Im Zentrum des neuen Bundes: Beziehungen
Predigt am 4. Juni 2000 (Einführung Kirchenvorstand) zu Jeremia 31,31-33
31 »Gebt acht!« sagt der HERR. »Die Zeit kommt, da werde ich mit dem Volk von Israel und dem Volk von Juda einen neuen Bund schließen. 32 Er wird nicht dem Bund gleichen, den ich mit ihren Vorfahren geschlossen habe, als ich sie bei der Hand nahm und aus Ägypten herausführte. Diesen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich ihnen doch ein guter Herr gewesen war. 33 Der neue Bund, den ich dann mit dem Volk Israel schließen will, wird völlig anders sein: Ich werde ihnen mein Gesetz nicht auf Steintafeln, sondern in Herz und Gewissen schreiben. Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein«, sagt der HERR.
Im Predigttext des heutigen Sonntages finden wir einen schönen Hinweise auf die verschiedenen Aufgaben eines Kirchenvorstandes. Die Unterscheidung von altem und neuem Bund ist hilfreich, um die Aufgaben einer Gemeindeleitung zu sortieren und zu verstehen und das Besondere des Neuen Bundes schärfer ins Auge zu fassen.
Was ist der »alte Bund«, von dem Gott durch Jeremia spricht? Am Sinai hat Gott seinem Volk Lebensregeln gegeben, die bekanntesten davon sind die 10 Gebote. Er hatte die hebräischen Sklaven aus der ägyptischen Unterdrückung befreit, er hatte sie heil durch die Wüste gebracht, und dann zeigte er ihnen eine Ordnung, wie sie als befreite Menschen und als Volk Gottes leben sollten. Er gab ihnen Regeln für das Verhältnis untereinander, er gab ihnen den Sabbat als den Tag, der an Gott erinnern sollte, er stellte das Verbot der Anbetung fremder Götter auf – und dann fragte er das Volk: wollt ihr euch auf diese Lebensordnung einlassen? Wenn ich weiterhin euer Gott sein soll, dann müßt ihr diese Regeln einhalten, sonst kann ich nicht euer Gott sein. Überlegt es gut, und dann antwortet mir.
Und sie hatten Zeit, um sich die Antwort reiflich zu überlegen, und sie sagten: ja, so wollen wir leben. Wir wollen dein Volk sein, Gott.
Im Schutz der Regeln, die Gott gegeben hatte, lebte das Volk gut. Aber immer, wenn es die Regeln übertrat, dann schadete es sich auf die Dauer selbst. Und das passierte nicht selten. Die Quittung am Ende war eine neue Gefangenschaft, diesmal in Babylon.
Und jetzt – am Ende dieses langen Weges in den Abgrund – ist es eine niederschmetternde Bilanz, die in den Worten Jeremias gezogen wird: die Geschichte des alten Bundes ist eine Geschichte der Vertragsbrüche und eine Geschichte des Scheiterns.
Warum? War der Bund schlecht? Nein, er war gut und hilfreich. Aber im Licht seines Scheiterns wird deutlich, daß er noch nicht das letzte war. Er war ein Schritt auf dem Weg, aber noch nicht das Ziel. Gottes Ziel sind Menschen, die von innen heraus so denken und leben, daß sie seinen Willen tun. Es ist gut, wenn Menschen Regeln haben, die sie davon abhalten, böse Dinge zu tun. Aber keine äußere Ordnung kann es ersetzen, daß Menschen von innen heraus Gottes Ziele bejahen. Ist deshalb diese Ordnung schlecht? Natürlich nicht, und man soll sie so gut wie möglich ausgestalten. Aber jede hilfreiche Lebensordnung ist darauf angewiesen, daß Menschen sie auch innerlich bejahen und mittragen.
In der Ordnung des alten Bundes hat eine beeindruckende Reihe von Menschen gelebt, die aus vollem Herzen Gott liebten und an ihm festhielten. Das Volk Israel, das Volk Gottes, war für sie genau die richtige Umgebung. Nur dort konnten sie leben. Der alte Bund hat den Raum dafür geschaffen, daß Mensch und Gott so zusammenfinden konnten. Aber er wäre trotzdem ein hoffnungsloses Unternehmen, wenn nicht schließlich im Volk des Bundes Jesus geboren worden wäre. Da war er: der wahre Mensch, der Gott so widerspiegelte, wie es eigentlich alle Menschen seit Adam hätten tun sollen.
Erst durch Jesus wird der Sinn des alten Bundes enthüllt, da wird endlich klar, worauf diese ganze lange Geschichte des Gottesvolkes zugelaufen ist: auf den Menschen, der die Liebe Gottes lebt, der sie verkörpert und sichtbar macht, nicht nur in einigen Momenten seines Lebens, sondern von Anfang an bis zum bitteren Ende. Und so haben alle Entscheidungen und äußerlichen Maßnahmen eines Kirchenvorstandes den Sinn, daß sich diese Wirklichkeit Jesu hier unter uns ereignen kann, daß Menschen im Neuen Bund leben können.
Der Alte Bund hat viel mit der Befolgung äußerlicher Regeln zu tun, auch wenn in diesem Rahmen immer wieder Menschen durchgebrochen sind zur Wirklichkeit des lebendigen Gottes. So ist auch unsere ganze Gemeindeordnung zuerst einmal solch ein äußerer Rahmen, aber in diesem Rahmen sollen dann Menschen gerufen werden, daß sie in ihr Herz diese Vision aufnehmen: ein Leben in den Spuren Jesu, als seine Jüngerinnen und Jünger.
Wenn Jesus am Ende seines irdischen Lebens seinen Jüngern das Abendmahl hinterläßt mit den Worten »das ist der neue Bund«, dann bedeutet das: ihr sollt teilhaben an diesem neuen Verhältnis zwischen Gott und Mensch, das ich gelebt habe. Es soll euch nicht äußerlich bleiben. Nehmt es entgegen in Brot und Wein. Wie die Nahrung, die ihr eßt, zu einem Teil von euch wird, so eng sollt ihr mit mir zusammengehören.
Es geht deshalb im Neuen Bund zentral um Beziehungen, um vertraute, enge Beziehungen:
Einmal mit Gott, daß der Herr der Welt, der Allmächtige, ein vertrauter Vater wird, einer, den wir durch Jesus kennen, und mit dem, wir, obwohl wir ihn nicht sehen, doch in so einer engen Beziehung leben, daß wir dadurch von Grund auf andere Menschen werden. Deswegen ist die Erfahrung des Heiligen Geistes im Christentum so zentral. Er ist die Erfüllung der Verheißung, daß Gott uns sein Gesetz ins Herz schreiben wird: Gott nicht mehr fern und uns gegenübertretend mit Geboten, die uns äußerlich bleiben, sondern Gott in uns, Gott im Zentrum unser Person, und die Sache Gottes und unsere Sache werden eins.
Deswegen ist auch die Gemeinde etwas, was uns viel näher auf den Leib rückt als viele andere Gemeinschaften. Gott will uns in einer Tiefe erreichen, an die wir sonst nur ganz selten heranreichen. Er will mit uns über die wirklichen Lebensfragen reden, über die Entscheidungen, die wirklich zählen; er will auch an all die Barrieren in unserem Herzen heran, mit denen wir uns vor seiner Nähe schützen zu müssen meinen.
Ist es da ein Wunder, daß Gemeinde auch oft Konflikt bedeutet, daß beglückende Höhen und beängstigende Tiefen, Freude und Schmerzen nah beieinander liegen können? Gott will heran an unsere unerlösten Anteile – und ich fürchte, davon gibt es mehr, als wir denken. Da werden Kräfte frei, denen wir in der freundlichen Konversation selten begegnen. Nicht umsonst lesen wir im Neuen Testament immer wieder von Dämonen, was auch immer das sein mag. Christentum ist nichts Harmloses.
Und es ist Aufgabe der Gemeindeleitung, einmal dafür zu sorgen, daß ein äußerer Rahmen da ist, in dem Gott uns tatsächlich so nahe kommen kann. Dann aber auch geistliche Reife zu haben, um nicht wie ein Blatt im Wind hilflos von all den Kräften hin und her getrieben zu werden, Klarheit und Mut, um sich nicht erschrecken oder einschüchtern zu lassen, sondern beharrlich dafür einzustehen, daß Heilung und Befreiung geschehen können.
Es geht in der Gemeinde aber auch um vertraute und wesentliche Beziehungen zu andern Menschen. Und zwar deshalb, weil wir diese Begegnung mit Gott, die ich gerade beschrieben habe, gemeinsam mit andern erleben, die ebenfalls Jünger und Jüngerinnen Jesu sind. Gott will uns in der Gemeinschaft mit andern begegnen.
Aber es geht dabei nicht um die oft gehörte Klage, daß Menschen heute zu wenig Gemeinschaft hätten, und daß wir wieder mehr Anlässe dazu schaffen sollten. Es geht auch nicht darum, daß wir netter zueinander sein sollten. Es geht um eine andere Qualität von Beziehungen. Die war zu allen Zeiten etwas Besonderes.
Menschen sollen die Oberflächlichkeit und das Konventionelle verlassen und sich da begegnen, wo die wirklichen Lebensfragen sich melden. Es geht darum, daß sich eine andere Qualität der Gemeinschaft entwickelt. Wo man ohne Furcht über das sprechen kann, was wirklich zählt, wo in der Zusammengehörigkeit ungeahnte Kräfte frei werden, wo die gemeinsame Sache viel tiefer verbindet, als wir sonst durch gemeinsamen Lebensstil, Vorlieben, Alter oder Herkunft verbunden sind. Und diese gemeinsame Sache ist kein sachliches Ziel, sondern es ist die Liebe zu Jesus und dem Leben, das er bedeutet. Da wo wir uns gegenseitig zu erkennen geben als Menschen, die ihn lieben, und wo wir diese Liebe aussprechen und praktizieren in Gebet, Lobpreis und Bekenntnis, da machen wir uns verletzlich wie sonst vielleicht nur in der Beziehung zu einem geliebten Menschen. Aber wir erkennen uns auch gegenseitig in einer Tiefe, die wir sonst selten erleben. Christliche Gemeinde bedeutet eine Qualität der Beziehung, wo man – wie wir aus dem Neuen Testament wissen – auch bereit ist, für den andern sein Leben zu riskieren, von kleineren Dingen gar nicht zu reden.
Und wer das verstanden und erlebt hat, auch wenn es nur ansatzweise so war, der muß schon viel in sich durchstreichen, wenn er das wieder vergessen will und zurück in das alte Leben, wo wir uns mit unseren Masken und Sonntagsgesichtern begegnen. Aber genau da, wo wir uns wirklich begegnen, da wird Gott mit dabei sein und uns in einer Weise verändern, daß die Bibel von Neuschöpfung redet. Und der Weg, wie schon Jesus diese Veränderung realisiert hat, sind intensive, ehrliche geistliche Beziehungen.
Beziehung ist das Schlüsselwort des neuen Bundes. Daß sich solche Beziehungen in unserer Gemeinde entwickeln, zu Gott und gleichzeitig mit Menschen, das ist die eigentliche Verantwortung der Gemeindeleitung. Man kann das nicht erzwingen, aber man kann die Sehnsucht danach wecken und stärken. Das muß eine Gemeindeleitung sicher zuerst bei sich selbst tun. Nur dann, wenn Menschen sich das auf jeden Fall wünschen, nur dann werden sie dafür beten und arbeiten, nur dann werden sie ihre Zeit und noch mehr für Gott zur Verfügung stellen.