Weihnachten suchen – Weihnachten finden
Predigt im Besonderen Gottesdienst (mit Theaterszene) am 5. Dezember 2004 (2. Advent) zu Jesaja 63,17 – 64,3
Im Gottesdienst war ein dreiteiliges Theaterstück vorangegangen, in dem eine engagierte Mutter am 23. Dezember ins Krankenhaus kommt, trotz Protest dort Weihnachten verbringen muss und am Ende zur Ruhe und zu einer Begegnung mit dem Sinn von Weihnachten findet.
17 Warum hast du zugelassen, dass wir von deinem Weg abwichen? Warum hast du uns so starrsinnig gemacht, dass wir dir nicht mehr gehorchten? Wende dich uns wieder zu! Wir sind doch deine Diener, wir sind doch das Volk, das dir gehört! 18 Es war nur für eine kurze Zeit, dass wir das Land besitzen durften; nun ist dein Heiligtum von den Feinden entweiht. 19 Es ist, als wärst du nie unser Herrscher gewesen, und als wären wir nicht das Volk, das du zu deinem Eigentum erklärt hast.
Reiß doch den Himmel auf und komm herab, dass die Berge vor dir erbeben! 64,1 Komm plötzlich, komm mit großer Macht, wie die Flammen trockenes Reisig ergreifen und das Wasser im Kessel zum Sieden bringen! Deine Feinde sollen erfahren, wer du bist; die Völker sollen vor Angst vergehen. 2 Vollbringe Taten, die uns staunen lassen und noch unsere kühnste Erwartung übertreffen! Komm herab, dass die Berge vor dir erbeben! 3 Noch nie hat man von einem Gott gehört, der mit dir zu vergleichen wäre; noch nie hat jemand einen Gott gesehen, der so gewaltige Dinge tut für alle, die auf ihn hoffen.
Muss man erst ins Krankenhaus kommen, um Weihnachten zu finden? Muss man erst abrupt aus dem Verkehr gezogen werden, bevor Gott eine Chance hat? Anscheinend ist das manchmal so. Und es wäre ja auch biblisch: wenn man sich daran erinnert, dass Leute wie Mose oder die Jünger Jesu oder eben auch Maria und Joseph einfach rausgeholt worden sind aus ihrer normalen Tätigkeit, weil Gott mit ihnen etwas anderes vorhatte.
Wenn Gott kommt, dann gibt es Erschütterungen. Das kann man lernen an diesen Worten aus dem Buch Jesaja. Da wird das sogar ausdrücklich erbeten: reiß den Himmel auf und komm herab, dass die Berge vor dir erbeben! Das ist ein Adventstext, wo eindringlich darum gefleht wird, dass Gott endlich kommt, dass er einbricht in diese Welt, dass er endlich nicht mehr weit und fern sei, sondern dass er diese Welt so spürbar gestaltet, dass keiner diese Erschütterungen mehr ignorieren kann. Spürt ihr, wie da ein Gott sichtbar wird, der ganz anders ist, als der harmlosen Gott des durchschnittlichen Weihnachtsfestes? Der Gott aus dem Jesajabuch passt aber bestens zum Engel von Bethlehem, der den Hirten einen großen Schrecken einjagte und deshalb zuerst sagen musste: fürchtet euch nicht!
Und genauso haben wir eben gesehen, wie das Leben einer Familie erschüttert wird, wenn auch auf einem viel harmloseren Niveau, und das Ergebnis ist: die Mutter macht eine Erfahrung, die sie anders garantiert nicht gemacht hätte. Es wäre natürlich auch interessant zu wissen, was für einer Erfahrung der Rest der Familie mit diesem Weihnachtsfest gemacht hat!
Weihnachten wird ja auch das Fest der Familie genannt. Und es erfüllt auch gewisse Voraussetzungen dafür, denn das Thema Geburt ist etwas sehr familiäres, und überhaupt dieses junge Ehepaar mit Kind, das kann einen romantischen Eindruck machen, wenn man übersieht, wie erbärmlich und arm das damals zugegangen ist.
Man kann es auch weiter fassen und sagen: an Weihnachten feiern wir heute das Jahresfest aller möglichen Gemeinschaften: Vereine und Abteilungen, Betriebe und Institutionen haben in den Wochen vorher ihr Jahresfest, wo man zusammen essen geht und sich gegenseitig bestätigt, dass man zusammengehört und trotz allem Stress auch das nächste Jahr weiter zusammengehören will. Und schließlich zum Schluss, am 24.12., da sagt man sich das noch einmal in der Familie.
Deshalb ist es auch für viele Menschen so schlimm, wenn sie Weihnachten allein feiern müssen, weil sie dann das Gefühl haben: ich gehöre nirgendwo dazu. Es gibt diese Punkte an denen regelmäßig deutlich wird, wie es bestellt ist um Menschen und ihre Verbindungen. Der Geburtstag ist so ein Punkt für den einzelnen Menschen. Und Weihnachten ist einer für die Gemeinschaften, besonders für die Familien. Da wird manches sichtbar, was im Alltag nicht so deutlich wird, und wenn man das verhindern möchte, dann muss man meistens einen großen und kräftezehrenden Aufwand betreiben, um die Fassade aufrechtzuerhalten. Deswegen müssen Kinder zu Weihnachten aufräumen und lieb sein und manchmal muss man Menschen ertragen, denen man im Alltag aus dem Weg geht, und deshalb müssen junge Ehepaare viel Aufwand treiben, damit keine ihrer beiden Familien sich zurückgesetzt fühlt.
Wenn man das so sieht, dann ist es ganz klar, warum mit Weihnachten so unheimlich viele Erinnerungen, Gefühle, Wünsche, Ängste, Hoffnungen und Enttäuschungen verbunden sind. Die Familien und Gemeinschaften, zu denen wir gehören, sind die wichtigsten Faktoren in unserm Leben; wir machen durch sie intensive gute und intensive schlimme Erfahrungen, und das alles wird oft in der Art, wie wir Weihnachten feiern, ausgedrückt und auf den Punkt gebracht. Und nur die ganz Hartgesottenen schaffen es, das Ganze zu ignorieren.
Hat aber in diesem ganzen Knäuel von Bedeutungen Jesus auch noch eine Chance? Es ist schon merkwürdig, dass Jesus, der Menschen aus ihren Familien herausgeholt hat und ihnen gesagt hat: Folge mir nach!, dass ausgerechnet der zum Schutzpatron des Festes der Familie wird. Und mindestens in dem Stück vorhin, da musste er dieses kulturelle Netz schon ziemlich brutal zerreißen, bis die Mutter allein im Krankenhaus und frei war, um zu merken, dass Jesus sich bei ihr melden wollte. Unfreiwillig und widerstrebend hat sie sich der geistlichen Übung der Einsamkeit unterzogen, und diese Übung hat funktioniert.
Aber da hatte sie auch die Chance, diese Last zu spüren, die die ganze Zeit auf ihr gelegen hatte. Wir spüren ja vieles Lasten, an die wir uns gewöhnt haben, erst in dem Moment, wo sie uns abgenommen werden. Und wir spüren das neue oft erst, nachdem wir nicht mehr unter dem Einfluss des Alten stehen. Deswegen gibt es dazwischen eine Strecke der Unsicherheit, die uns niemand ersparen kann. Und deswegen hatten die Hirten Angst: wenn Gott eingreift in seiner Welt, dann ist das immer mit Unsicherheit verbunden, mit Vergehen und Neuwerden, bis am Ende die große Freude ausbricht.
Was könnte es sein, was an Weihnachten neu zu finden ist?
Da ist einmal der Gedanke, dass Jesus nicht nur allgemein in die Welt kommen wollte, sondern dass er zu jedem einzelnen Menschen kommen will. Deswegen ist das menschliche Herz immer wieder mit der Krippe verglichen worden: Jesus soll in unserem Herzen wohnen, wie er in der Krippe gelegen hat. Das ist kein schlechter Vergleich, bloß denken die wenigsten Leute daran, dass eine Krippe kein weiches Babybettchen ist, sondern ein unbequemer Ort, rau und stachelig und kratzig, na, eben so wie das menschliche Herz.
Aber es ist schon richtig, das zu Weihnachten eigentlich gehören würde dieser Eindruck: jetzt kommt mir Jesus ganz nah. Ich bin mir ganz sicher über seine Anwesenheit in meinem Leben. Ich verstehe neu, dass er mich begleitet, das er da ist, wo ich hingehe. Ich spüre ihn dann nicht immer, aber mir ist wieder ganz klar, dass er mich immer begleitet. Diese Erfahrung ist der Kern der christlichen Mystik, aber sie ist überhaupt nicht nur den Mystikern zugänglich. Es gibt genügend Menschen, die spontan und unvorbereitet diese Erfahrung gemacht haben und dann manchmal gar nicht verstehen, was ihnen passiert ist.
Diese Erfahrung ist im Grunde gemeint, wenn Menschen von bestimmten Weihnachtsgefühlen sprechen, die man nicht beschreiben kann. Allerdings passiert es nach meinem Eindruck eher selten, dass Menschen so etwas mitten im Trubel eines Festes authentisch erleben. Eher sind es die Ausnahmesituationen, Zeiten der Isolierung oder Zeiten, in denen man durch einen Bruch im Leben hindurch geht. Also zum Beispiel ein ungeplanter Krankenhausaufenthalt. In solchen Situationen, wenn der normale Lebenszusammenhang mehr oder weniger stark zerrissen ist, dann hat Gott größere Chancen bei uns.
Deshalb sollten wir all die großen und kleinen Unterbrechung unseres normalen Lebens willkommen heißen. Wir sollten sie ansehen als die Momente, in denen wir besonders auf Gott achten sollten.
Der andere Gedanke, der zu Weihnachten neu zu entdecken ist, ist angedeutet mit den ganzen Lichtern, die Mutter von ihrem Krankenhausfenster aus sieht. Es sind ja längst nicht mehr nur Christen, die Weihnachten feiern. Es ist ja verrückt, dass es bei uns eigentlich alle tun. Und diese Kultur des Weihnachtsfestes mit dem Mann im roten Mantel, den Rentieren dem Tannenbaum und der entsprechenden Musik, die gibt es inzwischen fast überall auf der Welt. Da ist natürlich kaum noch was übrig geblieben vom ursprünglichen Inhalt des Festes. Aber vielleicht kann man es ansehen als ein Bild dafür, wir es den christlichen Inhalten überhaupt geht: sie werden missverstanden, nur teilweise übernommen, verfälscht und von ihrem Ursprung getrennt. Die Menschen finden sie gut und halten sie sich gleichzeitig vom Leibe. Und trotzdem haben sie auch in dieser Verdünnung immer noch eine Wirkung. Es hat keinen Zweck, darüber zu klagen, dass es so ist. Und verhindern können wir es sowieso nicht.
Viel eher sollten wir wie Jesaja Gott darum bitten, dass er kommt mit seiner Kraft, so wie Feuer trockenes Reisig ergreift und all die verstreuten und verfälschten christlichen Wahrheiten wieder zum Leuchten bringt. Jesaja klagt ja darüber, dass es so aussieht, als habe Gott überhaupt keine Spuren hinterlassen bei seinem Volk. Der Platz, an dem er wohnen sollte, ist zerstört und verwüstet. Aber wenn Gott eingreift, dann wird es anders aussehen. Und dann werden all die versprengten christlichen Wahrheiten zurückfinden zu ihrer Quelle, sie werden neue Kraft bekommen, sie werden erwachen wie Tiere nach dem Winterschlaf, und sie werden an den Menschen, in denen sie wohnen, arbeiten. Hauptsache, der Ursprung wird sichtbar. Hauptsache, da gibt es ein deutliches Signal.
Gott soll ein Zeichen aufrichten, darum bittet Jesaja. Ach, bitten ist viel zu schwach gesagt. Wenn man das liest, dann merkt man, wie er Gott anfleht, endlich das Unmögliche zu tun, das Herz seines Volkes zu verändern und ein Zeichen aufzurichten, das nicht mehr übersehen werden kann. Das war Jahrhunderte vor Jesus, und wir merken, dass es nicht sinnlos ist, Gott so anzugehen, aber Geduld muss man schon haben.