Ist da noch mehr?
Predigt im Besonderen Gottesdienst am 11. November 2001 zu Philipper 3,4-11
4 Wenn andere meinen, sie könnten mit irdischen Vorzügen großtun – ich hätte viel mehr Grund dazu. 5 Ich wurde beschnitten, als ich eine Woche alt war. Ich bin von Geburt ein Israelit aus dem Stamm Benjamin, ein Hebräer von reinster Abstammung. Was die Stellung zum Gesetz angeht, so gehörte ich zur strengen Richtung der Pharisäer. 6 Mein Eifer ging so weit, dass ich die christliche Gemeinde verfolgte. Gemessen an dem, was das Gesetz vorschreibt, stand ich vor Gott ohne Tadel da.
7 Aber dies alles, was mir früher als großer Vorzug erschien, habe ich durch Christus als Nachteil und Schaden erkannt. 8 Ich betrachte überhaupt alles andere als Verlust im Vergleich mit dem überwältigenden Gewinn, dass ich Jesus Christus als meinen Herrn kenne. Durch ihn hat für mich alles andere seinen Wert verloren, ja, ich halte es für bloßen Dreck.
Nur noch Christus besitzt für mich einen Wert. 9 Zu ihm möchte ich um jeden Preis gehören. Deshalb will ich nicht mehr durch mein eigenes Tun vor Gott als gerecht bestehen. Ich suche nicht meine eigene Gerechtigkeit, die aus der Befolgung des Gesetzes kommt, sondern die Gerechtigkeit, die von Gott kommt und denen geschenkt wird, die glauben. Ich möchte vor Gott als gerecht bestehen, indem ich mich in vertrauendem Glauben auf das verlasse, was er durch Christus für mich getan hat.
10 Ich möchte nichts anderes mehr kennen als Christus, damit ich die Kraft seiner Auferstehung erfahre. Ich teile mit ihm sein Leiden und seinen Tod, 11 in der Hoffnung, dass ich wie er zur Auferstehung der Toten gelange.
»Ist da noch mehr?« Die einen fangen unsicher an, dieser Frage nachzubuchstabieren, die anderen haben entschiedene und radikale Antworten darauf gefunden. Manchmal muss man das erst verstehen, dass es nicht das Geld, nicht die Arbeit oder die Politik, noch nicht einmal der eigene Ehepartner ist, der einen nicht schlafen lässt. Sondern die Frage, was denn mit dem Leben eigentlich ist, wozu es ist und warum es ist.
In anderen Kulturen wissen die Menschen, dass man sich Zeit nehmen muss, um diese Frage zu beantworten, und zwar früh. Die Indianer haben die Jungen in die Wildnis geschickt, zum Fasten und Träumen, bevor sie Krieger wurden. Die Buddhisten, in Thailand, glaube ich, schicken die Jugendlichen ein Jahr ins Kloster. Und das ist eingebunden in eine öffentliche Deutung des Lebens in seiner geistlichen Dimension.
Bei uns ist das alles zurückgedrängt aus der Öffentlichkeit in bestimmte Reservate: in die privaten Weihnachtsfeiern, in die Gottesdienste, in den Konfirmandenunterricht, in die Trauerfeiern. Und in die privaten Nachtgedanken. Denn die meisten Menschen haben nicht gelernt, der geistlichen Seite des menschlichen Lebens Ausdruck zu verleihen. Und dann überfällt es Männer und Frauen in den besten Jahren, und sie wissen nicht, was mit ihnen los ist, dass sie sich unbehaglich fühlen, obwohl es doch eigentlich gut läuft mit der Arbeit und der Familie. War das schon alles? Oder kommt noch etwas, etwas Wichtiges und Bedeutungsvolles, das uns wirklich herausfordert mit allem, was wir sind? Oder wird unser Leben einfach weiter so dahinplätschern? Und sie sind hilflos, wenn sie sagen sollen, was mit ihnen los ist.
Nicht jeder erlebt so einen dramatischen Bruch wie Johanna, die Frau des Chuza, bei der Enthauptung Johannes des Täufers. Um ehrlich zu sein, gibt es keine Beweise, dass es so war. Aber es könnte sehr wohl so gewesen sein, dass Johanna damals dabei war, als auf trickreiches Betreiben seiner Frau der schwache König Herodes in die Enthauptung des Johannes einwilligte und anschließend der blutige Kopf auf der königlichen Geburtstagsfeier präsentiert wurde. Natürlich wissen wir nicht, ob das der Anlass war. Aber diese Johanna, der muss irgendwann das Leben einer privilegierten Hofdame nicht mehr gereicht haben, irgendwann muss sie sich gefragt haben: gibt es denn nicht noch was anderes für mich, als hier meine Tage zu vertun als reiche Müßiggängerin?
Und irgendwie ist sie Jesus begegnet, möglicherweise hat er sie geheilt, und sie ist dann dabeigeblieben, und sie war offenbar reich genug, um den Unterhalt der Gruppe sichern zu können. Und schließlich gehörte sie zu den Frauen, die am Ostermorgen zum Grab Jesu gingen und die ersten Zeuginnen der Auferstehung wurden.
Das war ein anderes Leben, als sie es am Königshof geführt hätte. Sie erlebte unwahrscheinliche Höhen, sie war dabei, wenn Tag für Tag Menschen in der Gegenwart Jesu heil wurden, sie hörte mit zu, wenn Jesus im kleinen Kreis von seinem Vater im Himmel sprach und von seiner unvergleichlich engen Freundschaft mit ihm; sie erlebte Anfeindungen und Siege, und am Ende die Katastrophe des Kreuzes. Als sie sich dann darauf einstellte, Jesus noch den letzten Dienst zu tun, den man einem Toten erweist, da erlebte sie das Wunder seiner Auferstehung. Sie hat ausgeschöpft und durchlebt, was an Höhen und Tiefen zu einem Menschenleben gehören kann — und Gott hat uns mit einer enormen Spannweite bei der Erlebnisfähigkeit geschaffen. Die wird in unserem normalen Alltag überhaupt nicht ausgereizt, da sind wir über weite Strecken hoffnungslos unterfordert.
Johanna erlebte das alles im Einflussbereich Jesu, in der Nähe und Gegenwart des lebendigen Gottes. Das war nicht ein Schicksal, das sie überfiel, wie Menschen vielleicht von einem bösen Krieg überfallen werden. Sondern sie verstand, dass ihr hier ein Sinn angeboten wurde, der über ihr kleines Leben hinaus gültig ist, dass sie mit dabei sein konnte beim Weg Gottes durch die Welt, und da griff sie zu und ließ mit Überzeugung ihr sicheres und bequemes Leben am Hof hinter sich.
Etwas später hat Paulus das dann grundsätzlicher, aber auch immer noch sehr persönlich durchdacht. Er sagt im Grunde: ich war glücklich, ich hatte ein gutes Leben. Er belegt das nicht damit, dass er ein schönes Haus im Grünen und nette Kinder hatte, er führt religiöse Grunde an, das ist natürlich ein Unterschied, aber es bleibt, dass er sagt: ich war mit mir im Reinen. Mir fehlte nichts.
Wir haben oft Martin Luther vor Augen, der durch lange Kämpfe und Gewissensnöte gegangen ist, und das hat bewirkt, dass wir irgendwie meinen, Glauben wäre was für die Leute, die mit dem Leben nicht so richtig zurecht kommen und immer grübeln. Aber Paulus sagt es anders: es gab nichts in meinem Leben, was mich auf die Idee gebracht hätte, es wäre etwas nicht in Ordnung. Es war alles ok. Bis ich dann Jesus begegnet bin. Das hat für mich das andere relativiert. Das Bessere ist der Feind des Guten. Jetzt möchte ich nur noch eins: mehr und mehr zu Jesus gehören. Und wenn das Leiden und Tod bedeutet, dann werde ich auch diesen Preis zahlen, weil es besser ist, mit Jesus zu leiden, als ohne ihn sorglos zu leben.
Die Siege Jesu werden nicht selten an dunklen Orten erkämpft, im Angesicht von Leid und Verfolgung und sogar im Grab. Wenn ich diese Siege miterleben will, dann darf ich den dunklen Orten nicht ausweichen. So wie Johanna Zeugin der Auferstehung wurde, weil sie es auf sich nahm, auf den Friedhof zu gehen und dem Schrecklichen, dass Jesus tot war, ins Auge zu sehen.
Und nun kommt die Hauptsache: diese Art zu leben ist der Schlüssel, der zu dem Schloss unseres Lebens passt. Es gibt sicher verschiedene Arten, die geistliche Seite unserer Person auszuleben, angemessenere und weniger angemessene. Aber in der Gegenwart Jesu zu leben, das ist die Art, für die wir von Anfang an vorgesehen waren, dazu sind wir geschaffen, das ist es. Das ist viel mehr, als religiöse Überzeugungen zu haben, es ist eine andere Art zu leben. Alles andere ist zu wenig.
Wir müssen uns diese geistliche Seite unserer Person nicht wie ein Defizit vorstellen, wie eine Art Hunger. Sicher, das ist es auch manchmal. Aber eigentlich kommt unsere Ahnung davon, dass da noch mehr ist, nicht aus einem Defizit sondern aus einer Erinnerung an Fülle.
Lassen Sie mich das erklären:
Wenn man mit Menschen spricht, und man hat Zeit und es ist eine Atmosphäre des Vertrauens, dann erzählen sie nicht selten davon, dass es bei ihnen manchmal schon ganz früh eine Zeit gegeben hat, in der sie sich Gott selbstverständlich verbunden gefühlt haben. Manchmal sind es auch nur kurze Momente, an die sie sich erinnern. Aber diese Momente sind offenbar so wichtig, dass sie sich auch nach langer Zeit noch zurückholen lassen. Auch wenn man lange nicht daran gedacht hat.
Wenn Sie sich also dunkel daran erinnern, dass Sie so etwas gekannt haben, spontan zu wissen:
- dass Gott da ist,
- dass er auf Sie aufpasst,
- dass er Sie kennt und beschützt,
- dass Sie mit ihm vertraut sind, auch wenn Menschen Sie ablehnen,
dann glauben Sie nicht, dass Sie ein ganz exotisches Exemplar Mensch sind, das irgendwie nicht richtig in unsere Gegenwart hineinpasst. Ich würde mich nicht wundern, wenn die Mehrzahl der Menschen, vielleicht sogar alle, irgendwann solche Erfahrungen gemacht hätten. Vielleicht ist es eine Mutter oder Oma gewesen, die das angestoßen hat, vielleicht ist es einfach so gewesen, und keiner kann sagen, woher es kommt.
Und ich glaube, dass es solche frühen Erfahrungen von Beschenktwerden und Vertrauen sind, die in uns diese geistliche Dimension verankern. Am Anfang steht nicht eine Mangelerscheinung, sondern eine beglückende Ur-Erfahrung mit Gott, und ich vermute, wir haben sie alle gemacht, vielleicht schon vor unserer Geburt, aber natürlich kann man das nicht beweisen. Und die einen haben diese Ur-Erfahrung festgehalten und immer wieder bestätigt, und andere haben sie nicht zusammengekriegt mit den anderen, schlechten Erfahrungen, die wir natürlich alle auch machen, und haben sie zur Seite geschoben.
Diese Ur-Erfahrung, dieses Ur-Vertrauen, das wird ja auch immer wieder enttäuscht, manchmal ganz schlimm, und dann kann es entweder sein, dass wir uns erst recht an Gott und dieser Erfahrung festhalten; es kann aber auch sein, dass wir uns daran nicht mehr erinnern wollen, weil das zu weh tut, wie ein wunderbares Versprechen, das nicht in Erfüllung gegangen ist.
Und wenn ein Mensch dann Gott in Gestalt des Menschen Jesus begegnet, wenn der Heilige Geist uns das Persönlichkeitsprofil Gottes nahe bringt, dann erinnern wir uns wieder an dieses Versprechen aus unserer ganz frühen Zeit, und die einen sagen: ja, das ist er, ich erkenne ihn wieder, das ist so wie damals. Ich habe ihn wiedergefunden! Und die anderen sagen: ich bin einmal enttäuscht worden, und das war so schlimm, ich will das nicht noch einmal erleben, und sie verschließen sich. Und das Klima in unserer Gesellschaft, wo diese Erfahrungen keinen Resonanzboden haben, tut ein Übriges dazu, dass viele solcher Erfahrungen nie ausgesprochen werden, und diejenigen, die sie gemacht haben, glauben, sie seien die Einzigen, und hüten sich normalerweise, davon zu erzählen, oder sie haben es selbst schon fast vergessen.
Entscheidend ist also nicht, ob wir solche Erfahrungen kennen, sondern ob wir ihnen antworten. Und zwar mit unserem Leben antworten. Das wünscht sich Gott. Dazu ist Jesus gekommen, damit wir in ihm das deutlich wiedererkennen, was in uns angelegt ist, ein Leben in der Fülle Gottes, ewiges Leben, nicht mehr bedroht von Verderben und Tod.
Ist da noch mehr? Ja, da ist ein Versprechen Gottes, von dem wir alle wenigstens eine Ahnung haben. Wieso würden wir uns sonst beschweren können, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte? Tief in uns drinnen ruht ein Wissen, dass da noch mehr ist, und wenn wir da draußen Jesus begegnen, dann beginnen wir zu ahnen, dass er das ist, was uns von Anfang an versprochen war. Es wird Zeit, dass das nicht eine vage Erinnerung bleibt, sondern die tragfähige Grundlage des Lebens. Weniger ist nicht genug, und in manchen Augenblicken wissen wir das auch genau.