Hoffnung für die Armen (Das Reich Gottes IV)
Predigt am 24. August 2003 zu Matthäus 11,25
Die Armen haben im Denken, Reden und Handeln Jesu immer eine zentrale Rolle eingenommen. Als Johannes der Täufer ihn fragen lässt, ob er denn der Retter sei, auf den alles warten, da lässt er ihm ausrichten (Matth. 11,5):
und dann kommt die Spitze und die Hauptsache von allem:
Das steht als Höhepunkt am Ende. Die Bergpredigt dagegen beginnt mit der Erwähnung der Armen. Sie sind die Ersten, von denen Jesus in den Seligpreisungen spricht. Bei Lukas (6,20):
und bei Matthäus (5,3):
Und dann geht es weiter mit Menschen, die traurig und auf verschiedene Weise arm dran sind, und Jesus sagt ihnen jedes Mal, dass sie in seinen Augen richtig sind und dass sie sich in der Perspektive des Reiches Gottes freuen können.
Und da setzt Jesus eine Linie fort, die sich schon im Alten Testament findet: das Wissen darum, dass Gottes Aufmerksamkeit, Liebe und Fürsorge ganz besonders den Armen gilt. Deshalb gab es im jüdischen Volk die Erwartung, dass Gott am Ende für einen Ausgleich sorgen werde: dass die Armen im Endgericht und in der neuen Welt Gottes für ihre Leiden entschädigt werden.
Aber das Neue an Jesus war ja nun, dass er sagte: das Reich Gottes ist nahe. Das heißt: nicht nur irgendwann in einer fernen Zukunft oder nach dem Tod wird Gott das alles tun, sondern jetzt ist die Zeit, wo die Erfüllung aller Verheißungen Gottes beginnt. Und tatsächlich war das, was Jesus tat, zu einem ganz großen Teil eine Zuwendung zu den Armen in jeder Form. Es waren die Armen, Kranken und Besessenen, die Krüppel, die Blinden und Lahmen, denen er sich zuwandte, die er heilte und befreite. Es waren die sogenannten »Sünder«, Menschen mit verachteten Berufen oder schlechtem Ruf, die bei ihm von Neuem ihre Würde bekamen. Und es waren die einfachen und desorientierten Menschen, das sogenannte »Volk des Landes«, die seine Nähe suchten. Das war ja fast immer der Grund für den ganzen Ärger, den er hatte: dass er mit den falschen Leuten zusammen war.
Und immer wieder sagte er laut und deutlich oder auch mal mehr zwischen den Zeilen, dass die am nächsten dran waren am Reich Gottes. Wie wir es vorhin im Evangelium (Matth. 11,25) gehört haben, diesen Jubelruf und Lobpreis Jesu:
Offensichtlich haben die Armen und Verachteten einen Zugang zur Wirklichkeit Gottes, der denen verborgen ist, die leichter und ohne diese ganzen Probleme durch die Welt kommen. Gerade weil sie sich nicht anders helfen können, deshalb haben sie einen viel besseren Zugang zur Hilfe Gottes. Wenn ich mal diesen sehr einfachen Vergleich benutzen darf: wenn wir Hunger haben, dann riechen wir den Duft aus der Küche viel eher, als wenn wir satt sind.
Die verborgene Gegenwart Gottes in dieser Welt ist denen verschlossen, die sie nicht brauchen, bzw. die glauben, sie nicht zu brauchen. Aber für alle, die selbst gar nichts haben, sind diese verborgenen Kraftquellen Gottes nahe. Und zwar immer ganz besonders dann, wenn sie nichts anderes mehr in der Hand haben.
Von Hans Lilje, dem ersten Nachkriegsbischof unserer Landeskirche, gibt es so eine Geschichte aus der Zeit der Herrschaft Hitlers: da ist er von der Gestapo inhaftiert worden und sitzt allein in einer Gefängniszelle, voll Ungewissheit, was jetzt mit ihm passieren wird. Aber zum Glück hat er noch einen kleinen Bleistiftstummel und ein Stückchen Papier dabei, und damit schreibt er sich schnell den Anfang des 23. Psalms auf: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Und unter das Wort »nichts« macht er einen dicken Strich. Und dieser Vers begleitet ihn durch seine ganze Gefängniszeit und tröstet ihn und gibt ihm Mut.
Gerade in Verfolgungszeiten haben Christen diese verborgenen Kraftquellen Gottes wieder neu entdeckt. Aus der Zeit der Herrschaft Hitlers gibt es deshalb ganz viele solcher Berichte von bekannten und unbekannten Männern und Frauen, die durch die äußeren Umstände zu Armen wurden und dann erlebt haben, dass diese Verheißung Jesu stimmt: die Armen – in diesem Fall die Angegriffenen und Verfolgten – haben einen ganz besonderen Zugang zum Reich Gottes.
Eine andere Geschichte fällt mir dazu ein, die aus einem ganz anderen Zusammenhang stammt. Die habe ich mal in einem Film gesehen, der aber wohl auf echten Erinnerungen beruht. Auch das wieder eine Geschichte aus der Hitlerzeit: über Leute aus einer Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet. Alles kleine Leute, die waren vor 1933 beinahe alle Kommunisten gewesen, und auch unter dem Nationalsozialismus waren sie deutliche Gegner des Regimes und versuchten mit ihren Mitteln Widerstand zu leisten. Natürlich alles streng geheim. Die Nazis wussten, dass das eine rote Siedlung war und passten gut auf. Immer mal wieder wurde einer verhaftet, und nicht immer kam er wieder frei. Und trotzdem haben sie sich nicht nur zu konspirativen Treffs versammelt. Ab und zu trafen sie sich heimlich in einem der Arbeiterhäuschen in der Küche, Männer, Frauen und Kinder, haben gegessen und getrunken und waren fröhlich zusammen, sie haben ihre alten Lieder gesungen und haben sich das von keiner Bedrohung nehmen lassen.
Warum haben sie dieses Risiko auf sich genommen? Man könnte sagen: wie unvernünftig, das war doch auch laut, und die Gefahr, dass es aufflog, war groß. All das Risiko für ein bisschen Essen, Trinken und Singen?
Aber offensichtlich war das für sie eine Kraftquelle, auf die sie nicht verzichten konnten. Auch solche Geschichten gibt es viele – Geschichten von Menschen unter großem Druck, die trotzdem ihre Feste feiern, die Theater spielen oder Musik machen, weil sie da Kraft finden. Auch in den Konzentrationslagern hat es das gegeben. Das war kein Luxus, sondern das war Lebensmittel genauso wie Brot.
Und ich habe mir gedacht: wenn früher die Menschen mit Jesus zusammensaßen und mit ihm aßen und tranken und feierten, das muss mindestens so gut und hilfreich gewesen sein wie diese Feiern der kommunistischen Arbeiter. Die Handlung dieses Films habe ich längst vergessen, aber dieses Bild, wie sie da zusammensitzen, das ist mir geblieben. Damals habe ich eine Ahnung davon bekommen, was Abendmahl eigentlich sein sollte: ein Fest, bei dem man gemeinsam zurückfindet zu den Wurzeln, aus denen man lebt, und die einem auch Feindschaft und Bedrohung nicht nehmen können.
Es ist kein Zufall, dass Jesus mit den Jüngern am Abend vor seiner Verhaftung zum ersten Mal das Abendmahl gefeiert hat, in diesem Horizont von Gefahr und Tod. Das Abendmahl ist eine gefeierte Erinnerung an den Sieg des Lebens, den Jesus in seinem Leben und endgültig in seinem Tod errungen hat. Dieser Sieg soll da nicht gepredigt oder durchdacht, sondern mit allen Sinnen praktisch erlebt werden, damit man mit Leib und Seele da verankert ist. Und es ist schade, dass man zur Zeit Hitlers so wenig davon in vielen christlichen Kirchen finden konnte, weniger als in den Feiern von Leuten, die den Christen sehr skeptisch gegenüberstanden.
Was genau ist es eigentlich, das den Armen diesen Zugang zum Reich Gottes eröffnet? Es liegt daran, dass
- Gott eine besondere Nähe zu den Armen hat. Davon hatte ich schon gesprochen.
- die Armen keine Alternativen haben – äußere Mittel, um ihr Leben zu sichern haben sie ja kaum. Auch daran hatten wir schon gedacht. Und damit hängt nun
- zusammen, dass die Armen weniger blockiert sind in ihrer Art, die Welt zu sehen. Wenn wir zurückdenken an die Zeit Jesu, dann waren die Pharisäer blockiert durch ihr theologisches Wissen darüber, was richtig und falsch ist. Sie konnten deshalb keine neuen Erfahrungen machen. Sie dachten, wie »man« denkt. Sie redeten, wie »man« redet. Sie fanden das gut und richtig, was »man« gut finden sollte. Sie tauchen in den Geschichten der Evangelien sehr selten als Individuen auf, sondern fast immer als gesichtslose Gruppe, als Agenten einer Meinung. Sie sind die Vertreter des »man tut dies nicht, man tut das nicht«. Und sie fühlten sich wohl und sicher im Schutz dieser Gruppe. Selbst wenn sie materiell gar nicht so gut dran waren (die wenigsten Pharisäer waren reich).
Die Leute, die zu Jesus kamen, hatten diesen Schutz einer Gruppenmeinung nicht. Sie gehörten ja gerade zu denen, die all das taten, was »man« nicht tut. Dadurch waren sie viel schutzloser. Aber sie waren auch nicht blockiert gegen neue Erfahrungen. Und als sie bei Jesus die neue Erfahrung machten, die Erfahrung der Kraft und Gegenwart des Reiches Gottes, da überlegten sie nicht, ob »man« da wohl dazugehören sollte und ob das auch alles nach Vorschrift war, sondern sie kamen einfach und drängten sich, um dabei zu sein.
Ich sage vorsichtshalber, dass unser Verstand eine gute, eine wunderbare Gabe Gottes ist, und wir sollen ihn gebrauchen, wir sollen ihn trainieren, wir sollen ihn schätzen. Es ist kein Zeichen von Glauben, wenn man den Verstand unbenutzt lässt. Aber der Verstand hat auch seine besondere Gefährdung: man kann sich in seinem Kopf die Wirklichkeit so zurechterklären, dass man zu ist für neue Erfahrungen, dass man für jeden Topf schon den richtigen Deckel hat und nicht mehr authentisch leben kann.
Natürlich können auch Arme gefangen sein in kurzschlüssigen Urteilen und Vorurteilen, aber offensichtlich ist bei ihnen die Chance größer, dass sie sich für neue Erfahrungen öffnen. Die Gestapobeamten, die Hans Lilje in seine Zelle sperrten, die haben sich nicht vorstellen können, dass so ein kleiner Zettel mit einem Bibelwort ihrem Gefangenen ungeahnte Widerstandskraft geben könnte. Aber Lilje, ihr Gefangener, der wusste es. Und so durchlebte er diese ganze Zeit der Inhaftierung im Horizont der Hoffnung. Er wusste, dass die Macht der Nazis begrenzt war, er erinnerte sich immer wieder neu: mein Herr ist der Herr über allen Herren, und er ist mein Hirte, der mich nicht vergisst, sondern für mich sorgen wird.
Jesus hat die Kraft des Reiches Gottes vom Himmel auf die Erde gebracht. Aber noch ist sie verborgen. Noch kann man die Augen davor verschließen. Aber die Armen haben ein Gespür dafür. Und wo Christen gewollt oder ungewollt in die Nähe der Armen kommen oder selbst arm sind, da entdecken sie oft die Realität des Reiches Gottes in einer neuen Tiefe und stimmen ein in den Lobpreis Jesu: