Das Wunder der Person (Eltern und Kinder 4)
Predigt am 3. September 2000
Wenn ein Kind geboren wird, dann erlebt es die Welt ganz anders als wir großen Leute. Deswegen können wir uns nicht an unsere frühen Jahre erinnern, weil wir die Dinge damals so ganz anders wahrgenommen haben. Viel verwirrender ist die Welt für ein Baby, auf das ein Haufen Eindrücke einstürmt, die es alle noch nicht einordnen und verstehen kann.
Aber unter der Hilfe und Assistenz freundlicher Menschen, vor allem mit Hilfe der Eltern, beginnt sich in dem kleinen Kopf eine Person zu formen. Am Anfang ist es noch schwer, sich selbst von der Umwelt zu unterscheiden. Aber allmählich lernt Hänschen, dass es da etwas geben muss, was Hänschen heißt, etwas sehr wichtiges muss das sein, weil die Großen viel öfter von Hänschen reden als von dem Bett oder der Flasche, und sie reden von Hänschen mit besonderer Betonung, so als ob sie mit diesem Ding etwas Besonderes vorhätten. Irgendwann verwendet Hänschen das Wort auch, »Hänschen aua« sagt er z.B. Und noch ein bisschen später lernt er dann, »ich« zu sagen. Und wenn das geschafft ist, dann dauert es nicht mehr lange, bis er sagt: »Ich will«.
Wenn Hänschen so weit ist, dann fangen für die Eltern die Aufregungen richtig an. Jetzt müssen sie sich mit einem Menschen auseinandersetzen, der entdeckt hat, dass er wollen kann, und er lebt diese neue Fähigkeit hemmungslos aus.
Und gleichzeitig stoßen wir auf eins der größten Geheimnisse in der Welt, dass wir nämlich Personen sind. Wir reagieren nicht einfach auf Umweltreize, sondern wir denken und erleben dabei, wir sind selbst dabei mit unserer Fähigkeit zur Freude und zur Trauer. Wir haben einen Willen, und das ist etwas anderes als ein Instinkt. Aber was das eigentlich ist: Bewusstsein, Wille, das kann bis heute keiner genau erklären.
Die Bibel sagt, dass wir als Bild Gottes geschaffen sind, und damit ist nicht gemeint, dass Gott einen Kopf, Hände und Füße hat, sondern das bedeutet, dass wir so wie Gott Person sind. Wir sind aus Erde gemacht und werden wieder zu Erde, aber Gott teilt diesen Erdklumpen etwas Geistiges mit, etwas aus seiner eigenen Sphäre: das Denken und Fühlen, die Person, und es ist wirklich, als ob da etwas aus einer ganz anderen Welt hier zu uns auf die Erde gekommen ist. Unser Bewusstsein, unser Denken und Erleben ist wie ein Fremdkörper in dieser Welt der Materie, und für mich ist das der stärkste Hinweis auf Gott und seine Sphäre.
Der, der uns als denkende Wesen geschaffen hat, der muss doch mindestens selbst auch gedacht haben. Wenn wir einen Willen haben, dann kann das, was uns ins Leben gerufen hat, doch kein willenloser Zufall sein, sondern unser Ursprung muss mindestens auch einen Willen gehabt haben. Wer oder was auch immer uns als Personen geschaffen hat, der kann selbst nicht weniger gewesen sein als eine Person.
Und weil sich hier unsere Welt und der Bereich Gottes berühren, deshalb wird diese Verbindung immer von einem Rätsel umgeben bleiben. Und wenn wir ein Kind in seinen ersten Monaten großziehen, dann sind wir Zeugen davon, wie eine Person entsteht, wie sich die Nervenbahnen des Gehirns Stück für Stück so organisieren, dass dort Wille, Gefühl und Bewusstsein leben kann.
Das ist ein sehr empfindlicher Prozess, und sein wichtigstes Element ist Liebe und Zuwendung. Durch die Erfahrung, immer wieder liebevoll angeschaut zu werden, entsteht in dem kleinen Menschen das Gefühl: Ich bin jemand! Und wenn er immer wieder angesprochen wird mit seinem Namen, wenn es Reaktionen gibt auf das, was er tut, dann bildet sich dadurch die Person, sie wächst sozusagen in die Form hinein, die die anderen Menschen ihr immer wieder entgegenhalten. Weil die anderen immer wieder von Hänschen reden, weiß er, dass es ihn geben muss, und irgendwann entdeckt er: Hänschen, das bin ja ich! Ich habe Hunger, ich habe Aua, ich will! Nicht mehr Hänschen will, nein, ich will!
Ganz zerbrechlich ist die Person noch, die sich da formt. Wenn dem Kind jetzt etwas Schreckliches passiert: Entbehrungen, ständige Angst, Verlust der vertrauten Umgebung und der Menschen, die es kennt, große Schmerzen, dann kann es sein, dass die sich entwickelnde Person zerstört wird, dass sie sich in Wahnvorstellungen flüchtet oder erstarrt. Es kann sein, dass die Person sich nicht zu Ende bildet, weil es zu schrecklich wäre, was sie dann erleben müsste. Deswegen haben wir zu Recht das starke Gefühl, dass man kleine Kinder vor schrecklichen Dingen schützen muss, weil sie nicht stark genug sind, um das heil überleben zu können.
Aber wenn die ersten Äußerungen des entstehenden Ich freundlich begrüßt werden, dann kann es sich entfalten und sich erproben, es kann selbst-bewusst werden.
Und nun ist es für die Eltern keineswegs immer leicht, wenn das kindliche Ich sich ausprobiert. Was sagt jemand, der merkt, dass er einen Willen hat? »Nein«. Nein, ich will nicht. Nein das esse ich nicht. Nein, ich will nicht an die Hand. Nein, ich will nicht ins Bett. Aber: das will ich haben. Ich will, ich will. Und vielleicht schmeißt sich die junge Persönlichkeit auf den Boden, schreit und tobt zehn Minuten lang, weil sie nicht mit Papas Rasiermesser spielen darf.
Das gehört zu den frühen Regungen von dem, was wir doch unseren Kindern wünschen: eine freie und klare Persönlichkeit. Deswegen soll man solche Anfälle von erwachtem Selbstbewusstsein nicht bekämpfen, denn dann würden wir ja das bekämpfen, was wir unseren Kindern wünschen und was das Kostbarste am Menschen ist. Kluge Eltern gehen etwas auf Distanz und warten, bis der Anfall vorbei ist und der kleine Liebling nicht mehr in den Teppich beißt, sondern mit den Teppichfransen spielt. Oder im harmloseren Fall lenken sie ein Kind ab und vermeiden möglichst die Konfrontation. Oder sie bieten eine Alternative an: Möchtest du, dass ich dich an der linken oder an der rechten Hand anfasse, wenn wir jetzt über die Straße gehen? Und schon hat der kindliche Wille eine Beschäftigung, die sinnvoller ist als die Frage, ob man überhaupt an die Hand genommen werden will beim Über-die-Straße-Gehen.
Es ist wichtig, dass man sich klarmacht, dass diese heftigen Willensausbrüche ein Zeichen einer noch schwachen Persönlichkeit sind. In Wirklichkeit braucht die immer noch ganz stark die Stütze durch die Eltern. Und zwar braucht ein Kind zum einen die Unterstützung auf dem Weg ins Unbekannte und Neue. Zum andern braucht es verlässliche Regeln und Grenzen, damit es lernt, sich in der Welt zurechtzufinden.
Unterstützung auf seinem Weg ins Neue braucht ein Kind, weil das Vertrauen zu den Eltern eine sichere Basis ist, von der aus man die Welt entdecken kann. Und je sensibler Eltern auf die Bedürfnisse ihres Babies eingehen, um so mehr erfährt schon der Säugling, was Respekt und Liebe ist. Wer als Kind erfährt, dass jemand einfühlsam mit ihm umgeht, der hat etwas fürs ganze Leben gelernt, er hat nämlich ein Gefühl für Würde bekommen. Und das lernt ein Baby durch banale Dinge, ob es z.B. mit Aufmerksamkeit gefüttert wird, ob da jemand darauf achtet, dass es runtergeschluckt hat, bevor der nächste Löffel kommt, ob man freundlich mit ihm redet oder es anschreit. Ein Kind dagegen, dem vielleicht ein Löffel nach dem anderen rücksichtslos ins Maul gestopft wird, egal, ob es den letzten schon geschluckt hat, das erlebt nicht, dass seine Würde geachtet wird, und es wird selbst viel schwerer ein Gefühl bekommen für die Bedürfnisse anderer und für menschliche Würde. Was Liebe und was Würde ist, was Respekt und Rücksichtnahme ist, das lernt ein Baby zunächst elementar an sich selbst. Und man hat herausgefunden, dass das schon nach kurzer Zeit einen Unterschied macht und dass Babies, mit denen man einfühlsam und respektvoll umging, eine viel stärkere Bindung an die Eltern entwickeln.
Kinder, die eine stabile Bindung an die Eltern haben, werden aber unabhängiger, weil sie sich trauen, das Neue zu entdecken. Wenn es Probleme gibt – keine Angst, Mama und Papa werden es schon in Ordnung bringen! Unabhängigere Kinder probieren mehr aus und lernen mehr, sie spielen konstruktive Spiele, sie haben mehr Ausdauer, wenn etwas nicht klappt, und dadurch erleben sie öfter, dass ihnen etwas gelingt. Es ist ein Weg der Stärkung der Person, der mit Liebe beginnt.
Gott geht es um diese Stärkung der Person. In vielen anderen Religionen ist das Ideal, dass das menschliche Ich sich auflöst ins Nirvana, oder dass es in ein Korsett aus starren Regeln eingezwängt wird. Gott, der Vater von Jesus Christus, setzt dagegen auf die Freiheit seiner Kinder. Und die Basis dafür ist die Bindung an ihn, weil Menschen so der Welt ganz anders gegenübertreten: wie ein Kleinkind, das sicher ist durch die Unterstützung der Eltern, der Welt mutig und neugierig entgegen geht. Freiheit ist immer nur möglich auf dem Hintergrund von vertrauensvoller Bindung, weil so Menschen stark werden zur Freiheit.
In dieser vertrauensvollen Bindung lernt das Kind auch leichter, dass die Welt nach bestimmten Regeln funktioniert. Wenn man sich den Kopf stößt, tut es weh. Wenn man das richtige Wort sagt, geben die Leute einem, was man haben will. Und wenn man mit dem großen Messer spielt, sagen die Eltern »Nein«. Es ist wichtig, dass die Kinder schon früh lernen, dass die Welt nicht willkürlich funktioniert. Es gibt Regeln, die bleiben konstant. Und wenn man seine Eltern liebt, dann wird man auch die Regeln, die sie erklären und aufstellen, beachten – jedenfalls manchmal. Wichtig ist nur, dass die Regeln freundlich und konsequent vertreten werden. So wie Kinder probieren, ob Salz jeden Tag salzig schmeckt, so probieren sie halt auch, ob das große Messer jeden Tag verboten ist. Und Eltern müssen da mit Ausdauer und Zuverlässigkeit für die Beachtung der Regeln sorgen und sie so gut es geht erklären, bis die Kinder sie verinnerlicht und verstanden haben.
Denn eines Tages sollen die Kinder selbst hinausgehen und mit dem, was sie gelernt haben, die Welt erkunden. Die Geschichte von Jesus und seinen Jüngern, die wir vorhin gehört haben, ist ein Hinweis darauf: die Jünger waren lange bei ihm, er hatte eine feste Beziehung zu ihnen aufgebaut, sie hatten bei ihm die Regeln des Reiches Gottes gelernt. Die Basis war gelegt. Und dann sagte er: so, und jetzt geht hinaus und entdeckt die Welt. Bringt das Evangelium überall hin. Ihr seid so weit, ihr könnt es.
Jesus setzt auf Menschen, die eine freie Person sind, er setzt auf ihre Energie und Fantasie. Unsere Person, dieser Fremdkörper in der materiellen Welt, die ist in Wirklichkeit die größte Kraftquelle in der Welt. Wenn unsere Person befreit ist, wenn sie herangewachsen ist in einer respektvollen und liebevollen Umgebung, und wenn sie dann noch die Bekanntschaft Gottes gemacht hat, der die Bais der Freiheit ist, dann werden aus den Kindern von heute freie Menschen, die im Gegenüber zu Gott diese Erde so verwalten, dass auf ihr sein Segen ruht.