Unverdorbener Appetit
Predigt am 1. Oktober 2000 (Erntedankfest) zu 1. Timotheus 4,4-5
4 Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut. Wir brauchen nichts davon abzulehnen, sondern dürfen alles essen, nachdem wir Gott dafür gedankt haben. 5 Es wird durch das Wort Gottes und durch das Gebet rein.
Wenn wir Gott danken, dann stellen wir auch unsere Nahrung, das Essen hinein in die Beziehung zu ihm, und damit wird es rein, d.h. unproblematisch. Man muss keine Skrupel dabei haben. Man kann sich daran freuen ohne schlechtes Gewissen. Denn es ist Gottes Geschenk für uns.
Essen ist in vielen Kulturen, eigentlich fast überall, mit Vorschriften und Tabus umgeben. Manchmal darf man z.B. kein Fleisch essen, oder nur zu bestimmten Zeiten, oder das Fleisch bestimmter Tiere nicht. Oder man darf bestimmte Zusammenstellungen von Nahrungsmitteln nicht essen. Und in dem allen spiegelt sich, dass es da irgendwie ein Problem gibt. Irgendwie steht da immer einer und sagt: Achtung, gefährlich! Halte dich genau an die Regeln, sonst gibt es ein Unglück!
Wir haben da gar kein richtiges Gefühl dafür, weil wir in einer Gesellschaft mit christlichem Erbe leben, und es ist eben christliche Tradition, da keine Angst zu haben und sich von solchen Vorschriften nicht beeindrucken zu lassen.
Aber wenn wir richtig überlegen, dann kennen wir inzwischen auch solche Regeln, auch wenn sie noch nicht so etwas wie Allgemeingültigkeit bekommen haben. Auch bei uns kreisen ganz viele Gedanken ums Essen. In manchen Zeitschriften ist jede Woche wieder die neueste Diät-Idee zu lesen, und manche sehen das sogar als die Ursache von Eßstörungen an. Ja, tatsächlich, Eßstörungen breiten sich aus. In anderen Ländern ist Hunger das Problem, bei uns haben Menschen zunehmend Probleme, beim Essen das richtige Maß zu finden – entweder essen sie zu viel oder zu wenig. Dazu kommen Diäten, die sich manche selbst auferlegen, z.B. kein Fleisch zu essen, aus den verschiedensten Gründen. Oder nur gesunde, nicht vergiftete, also »reine« Nahrungsmittel. Und dann alle diejenigen, die Allergien haben und die Auslöser vermeiden wollen. Und wenn wir auch noch daran denken, was Kinder alles mögen und nicht mögen, und Erwachsene sollen da auch nicht immer einfach sein, wie Mütter da manchmal mit dem Speisezettel jonglieren müssen, und was es auch für Sorgen gibt, ob denn die Kinder genug kriegen und nicht vielleicht doch jemand verhungert – also, so ganz unproblematisch ist bei uns das Essen doch nicht, und der Aufwand, der da manchmal betrieben werden muss, der ist vergleichbar dem Aufwand, den andere Völker betreiben, um den religiösen Speisevorschriften zu genügen.
Es scheint auch bei uns nicht so problemlos mit dem Essen zu sein. Das Schlagwort »Du bist, was du isst« gibt einen Hinweis, warum das so ist: Nahrungsaufnahme ist ganz stark mit uns selbst verbunden; dass etwas gut oder schlecht schmeckt, das ist ein ganz intensives Gefühl, ganz besonders für Kinder, und überhaupt bringt uns das Essen in allerengsten Kontakt mit unserer Umwelt. Da kommt etwas von draußen in uns hinein und wird zu einem Teil von uns selbst. Muss man da nicht genau hinsehen? Können da nicht jede Menge Probleme entstehen?
Aber hier im 1. Timotheusbrief heißt es: was von Gott geschaffen ist, das ist gut, und wir müssen uns nicht von Problemen den Appetit verderben lassen – wenn wir unsere Nahrung auch von uns aus hineinstellen in die Beziehung zu Gott. Gott hat die Welt nicht so geschaffen, dass wir dauernd Probleme kriegen. Es ist richtig, Vertrauen in die Welt zu haben. Sie ist kein gefährlicher Ort, wo wir dauernd aufpassen müssen, dass wir nur nichts falsch machen. Na klar, ich würde trotzdem keinen Fliegenpilz essen und die Gräten auch möglichst vorher rauspulen, und als wir jetzt im Urlaub in England waren, da haben wir auch lieber kein Rindfleisch zu uns genommen. Aber grundsätzlich hat die Welt Vertrauen verdient, weil sie ein Geschenk Gottes an uns ist. Die Probleme fangen erst an, wenn wir das vergessen.
Und dann essen die einen zu viel und können gar nicht genug kriegen und missbrauchen das Essen als Seelentröster und stopfen immer mehr in sich hinein – und die anderen sind so ängstlich, dass ihnen nichts mehr schmeckt, dass sie am liebsten gar nichts mehr essen würden, weil sie dann auch nichts mehr falsch machen könnten, und am Ende entpuppt sich das Misstrauen gegenüber dem Essen als ein Misstrauen gegenüber dem Leben selbst. Und manchmal sind auch die beiden scheinbar so gegensätzlichen Symptome verbunden und dieselben Menschen essen erst mit Heißhunger und ekeln sich hinterher und möchten am liebsten alles wieder los sein.
Das alles ist ja nicht einfach das Problem von bestimmten Menschen, sondern da zeigt sich an einigen, dass wir wahrscheinlich als ganze Gesellschaft inzwischen unsere Probleme haben mit den Lebensmitteln und dann auch mit dem Leben überhaupt. Wir haben keine religiösen Vorschriften für die Nahrungsaufnahme, an die sich alle halten müssten, aber viele Einzelne machen sich selbst ganz unterschiedliche Vorschriften, manchmal aus Gesundheitsgründen, manchmal aus Schönheitsgründen, manchmal aus weltanschaulichen Gründen, manchmal aus einer Mischung von allem. Und wir sollten das verstehen als einen Hinweis, dass in der Tat die Nahrungsaufnahme nicht so unproblematisch ist, wie sie das für uns als ganze Gesellschaft durch unsere christliche Prägung lange Zeit war.
Denn anstatt zu sagen: Achtung! Vorsicht! Gefährlich! sagt der christlichen Glaube: Geschenk! Gut! Danke! Wie überhaupt das Christentum die Welt bejaht und zuversichtlich darauf zugeht im Vertrauen darauf, dass Gott uns keine Fallen stellt und uns keine unlösbaren Probleme beschert. Am Ende seiner Zeit auf der Erde sagte Jesus: Geht hin in alle Welt und macht alle Völker zu Jüngern! Sorgt euch nicht, habt keine Angst – ich bin mit euch, und es gehört alles mir! Christlicher Glaube entdeckt hinter allen Gefahren immer wieder Gott, für den nichts unmöglich ist. Und in seiner ganzen Erdenzeit hat Jesus das Gute in dieser Welt genossen. Eine seiner Hauptbeschäftigungen war es, sich einladen zu lassen und mit Menschen zu essen. Und da, beim Essen, hat er dann wichtige Dinge erklärt und Menschen geholfen und geheilt. So hat er dafür gesorgt, dass auch alltägliche Dinge wie das Essen immer wieder in Beziehung zu Gott standen. Denn nicht die Welt ist problematisch, sondern die Probleme entstehen, wenn wir Gott draußen lassen und dann ohne ihn in der Welt leben.
Durch zwei Dinge wird das Essen hineingeholt in die Beziehung zu Gott: durch Gottes Wort und durch Gebet. Gottes Wort bedeutet: wir dürfen wissen, dass die Welt Gottes gute Schöpfung ist. Wir sollen das verstehen, dass er Freude am Leben hat, und dass er mit Absicht dafür gesorgt hat, dass es uns gut schmeckt. Das sind für Gott keine Dinge, die für seine Aufmerksamkeit zu gering wären. Er hat die Welt erfüllt mit kräftigen Farben und Düften und Gerüchen und Geschmack, er hat uns mit kräftigen Emotionen ausgestattet und mit der Fähigkeit, Schönes zu empfinden und uns von Herzen zu freuen. Er wollte keine fade, eintönige Haferschleim-Welt. Er wollte Leben mit all seiner Großartigkeit und Herrlichkeit. Die Psalmen der Bibel beschreiben das – wir haben vorhin in der Lesung etwas davon gehört.
Und unsere Antwort darauf ist Gebet. Vor allem sicherlich Dank: danke, dass du uns versorgst. Danke für unser Leben, danke, dass es mich gibt. Können Sie das so aus vollem Herzen sagen: Danke, dass es mich gibt? Gott ist sich ganz sicher, dass er uns und der Welt ein großes Geschenk machte, als er uns schuf. Hoffentlich teilen wir diese Überzeugung. Und natürlich Danke für jeden Tag, den er uns gibt, für die Menschen, die zu uns gehören, und eben auch für die Lebensmittel, die wir brauchen und haben, Danke, dass wir nicht nur gerade das Nötigste bekommen, sondern auch viele leckere und duftende Sachen, bei denen uns das Wasser im Munde zusammenläuft. Aber natürlich gehört zum Gebet auch, dass wir vor Gott bringen, was falsch ist bei der ganzen Ernährung: die Menschen, die nicht genug zum Leben haben, die ungleiche Verteilung, all die Fremdstoffe in der Umwelt und in der Nahrung, die Zerstörung von so viel Schönem, all das Schreckliche, das Menschen mit der Schöpfung anstellen, wenn sie denken, dass das doch nur ein Haufen toter Materie ist, mit dem wir tun können, was wir wollen. Gott wollte, dass wir mit ihm in Verbindung sind und es alles vor ihn bringen und so unser Mandat für die Welt ausüben.
Deswegen ist es so eine gute Einrichtung, beim Essen zu beten und Gott für das Essen zu danken. Manchmal kommen Eltern dazu, wenn ihre Kinder das im Kindergarten erleben und dann zu Hause danach fragen. Wenn wir Gott für das Essen danken, dann erinnern wir uns Tag für Tag daran, dass es Sein Geschenk ist. Alles, was wir regelmäßig tun, das prägt unsere Lebenshaltung viel stärker als alle noch so guten Gedanken, die wir mal haben und dann auch wieder vergessen. Es prägt unsere Lebenshaltung, vor dem Essen innezuhalten und zu sagen: genau, es ist von dir, es ist ein Signal deiner Liebe, danke, wir haben verstanden, und jetzt guten Appetit! Es ist nie zu spät, damit anzufangen.
Es geht darum, dass wir uns die Schöpfung zum Freund machen, zum persönlichen Geschenk Gottes an uns.