte herzulocken, auch wenn er sich mit schwierigen Mitarbeitern und schwerfälligen Behörden herumzuschlagen hatte – Meyer war utopiefähig. Und am Ende hat er eine ganze Region mit ihren Menschen verändert.
Aus heutiger Sicht würden wir natürlich anmerken, dass dadurch die Umwelt auch ziemlich gelitten hat und die Menschen für schwere Arbeit oft nur geringen Lohn bekommen haben. Ich behaupte nicht, dass das alles unproblematisch war. Aber es geht mir jetzt um diese Fähigkeit, sich etwas ganz neues, ganz anderes vorzustellen und dann aufzubrechen und die Aufgabe anzupacken. Diese Grundhaltung verändert die Welt, im Kleinen oder im Großen. Und sie hat ihre Wurzeln im Aufbruch Abrahams, der sich als Erster dafür gewinnen ließ, mit dem Unsichtbaren zu rechnen. Abrahams Aufbruch und die Auferstehung Jesu, die erzeugen dann Echos, Resonanzen und Obertöne, die viel, viel später dann z.B. auch zu einem Hüttenwerk in unserer Gegend führen.
Paulus zeichnet Abraham als Gegenbild zur Menschheit, die er in Kapitel 1 geschildert hat: Menschen, die sich von Gott abwenden und stolz darauf sind, ohne ihn auszukommen. Wenn Menschen sich von Gott abwenden und ihm nicht vertrauen, ihm nicht glauben, dann führt das zu Sünde und Zerstörung. Denn wenn man Gott nicht traut, dann traut man auch seiner Schöpfung nicht; und je weniger man glaubt, dass die Welt von Gottes Segen durchströmt ist und von seiner Freude ins Leben gerufen wurde, um so größer wird die Versuchung, sich einfach mit Gewalt das zu rauben, was man haben möchte.
Um auch hier ein plakatives Beispiel zu haben: denken Sie an Länder, in denen über Jahrzehnte die Ordnung zusammengebrochen ist und wo Willkür und Gewalt herrschen. Da wachsen Kinder auf, die glauben, dass es normal ist, sich seinen Lebensunterhalt mit dem Gewehr zu verdienen. Da geben die Menschen es irgendwann auf, ihre Felder zu bestellen, weil sie noch nicht mal wissen, wer ihnen wieder die Ernte rauben wird, wenn sie reif ist – welcher Bandenhäuptling dann gerade das Sagen hat. Du brauchst ein Mindestmaß an Vertrauen in die Zukunft, um ein Feld zu bestellen. Du brauchst noch mehr Vertrauen in die Zukunft, wenn du Kinder in die Schule schickst. Das ist eine Ernte, die frühestens nach einem Jahrzehnt reif ist. Wo dieses Vertrauen in die Welt und letztlich in ihren Schöpfer nicht da ist, da unterbleiben die wirklich wichtigen Dinge. Da lebt man nur noch für heute. Da geht die Zerstörung immer weiter. Ohne ein Mindestmaß an Vertrauen könnte die Welt gar nicht funktionieren. Aber auch dieses Mindestmaß ist immer gefährdet.
Deshalb hat Gott sein neues Volk gegründet, dessen Gründungserlebnis Vertrauen ist. Abrahams Aufbruch in ein neues Land zeigte sein Vertrauen in Gott, seinen Glauben, seine Utopiefähigkeit. Lange Zeit ist dieser Glaube an den vertrauenswürdigen Schöpfergott fast nur unter den Juden weitergegeben worden. Aber spätestens seit Jesus steht dieser Glaube allen offen. Jetzt findet Abraham seine Kinder unter allen Völkern, so wie Gott es ihm versprochen hat, als er ihm seinen Namen gab – »Abraham« heißt wörtlich übersetzt: »Vater von vielen«.
Abraham ist der Vater aller, die den Zusagen und Verheißungen Gottes mehr vertrauen als ihren schlechten Erfahrungen. Und Gottes Zusagen umfassen die ganze Welt, dass er sie erneuern wird, dass er sie befreien wird aus der Knechtschaft der Vergänglichkeit. Er wird sie nicht zerstören, er wird sie nicht untergehen lassen, sondern er wird sie herrlich erneuern. Und alle, die darauf warten und das nicht mehr miterleben, die wird er bis dahin bewahren, damit sie auch eines Tages Teil der neuen Welt sind.
Paulus kam es darauf an, dass diese Grunderfahrung des Vertrauens nicht an das Gesetz gebunden ist. Gottes Verheißungen glauben kann man auch, wenn man kein Jude ist. Das Gesetz bewertet das Verhalten, und das äußere Verhalten kann durchaus schlecht sein, auch wenn dieser Keim des Glaubens schon da ist. Abraham selbst ist das beste Beispiel dafür.
Das Gesetz bringt kein neues Leben hervor. Auf Bewerten, Kritisieren und Meckern liegt kein Segen, auch dann, wenn es sachlich gesehen nicht unberechtigt ist. Aber hätte Gerhard Lucas Meyer vor allem Presseerklärungen verbreitet, wie falsch alles läuft und wieviel schon schiefgelaufen ist, dann hätte es nie die Ilseder Hütte gegeben. Es gibt immer so viele Leute, die wissen, was falsch läuft, die angreifen und beschuldigen, und viel zu wenig Leute, die das unsichtbare Neue sehen und sich an die Arbeit machen. Gott hat sein Gesetz gegeben, weil wir durchaus wissen sollen, was gut und gerecht ist und was nicht. Aber das Leben und die neue Welt kommen durch die, die Gottes Zusagen glauben und – aufbrechen.
Paulus schließt das vierte Kapitel und den ersten großen Teil des Briefes mit einem Hinweis auf Tod und Auferstehung Jesu. Von Jesus hat er bis jetzt überraschend selten geredet. Aber hier wird deutlich: Jesus war das Licht, in dem er die ganze biblische Tradition noch einmal neu durchdacht und interpretiert hat. Die Auferstehung Jesu hat endgültig gezeigt, dass Gott zu seinen Zusagen steht und das Unmögliche möglich macht. Gott erweckt die Toten zum Leben und er ruft das, was nicht ist, ins Leben. Jesus musste sterben wegen der Sünden der Menschen, weil wir hier ein umfassendes System der Gewalt und der Lüge eingeführt haben, dem er zum Opfer gefallen ist. Aber Gott war treu und hat ihn auferweckt; und mit ihm hat die neue Welt begonnen, in der Tod und Sünde keine Macht mehr haben. Das ist das neue Land, in das wir gerufen werden, so wie Abraham gerufen wurde.
Und wenn wir aufbrechen wie Abraham, wenn wir durch den Heiligen Geist aus der Kraft Jesu und aus der Kraft der Auferstehung leben, dann gehören wir zur neuen Welt, zur multinationalen Familie Abrahams, zur Gemeinschaft derer, die auf das Unsichtbare vertrauen. Dann sind wir in Gottes Urteil gerecht, weil er im Keim immer schon das Endergebnis sieht. Und er sorgt dafür, dass in unserem Leben ein Stück dieses Unsichtbaren sichtbar wird, im Kleinen oder im Großen.