Der Riss in der Welt
Predigt am 20. April 2003 (Ostern I) zu Markus 16,1-8
1 Am Abend, als der Sabbat vorbei war, kauften Maria aus Magdala und Maria, die Mutter von Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um den Toten damit zu salben. 2 Ganz früh am Sonntagmorgen, als die Sonne gerade aufging, kamen sie zum Grab. 3 Unterwegs hatten sie noch zueinander gesagt: »Wer wird uns den Stein vom Grabeingang wegrollen?«4 Denn der Stein war sehr groß. Aber als sie hinsahen, bemerkten sie, dass er schon weggerollt worden war.
5 Sie gingen in die Grabkammer hinein und sahen dort auf der rechten Seite einen jungen Mann in einem weißen Gewand sitzen. Sie erschraken sehr. 6 Er aber sagte zu ihnen: »Habt keine Angst! Ihr sucht Jesus aus Nazaret, der ans Kreuz genagelt wurde. Er ist nicht hier; Gott hat ihn vom Tod auferweckt! Hier seht ihr die Stelle, wo sie ihn hingelegt hatten. 7 Und nun geht und sagt seinen Jüngern, vor allem Petrus: ‚Er geht euch nach Galiläa voraus. Dort werdet ihr ihn sehen, genau, wie er es euch gesagt hat.’«
8 Da verließen die Frauen die Grabkammer und flohen. Sie zitterten vor Entsetzen und sagten niemand ein Wort. Solche Angst hatten sie.
Mitten durch die Welt geht ein Riss. Das Gefüge der Welt gerät durcheinander, und nichts mehr bleibt so, wie es war. So erleben es jedenfalls die drei Frauen, die den dramatischsten Friedhofsbesuch ihres Lebens machen. Sonst gehören Friedhöfe zu den Orten, an denen nichts geschieht. Natürlich gibt es Schauergeschichten über Friedhöfe, und Geistergeschichten davon, was man da alles erleben kann. Aber in Wirklichkeit passiert auf dem Friedhof – rein gar nichts. Friedhöfe sind Orte der Erinnerung, wo man an das denkt, was früher passiert ist. Etwas Neues geschieht da nicht.
Aber hier ist das anders. Hier laufen tatsächlich mal in der Realität Leute voller Schrecken und mit gesträubten Haaren vom Friedhof weg und trauen sich nicht, zu erzählen was sie da erlebt haben. Was haben sie erlebt? Sie sind auf das Ende der Welt gestoßen. Sie waren an einer Stelle, wo etwas anderes beginnt. Vielleicht haben Sie in einem Zukunftsfilm schon mal so ein Tor zu einer anderen Welt gesehen. So ein rundes Loch aus flimmernde Energie, und wenn man hindurch geht, dann kommt man in eine andere Welt: in ein Paralleluniversum, oder auf einen weit entfernten anderen Planeten. Und auf so etwas sind die Frauen hier gestoßen.
Da klafft ein Loch in der Welt, und sie wissen noch nicht, was dahinter ist. Durch dieses Loch ist immerhin schon die Leiche von Jesus aus der Welt verschwunden. Wer weiß, was alles noch diesen Weg gehen wird? Und außerdem noch dieser Engel … Sie sehen zu, dass sie sich in Sicherheit bringen.
Die ersten Zeuginnen der Auferstehung Jesu waren erschreckt und verstört von dem, was sie da erlebten. Sie konnten sich keinen Reim darauf machen, was das bedeutet. Sie wurden mit den Riss konfrontiert, der das Gefüge der Welt seit damals durchzieht, und sie ergriffen die Flucht.
Noch nicht einmal der Engel kann sie beruhigen. Der Engel sagt »fürchtet euch nicht«, so wie das Engel immer als erstes sagen, wenn sie Menschen begegnen. Und normalerweise werden die Menschen dann ruhig und hören zu, wenn der Engel redet. Bei der Ankündigung der Geburt Jesu z.B. hat das geklappt. Aber hier hat er keinen Erfolg. Am Ende fliehen die drei Frauen, zitternd am ganzen Leibe. Kein Sterbenswörtchen erzählen sie den andern.
Das ist unsere Reaktion, wenn wir so eine Erschütterung der Welt erleben. Schon wenn uns irgendetwas anderes unerwartet passiert, was nicht zur gewohnten Welt gehört, ein Unfall oder ein Einbrecher, der plötzlich im Flur steht, da zittern wir am ganzen Körper. Und auch wenn die Ursache hier etwas ganz anderes ist – den Frauen steht beinahe das Herz im Leibe still. Erst als Jesus selbst den Jüngern begegnet, als sie selbst sehen: »ja, er lebt« – erst da überwiegt die Freude, Jesus zu sehen, und der Schreck tritt in den Hintergrund.
Auferstehung bedeutet die große Freude, dass Jesus tatsächlich lebt, dass der Tod ihn nicht verschlungen hat, dass Gott seinen Weg bestätigt, dass seine Geschichte nicht zu Ende ist, und dass die Gemeinschaft mit ihm nie wieder abbrechen wird. Aber Auferstehung ist ebenfalls eine Erschütterung und Infragestellung der Welt; sie bedeutet, dass da kein Stein auf dem anderen bleiben wird. Und in dieser Auferstehungsgeschichte steht dies zweite im Vordergrund, der unerwartete Einbruch von etwas völlig Unerwartetem. Jäh bricht die Geschichte ab – wie ein Musikstück, das nicht zu Ende gespielt worden ist. Man muss die Geschichten von der Begegnung mit dem auferstandenen Jesus im Kopf hinzufügen, wenn man das ganze Bild sehen will.
Und dann versteht man: ja, die Frauen sind tatsächlich auf die Tür zu einer anderen Welt gestoßen. Und jenseits dieser Tür liegt die neue Welt Gottes – aber das wissen sie noch nicht. Und tatsächlich, durch diese Tür werden noch viele andere gehen. Jesus hat die Tür aufgemacht, er hat den Weg zu Gott frei gekämpft, und er ruft uns, dass wir ihm nachfolgen auf dem Weg, der am Ende die Grenzen dieser Welt hinter sich lässt.
Die Frauen kommen und haben all die Sorgen im Kopf, die wir uns bei jeder Gelegenheit machen. Was machen wir mit dem Stein? Haben wir auch nichts vergessen, haben wir alles dabei? Aber diese Sorgen, die im normalen Rahmen bleiben, vergessen sie schnell, weil der ganze Rahmen gesprengt ist. »Ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten? Er ist auferstanden, er ist nicht hier« sagt der Engel. Ihr seid auf der falschen Spur, es ist alles ganz anders. Das ist freundlich von Gott, dass er ihnen den Engel geschickt hat, damit sie wissen, was los ist. Aber der Engel zeigt ihnen auch die leere Wölbung, in der Jesus gelegen hat. Man hat damals Grabkammern in den Stein gehauen und im Innern solche Nischen ausgehauen, in die man dann die Verstorbenen hineingelegt hat. Und sie haben ja selbst mit angesehen, wo man Jesus hingelegt hat. Doch dieser Platz ist jetzt leer. Da stehen sie an dem Ort, wo der Ausgang aus unserer Welt ist, sie stehen sozusagen direkt am Rande des Loches, durch das der Körper von Jesus die Wirklichkeit, die wir kennen, verlassen hat. Sie wissen noch nicht, was dahinter ist. Und dieser Ort flößt ihnen Furcht ein, obwohl der Engel versucht, es ihnen zu erklären. Aber zu groß ist der Schreck. Das leere Grab ist ein Ort der Erschütterung, ein Ort tiefer Verunsicherung.
Natürlich wird dieser Tag nicht vorübergehen, ohne dass auch die drei Frauen vom Grab diese positive andere Seite verstehen werden. Ihr Schreck wird großer Freude weichen, und ihr Lebensgefühl wird von diesem Tag an so anders sein, dass sie im Rückblick dies als den endgültigen Wendepunkt in ihrem Leben ansehen werden, den Tag, von dem an ihre Geschichte mit Jesus nie wieder bedroht oder in Frage gestellt war. Für sie und viele andere Christen hat von da ab Gefahr, Sorge, Bedrohung und Verfolgung zu den Wirklichkeiten zweiten Ranges gehört, die überstrahlt wurden von der Tatsache, dass Jesus auferstanden ist.
Aber diese neue Sicht der Welt ist geboren in einem Umfeld des Erschreckens. Das Christentum kommt nicht nur von der Auferstehung Jesu her, sondern auch von dieser Erschütterung der Welt, von den Vorboten der großen Erschütterung, die am Ende in dieser Welt keinen Stein auf dem anderen lassen wird.
Vielleicht haben einige von uns den Film »Ice Age« gesehen. Ein Zeichentrickfilm, der in der Eiszeit spielt, mit Tieren, die vor dem vorstoßenden Eis fliehen. Da gibt es ein Eichhörnchen, dass sich eine Eichel gerettet hat und den ganzen Film über versucht, sie zu öffnen. Aber dies Eichhörnchen ist ein Unglücksrabe, nie gelingt es ihm, die Eichel aufzuknacken, stattdessen richtet es damit immer gefährlichen Schaden an. Wenn es die Eichel irgendwo gegen haut, um sie zu öffnen, entsteht ein feiner Riss, der immer weiter läuft, weiter und weiter, am Ende spaltet das einen ganzen Gletscher, gewaltige Eismassen brechen ab und donnern zu Tal.
So sind an diesem Tag der Auferstehung die ersten feinen Risse zu sehen, die immer weiter laufen, bis sie am Ende den ganzen Rahmen dieser Welt sprengen werden. Die Erschütterung der ganzen Welt, die uns bevorsteht, die wird da zum ersten Mal erkennbar. Die Frauen erschrecken nicht ohne Grund. Selbst sie, die die Schattenseite der Welt so gut kennen, die ihre Grausamkeit am Karfreitag aus nächster Nähe angesehen haben, selbst sie erschrecken, als sie den ersten Anfang der Erschütterung erleben, die unserer Welt bevorsteht.
Aber dieser Riss, der da entsteht, der bedeutet gleichzeitig Spielraum für das neue Leben der Jüngerinnen und Jünger Jesu hier auf der Erde. Das Weltsystem, das ja auch immer ein Gefängnis ist, aus dem wir nicht herauskommen, es hat Risse bekommen, der Beton bröckelt schon. Es gibt Raum für Leben aus der Auferstehung. Die Macht der Mächte ist begrenzt worden.
Von nun an kann die Geschichte Jesu nie mehr revidiert werden. Sie ist abgeschlossen, Gott hat in der Auferstehung sein Siegel darauf gedrückt und seinen endgültigen Kommentar dazu gegeben. Alle unsere Geschichten hier auf der Erde stehen ja unter diesem Vorbehalt: wird es gut ausgehen? Die Märchen und die Filme schließen oft damit, dass am Ende Hochzeit gefeiert wird und nach einer dramatischen Vorgeschichte die Richtigen sich gekriegt haben. Das ist dann das Happyend. Aber wir wissen, dass dann ja die Geschichte in Wirklichkeit weitergeht. Und ob die beiden auch wirklich zusammen glücklich werden – wer kann das am Tag der Hochzeit schon voraussagen? Wenn sie sich als Ehepaar nur angiften und die Kinder missraten, dann steht auch das provisorische Happyend wieder neu zur Debatte. Vielleicht war es ja in Wirklichkeit gar nicht gut, dass sie sich gekriegt haben.
Alle unsere Geschichten auf der Erde und ihr Ausgang stehen immer wieder neu zur Debatte, und das wird bis zum Ende der Welt nicht anders sein. Nur die Geschichte Jesu, die ist schon abgeschlossen, die hat schon ihr Happyend, und das steht nicht mehr zur Debatte. Er ist auferstanden, er lebt, er ist nicht mehr der Wirklichkeit unserer Welt unterworfen, niemand kann von dieser Geschichte noch etwas wegnehmen oder hinzu tun.
Diese Gewissheit hat seine Leute von da an geprägt. Sie gingen durch Gefahren und Nöte, aber sie wussten: das Schlimmste ist ja schon passiert, Jesus ist gekreuzigt, aber Gott hat aus dem Schlimmsten den neuen Anfang gemacht. Was soll uns jetzt noch erschrecken, was kann uns noch bedrohen, Gott hat alles in der Hand. In dieser Gewissheit konnte Petrus ruhig schlafen in der Nacht vor seiner angekündigten Hinrichtung, und Paulus sang im Gefängnis Loblieder für Gott. Sie waren nicht mehr die alten, weil sie wussten: der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden!
Und das ist auch die Verheißung eines endgültigen Happy End für die ganze Welt. Der Engel sagt den Frauen noch: er geht euch voran nach Galiläa. Galiläa, das Galiläa der Heiden, das nicht gut angesehen war, weil da schon zu viele fremde Einflüsse sich mischten mit dem Judentum, das war ja nicht nur überraschenderweise der hauptsächliche Wirkungskreis Jesu, es ist auch die Schnittstelle zwischen dem Gottesvolk und den Völkern der Welt.
»Er geht euch voran nach Galiläa«, das bedeutet: Wo ihr auch hinkommt, er ist schon da. Ihr müsst nach ihm rufen, ihr müsst nach ihm suchen, und ihr werdet ihn finden. Heimlich und oft unerkannt ist er jetzt in der ganzen Welt gegenwärtig. Aber er wartet darauf, dass die Jüngerinnen und Jünger kommen, seinen Namen aussprechen und die Auferstehungswirklichkeit sichtbar machen, die nun die ganze Welt durchzieht und sich in den Rissen und Lücken ausbreitet. Und so werden sie mit dazu gehören zu der Geschichte, deren Happyend wir schon kennen.