Weisheit: Die Regeln des normalen Lebens (Weisheit I)
Predigt am 23. Januar 2000 mit Versen aus dem Buch der Sprüche
Ich weiß nicht, wer von uns sich noch an den Sommer 1959 erinnert. Es war ein sehr heißer Sommer. Ich war damals 5, und in der Erinnerung eines kleinen Jungen war das ein Sommer, den ich nur überstanden habe, weil ich jede Menge Getränke mit Eiswürfeln aus dem Kühlschrank trank. Im Garten wurde der Rasen fast jeden Tag gesprengt – daß man mit Trinkwasser sparsam umgehen muß, war damals noch nicht so im Bewußtsein. So gerne ich damals mit dem Schlauch den Rasen bespritzt habe – hinterher gab es immer eine sehr unangenehme Aufgabe: im Keller mußte der Wasserhahn zugedreht werden. In meinen Augen damals war das ein unsympathisches, spuckendes und zischendes Ding, das auch noch so hoch angebracht war, daß ich kaum drankam und das außerdem schon ziemlich eingerostet war und sich schwer drehen ließ. Jedes Mal war es wieder ein Abenteuer, dieses Ding zuzukriegen. Ich weiß noch, wie ich einmal daran beinahe verzweifelt wäre: ich drehte und drehte mit aller Kraft, aber das Wasser hörte nicht auf, ja, der Hahn ließ sich schließlich gar nicht mehr drehen, er bewegte sich einfach nicht mehr weiter – bis ich schließlich merkte, daß ich ihn in die falsche Richtung gedreht hatte und ihn jetzt mühsam noch einmal ganz zurückdrehen mußte.
Was lernt man aus dieser Geschichte? Es reicht nicht, sich mit aller Kraft einzusetzen – man muß auch die richtige Richtung kennen. Man muß es nicht nur hier haben (im Arm), sondern auch hier (im Kopf). Die größte Anstrengung nützt nichts, wenn man rechts und links verwechselt. Im Gegenteil, je länger man mit aller Kraft in die falsche Richtung dreht, um so mühsamer ist es hinterher, das zu korrigieren. Es gibt einfach bestimmte Regeln, die man nur zu seinem Schaden ignoriert.
Nun wird man einem Fünfjährigen ja noch zugestehen, daß er unter Streß rechts und links durcheinander bringt; und der »Schaden« bestand ja nur aus ein paar Litern Wasser, die jetzt noch zusätzlich durch den Schlauch rauschten, bis ich den Hahn endlich zu hatte.
Aber es gibt natürlich andere solche Regeln und Zusammenhänge, die man nicht ungestraft ignoriert, auch schon als Kind nicht: daß Herdplatten heiß sind, daß Autos stärker sind als Fußgänger; daß Sandkuchen nicht besonders gut schmeckt, daß man sich erkälten kann, wenn man sich nach dem Baden nicht die Haare abtrocknet und viele andere solcher Regeln. Es gibt im Leben von Menschen eine Zeit, in der sie nicht glauben, daß es solche Regeln gibt und wo sie denken, die Erwachsenen hätten sich das alles ausgedacht, um die Kinder zu ärgern. Im Lauf der Zeit sehen sie das dann aber doch ein, daß die Welt nach bestimmten Regeln funktioniert und daß wir das auch nicht ändern können, wenn wir mit aller Kraft in die falsche Richtung drehen.
Aber dieser Lernprozeß ist nicht zu Ende, wenn man, sagen wir mal, acht oder zehn oder 14 oder 24 Jahre alt ist. Die einfachen Dinge beherrscht man dann meistens, aber die Dinge, die man anschließend lernen muß, werden komplizierter. Zum Beispiel, daß Geld normalerweise von allein nicht mehr wird, sondern eher weniger. Daß Lügen kurze Beine haben. Daß Menschen es nicht mögen, wenn man sie schlecht behandelt. Und viele andere solcher Dinge mehr. Das ist ein lebenslanger Lernprozeß, in dem wir die Regeln kennenlernen, nach denen das Leben meistens funktioniert. Und oft lernen wir diese Regeln erst nach schmerzhaften Erfahrungen, und manchmal selbst dann nicht.
Und nun ist es wichtig, daß wir auch bei den Lebensregeln das Rad nicht alle selbst erfinden müssen. Daß Autos stärker sind als Menschen, diese Erfahrung sollte man möglichst nicht am eigenen Leibe machen. Da sollte man auf Erfahrungen zurückgreifen, die andere schon längst gemacht haben. Man sollte aber auch möglichst nicht drei Ehen brauchen, bis man sich einigermaßen zurechtfindet im Verhältnis von Mann und Frau. Und im Verhältnis zum Geld sollte man nicht erst bis über beide Ohren in Schulden stecken, bevor man begreift, wie es funktioniert.
Von den Erfahrungen anderer zu lernen und die Regeln zu kennen, nach denen die Welt und das menschliche Leben funktionieren, darum geht es in einem Teil der Bibel, den man unter dem Stichwort »Weisheit« zusammenfassen kann. In der Weisheit geht es um die alltägliche Regeln des Lebens. Da gibt es wenige theologische Begriffe, aber viel Praxis: »Ein freundlicher Blick erfreut das Herz, und eine gute Nachricht stärkt die Glieder« (15,30). Wie wahr! »Fröhlichkeit ist gut für die Gesundheit« (17,22a). Ja, denk immer dran! »Wer Geschenke verteilt, hat alle Welt zum Freund« (19,6b). Das hat Herr Schreiber genauso gewußt wie Herr Kohl. Aber es ist auch klar, daß solche Freundschaft nicht besonders tiefgehend und beständig ist.
Die Weisheit der Bibel ist sehr praktisch. Da sind lebenswichtige Wahrheiten so zusammengefaßt, daß normale Menschen sie verstehen und anwenden können. In der Weisheit werden keine Gebote formuliert. Da steht nicht: »Du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen«. Stattdessen heißt es: »Entschieden das Rechte zu tun, führt zum Leben, beharrlich Unrecht tun führt zum Tod« (11,19). In der Weisheit erfahren wir, wie das Leben normalerweise läuft.
Eins machen die Weisen, die diese Regeln gesammelt haben, deutlich: Menschen, die gottesfürchtig, ehrlich, fleißig und weise sind, werden auf viele Arten belohnt werden. »Wenn du zu anderen gütig bist, tust du dir selber wohl; wenn du grausam bist, tust du dir selber weh.« (11,17). »Wenn du mit anderen teilst, wirst du selbst beschenkt« (11,25a). »Wer Haus und Familie nicht in Ordnung hält, dessen Besitz löst sich in Luft auf« (11,29). »Wer Unrecht sät, wird Unheil ernten; dann kann er seinen Mutwillen an niemandem mehr auslassen.« (22,8).
Woher wußten die Verfasser dieser Lebensregeln das? Sie hatten es in vielen Jahren persönlicher Erfahrung gelernt. Sie waren Menschen wie wir, vielleicht mit der Ausnahme, daß sie konzentriert das Leben beobachteten. Sie versagten und lernten ein paar unangenehme Lektionen, sie beobachteten die Erfolge und den Niedergang anderer, und vor allem schrieben sie ihre Entdeckungen auf und teilten sie mit anderen. Denn es ist besser, aus den Erfahrungen anderer zu lernen, als sie alle am eigenen Leibe machen zu müssen. Die Lebensregeln wurden diskutiert, verändert, und an die nächste Generation weitergegeben.
So entstand im Lauf der Zeit ein Schatz an Erfahrungssätzen, der in großen Sammlungen zusammengefaßt wurde und schließlich als Buch der Sprüche oder der Sprichwörter in die Bibel aufgenommen wurde. Dieses Buch spiegelt die Gesetze wider, nach denen der Alltag normalerweise funktioniert. Natürlich kann man so ziemlich zu allen Regeln auch Ausnahmen finden. Zum Beispiel heißt es: »Wer seine Felder bestellt, hat viel zu essen; wer sich mit windigen Geschäften abgibt, hat viel zu hungern.« (28,19) Aber auch hart arbeitende Bauern können bei Trockenheit in Not geraten und Faulpelze gewinnen manchmal im Lotto. Klar! In den Sprichwörtern steht, wie das Leben normalerweise läuft. Über Ausnahmen kann man sich Gedanken machen, wenn man die Regeln kennt. Und die Regel ist, daß du mit großer Wahrscheinlichkeit sehr kümmerlich leben wirst, wenn du auf Lottomillionen hoffst, statt zu arbeiten. Wenn du dein Leben auf die Ausnahme einrichtest, gibt es mit ziemlicher Sicherheit eine Katastrophe.
Es gibt natürlich Leute, die glauben, daß sie besonders clever sind, wenn sie die Regeln unterlaufen. Aber die Weisheit der Sprichwörter ist ja nicht etwas, was sich Leute ausgedacht haben, um anderen etwas einzureden. In der Weisheit geht es um die Regeln, nach denen die Welt tatsächlich funktioniert, weil Gott diese Regeln in die Welt hineingelegt hat. Man kann den Wasserhahn mit aller Gewalt in die falsche Richtung drehen, man kann auf ihn schimpfen, man kann beschließen, daß Wasserhähne ab sofort andersherum zu drehen sein sollen – aber das Wasser hört dadurch nicht auf zu fließen. Man kann zwar versuchen, diese Regeln zu ignorieren oder zu überlisten, und das geht manchmal eine Zeitlang auch gut, aber irgendwann greifen sie doch unweigerlich.
Ich sage es an einem aktuellen Beispiel: Als ich mich im letzten Jahr entschloß, über die Weisheit zu predigen, da konnte keiner wissen, welche Ausmaße der CDU-Spenden-Skandal noch annehmen würde. Als jetzt aber jeden Tag mehr ans Licht kam, da habe ich das immer mit dem Gedanken an diese Predigtreihe gehört. Ich habe gedacht: 10, 15 Jahre oder noch länger haben Leute da im Geheimen krumme Wege beschritten. Aber was steht in den Sprichwörtern? »Wahrheit besteht für immer, Lüge nur einen Augenblick« (12,19).
An dieser Stelle ist Schadenfreude ganz unangebracht, weil wir alle die Dinge bei uns kennen, von denen wir uns nicht wünschen, daß sie ans Licht kommen. Trotzdem ist aus dieser Sache einiges zu lernen: Menschen haben gedacht, daß nicht ans Licht kommen würde, was sie taten. Und all die Jahre über haben sie Recht behalten. Sie konnten sich sicher fühlen und haben es wohl auch getan. Aber jetzt greifen doch die Regeln, nach denen das Leben funktioniert, und der Schaden ist viel größer als der Nutzen, den die Leute sich die ganze Zeit erhofft hatten. Menschen, die viel bewegt und erreicht haben in ihrem Leben, verderben sich am Ende ihr ganzes Lebenswerk.
Das ist auch ein Beispiel dafür, daß man möglichst nicht alle diese Regeln erst durch die eigene Erfahrung herausfinden sollte. Oft geht dabei einfach zu viel kaputt. Besser ist es, rechtzeitig auf die konzentrierte Erfahrung der Sprichwörter zu hören. Ihre Behauptung ist, daß es nicht nur moralisch falsch ist, wenn man lügnerisch, betrügerisch oder faul ist, sondern daß das auch töricht ist, daß man sich damit am Ende selbst schadet. Die Regel ist, daß der Gottesfürchtige, der Anständige, der Fleißige und der Weise auf viele Arten belohnt werden.
Deshalb taucht in den Sprichwörtern zwar auch der Böse auf, der Gewalttäter und Betrüger. Aber noch viel häufiger reden sie vom »Dummkopf«, vom »Narren«, vom »Idioten«. Damit meinen sie nicht einen Menschen mit einem niedrigen Intelligenzquotienten, sondern sie denken an Menschen, die sich keine Gedanken machen über die Grundregeln des Lebens. Ihnen stehen Menschen vor Augen, die einfach tun, was ihnen gerade einfällt und nicht überlegen, welche Folgen das nach sich zieht. »Dummköpfe werden durch ihre eigene Dummheit bestraft« heißt es da (16,22b). »Wer keine Selbstbeherrschung hat, kommt um. Seine bodenlose Dummheit bringt ihn ins Grab.« (5,23).
Und dann lesen wir immer wieder die Warnung, daß man sich davor hüten soll, einen Dummkopf belehren zu wollen. Das hat gar keinen Zweck: »Einen unverbesserlichen Narren kannst du in einem Mörser mit dem Stößel stampfen, mitten zwischen den Körnern. Die Körner verlieren dabei ihre Hülsen, aber der Narr (verliert) nicht seine Dummheit.« (27,22) Deshalb soll man einem Dummkopf aus dem Weg gehen, weil man sich sonst selbst schadet, ohne ihm zu helfen: »Wer sich zu Klugen gesellt, wird klug; wer sich mit Dummköpfen befreundet, ist am Ende selbst der Dumme.« (13,20). Und ganz drastisch: »Lieber mit einer Bärin zusammentreffen, der man die Jungen geraubt hat, als mit einem unverbesserlichen Narren in seiner Verbohrtheit« (17,12).
Dummköpfe zeichnen sich dadurch aus, daß sie nicht über die Folgen nachdenken. Sie tun einfach, was ihnen in den Sinn kommt oder was andere ihnen einreden. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der man Menschen einredet, es wäre richtig, jedem Impuls sofort nachzugeben. Genau das ist es, was die Sprichwörter als Kennzeichen des Dummen beschreiben: »Der Kluge ist vorsichtig und meidet das Böse; der Dumme handelt unbeherrscht und überschätzt sich.« (14,16)
Als König Salomo sich am Anfang seiner Herrschaft etwas von Gott wünschen durfte, da wünschte er sich Weisheit, und er bekam sie. Es war genau der richtige Wunsch. Die Kenntnis der Lebensregeln ist die wichtigste Grundlage für ein gelingendes Leben. »14 Weisheit besitzen ist besser als Silber, wertvoller als das reinste Gold« heißt es in den Sprichwörtern, »15 Sie ist kostbarer als Edelsteine; nichts, was man sich wünschen könnte, ist mit ihr vergleichbar. 16 Mit der rechten Hand bietet sie dir langes Leben und mit der linken Wohlstand und Ansehen. 17 Sie erfüllt dein Leben mit Glück und Sicherheit. 18 Sie ist der wahre ›Baum des Lebens‹; wer sie erlangt und festhält, kann sich glücklich preisen!« (3,14-18)
Ich lade Sie ein, in den kommenden Wochen diese Entdeckungsreise durch das Buch der Sprichwörter fortzusetzen!