Lebendiger Geist – so regiert Jesus
Predigt am 1. Juni 2003 zu Johannes 15,26-16,4
26 Der Beistand wird kommen, der an meine Stelle tritt. Es ist der Geist der Wahrheit, der vom Vater kommt. Ich werde ihn zu euch senden, wenn ich beim Vater bin, und er wird als Zeuge über mich aussagen. 27 Und auch ihr werdet meine Zeugen sein, denn ihr seid von Anfang an bei mir gewesen.
16,1 Ich habe euch dies gesagt, damit ihr nicht an mir irre werdet. 2 Sie werden euch aus den Synagogengemeinden ausschließen. Es wird sogar soweit kommen, dass alle, die euch töten, es als einen Opferdienst zur Ehre Gottes verstehen.
3 Das alles werden sie euch antun, weil sie weder mich noch den Vater erkannt haben. 4 Aber ich habe es euch gesagt. Wenn es eintrifft, werdet ihr an meine Worte denken. Ich habe euch dies alles zu Anfang nicht gesagt, weil ich ja bei euch war.
Jesus sagt hier einen scharfen Konflikt voraus, den seine Jünger erleben werden. Und er sagt es ihnen vorher, damit sie nicht erschreckt und verwirrt werden, wenn es so weit ist. Er sagt ihnen: »ihr werdet hineingezogen werden in die Auseinandersetzung, die ich begonnen habe. Kriegt bitte keinen Schreck, wenn es so weit ist. Das wird hart werden, aber es ist unvermeidlich. Und es ist nicht eure Schuld. Es liegt an den anderen.«
Es ist wichtig, dass wir uns das gut merken. Christen, die es ehrlich meinen, haben ja gelernt, das man die Schuld zunächst einmal bei sich selbst suchen soll. Dass man sich nicht über den Splitter im Auge des Nächsten aufregen soll, sondern lieber den Balken aus dem eigenen Auge entfernt. Weil sie so gelernt haben, auf ihr eigenes Herz zu schauen und in einem Streit nach den eigenen Anteilen zu suchen, sind Christen dann in der Regel auch friedlichere und gesündere Zeitgenossen.
Aber das Ganze hat eine Gefahr: wenn es einen Konflikt gibt, in dem nicht die Schuld irgendwie bei beiden liegt, sondern wo es einen Angreifer gibt, und einen, der verfolgt wird. Wenn die Schuld ganz einseitig verteilt ist – da ist es gefährlich, wenn das Opfer nun auch noch anfängt, bei sich selbst nach der Ursache zu suchen und sein Herz durchforscht, was es denn falsch gemacht hat. Oder wenn ein Christ auch noch zu seinem verfolgten Bruder oder seiner Schwester sagt: »Du musst etwas verschuldet haben, wenn du verfolgt wirst. Durchforsche dein Herz nach Sünde und tu Buße!«. Und dann ist das Opfer nicht nur verfolgt, sondern es hat obendrein ein schlechtes Gewissen, und die Solidarität wird ihm verweigert, auf die es gerade jetzt so angewiesen ist.
Wir kennen so etwas ja auch von Menschen, die Opfer von Missbrauch gewesen sind, dass sie auch noch die Schuld bei sich selbst suchen und nicht bei den Tätern. Offenbar sind Menschen immer dann besonders in Gefahr, wenn sie einer richtig hässlichen Bosheit begegnen. Es passt nicht in unser Weltbild, dass es wirklich böse Menschen gibt, und dann suchen wir eher die Schuld bei uns selbst und sagen: es kann doch nicht sein, dass die anderen wirklich so schlecht sind, wie es aussieht. Irgendetwas muss mit mir nicht stimmen, wenn ich das so empfinde. Und wir werden irre an uns selbst.
Das gilt auch in ganz anderen Zusammenhängen: es gibt Verleumdungen, in denen auch nicht ein Körnchen Wahrheit ist; es gibt gemobbte Schüler, deren einzige Schuld darin besteht, dass sie sich nicht gut wehren können und die falschen Klamotten tragen; es gibt Länder, die einfach so mit Krieg überzogen werden, nur weil eine Großmacht sie schlucken will; es gibt Situationen, da muss man nicht die Schuld irgendwie auf beiden Seiten suchen, sondern Partei ergreifen für die Gerechtigkeit.
Und die Nachfolger Jesu werden in solche Situationen kommen, in denen sie angegriffen werden, ohne eigenen Schuld, nur weil sie zu Jesus gehören. Damit dann ihr Weltbild nicht durcheinander kommt, sagt Jesus ihnen ganz deutlich voraus: »Es wird solche Situationen geben, in denen ihr wegen mir in einen massiven Konflikt kommt, ihr werdet angegriffen und verfolgt werden, und es ist nicht eure Schuld. Es liegt an den andern.« Und wenn man diese Kapitel im Johannesevangelium ganz liest, dann merkt man, das Jesus das nicht nur mal in einem Nebensatz sagt, sondern er verwendet einen großen Teil des letzten Abends mit seinen Jüngern, um sie darauf vorzubereiten.
Und er macht das, weil das die große Gefahr in einer Verfolgung ist, dass die Christen auch noch die Schuld bei sich selbst suchen und sich innerlich fertig machen, wenn sie von außen angegriffen, verleumdet, verfolgt und vielleicht sogar getötet werden. Und dann würde die verrückte Situation eintreten, dass die Opfer sich selbst schuldig fühlen, und die Täter haben ein gutes Gewissen. Jesus sagt ja voraus, dass die Verfolger ein gutes Gewissen haben werden, dass sie glauben werden, auf Gottes Seite zu sein. Das will uns nicht in den Kopf, aber es gibt genügend Beispiele dafür. Das deutlichste Beispiel ist Paulus, der die ersten Christen verfolgte, bis Gott selbst ihm in den Weg trat. Er wollte das für Gott tun, subjektiv war er ehrlich davon überzeugt, dass das Gottes Wille war. Oder wenn wir an die ganzen Gewaltmaßnahmen denken, mit denen im Mittelalter die Kirche abweichende Glaubensüberzeugungen bekämpft hat, da waren ganz viele dabei, die ehrlich glaubten, es wäre Gottes Wille, dass diese Sekten endlich ausgerottet würden.
Und auch hier sagt Jesus voraus, dass die Feinde aus den Synagogengemeinden kommen werden, also aus der anerkannten, offiziellen Religion. Es ist eben nicht so, dass subjektive Ehrlichkeit einen davor beschützt, schlimme Sachen zu tun. Es gibt diese Steigerung von schlecht, die so geht: schlecht, schlechter, gut gemeint.
Aber egal, was die Verfolger subjektiv denken: worum geht es eigentlich in diesem Konflikt, den Jesus ankündigt?
Es geht darum, dass die Sache Jesu auch nach seinem Tod weiter geht. Und damit auch der Konflikt, den er in die Welt gebracht hat. Denn Jesus lebt. Und er sendet seinen Jüngern einen Ausgleich dafür, dass er jetzt nicht mehr greifbar und sichtbar in ihrer Mittel ist. Er sendet Ihnen den Beistand. Das Wort ist bei Johannes eine Umschreibung für den Heiligen Geist. Luther hat es als »Tröster« übersetzt. Auf jeden Fall bedeutet es: Die Art und Weise, in der Jesus bei ihnen ist, die ändert sich. Die Sache selbst bleibt. Sein Einfluss auf die Jünger bleibt. Und damit bleibt auch der Konflikt, den Jesus hier in der Welt angezettelt hat.
Wir müssen uns den Einfluss Jesus nicht vorstellen wie eine Tradition, die durch die Generationen weitergegeben wird und dabei immer schwächer wird. Das Bild dafür wäre ein langer Eisenbahnzug mit vielen Wagen. Auf diesen Zug fährt eine Lokomotive auf. Der Lokführer hat nicht rechtzeitig gebremst, und so versetzt er dem ersten Wagen einen kräftigen Stoß. Und dieser Stoß pflanzt sich fort durch den ganzen Zug, bis er schließlich am anderen Ende ankommt. Aber während im ersten Wagen noch die Koffer aus den Gepäcknetzen flogen und die Menschen durcheinander purzelten, schwächt sich in jedem neuen Wagen der Stoß ab, so dass die Leute im letzten Wagen nur noch ein leichtes Ruckeln spüren.
Wenn das Christentum nach diesem Modell funktionieren würde, dann wäre es in Ordnung, wenn aus der dynamischen Bewegung Jesu heute ein sanft dahinplätscherndes Rinnsal geworden wäre. Aber Jesus sagt es anders, und dieses Lokomotivenmodell passt auch nicht zur Erfahrung. Denn die Geschichte des Christentums ist nicht von einem stetigen Abnehmen gekennzeichnet, sondern von unerwarteten und unvorhersehbaren Aufbrüchen und Überraschungen.
Es gibt tatsächlich so etwas wie Tradition, nämlich die Überlieferung der Geschichten und Worte Jesu, zuerst durch die Jünger und später in der Bibel. Deswegen sagt Jesus hier ja: »Auch ihr werdet meine Zeugen sein, denn ihr seid von Anfang an bei mir gewesen«. Aber das Erstaunliche ist, dass sich aus dieser Tradition, aus dieser Überlieferung immer wieder lebendige Neuanfänge erheben, die keiner vorausgesehen hat. Wenn man z. B. daran denkt, wie vor 100 Jahren in Amerika aus kleinsten Anfängen die Pfingstbewegung entstanden ist, eine Bewegung, die ganz besonders auf den Heiligen Geist konzentriert ist und die heute eine der größten Fraktionen der Christenheit ist, das ist einfach kein Weiterwirken von Tradition.
In Wirklichkeit ist es der Heilige Geist, der sich mit der äußerlichen Überlieferung der Worte und Taten Jesu verbindet und dafür sorgt, dass Jesus lebendigen Einfluss auf Menschen bekommt. Und dann erleben Menschen dieselbe Klarheit, die die Jünger aber Jesus erlebt haben. Oder sie werden von einem Wort so ergriffen, wie es die Menschen mit Jesus erlebt haben, dass seine Worte sie zu andern Menschen machten. Menschen spüren bis in ihren Körper hinein, dass sie der Liebe Gottes begegnen, die im Jesus zu uns gekommen ist, und die bis heute Menschen wärmt und aktiviert und uns schaudern lässt vor lauter Glück, dass die Sehnsucht unseres Herzens an ihr Ziel gekommen ist.
Mit den Worten der Überlieferung von Jesus kommt die Kraft Gottes, von der wir schon in der Epistellesung gehört haben. Diese Kraft wirkt am strategisch zentralen Punkt der ganzen Schöpfung, nämlich am menschlichen Herzen. Jesus ist deswegen der König und Herr der Welt, weil er Macht hat über menschliche Herzen. Der Mensch aber hat die Verantwortung für die Schöpfung übertragen bekommen, und sein Kern und Zentrum ist das Herz. Deswegen geht der ganze Kampf in der Welt um das menschliche Herz. Deswegen werden wir in der Bibel immer wieder aufgefordert, gut auf unser Herz zu achten. Es gibt so viele, die Menschenherzen kontrollieren möchten, weil das die Herrschaft über die Welt bedeutet.
Der Konflikt, in den Jesus uns hineinzieht, geht genau darum. Werden die Menschenherzen zurückfinden zum Vater im Himmel, werden sie durch seine Liebe frei werden, oder werden sie isoliert und verschlossen bleiben und dann in die Hände falscher Mächte fallen? Werden Menschen aus Angst reagieren, werden sie unter dem Einfluss des schlechten Gewissens stehen, das andere ihnen machen, oder werden sie erfüllt sein von der Freude und Liebe Jesu?
Weil Menschen durch die lebendige Gegenwart Jesu innerlich stark werden, weil sie mit Freude und Zuversicht erfüllt werden, genau deswegen ruft das Evangelium auch so viel Widerstand hervor. Da ist etwas am Werk, was sich der Kontrolle entzieht. Traditionen kann man kontrollieren, den Heiligen Geist nicht. Wirkliche Freude ist unabhängig. Der Jesusfaktor bleibt in der Welt. Immer wieder wird uns der Heilige Geist damit überraschen, was er in dieser Welt neuschafft im Namen Jesu.