Gegen die Diktatur der Nebensachen
Predigt am 10. Oktober 2004 zu Römer 14,17-19
17 Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im heiligen Geist. 18 Wer darin Christus dient, der ist Gott wohlgefällig und bei den Menschen geachtet. 19 Darum lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.
Das ist ein kurzer Text, aber damit man ihn richtig versteht, muss man eigentlich ziemlich viel dazu sagen, wie es damals in der Gemeinde von Rom aussah, und welche Auseinandersetzungen sie dort hatten. Das mache ich auch noch, aber ich möchte zur Einführung lieber etwas erzählen, was mir mal passiert ist auf der Fahrt zu einem christlichen Seminar.
Ich war damals noch nicht so vertraut mit den verschiedenen Spielarten des christlichen Glaubens, mit all den Fraktionen und Konfessionsfamilien, die es so gibt. Umso merkwürdiger war es für mich, als ich die letzte Strecke bis zum Ziel zusammen mit einem Pastor aus der Heilsarmee fuhr. Für alle, die es nicht wissen: diese Kirche nennt sich nicht nur Armee, sondern die Pastoren heißen da auch »Offiziere«, und sie tragen eine Uniform – genau so wie alle, die dort mitarbeiten. Können Sie sich vorstellen, dass ich mir merkwürdig vorkam, neben diesem Mann mit Schirmmütze, Uniformjacke und Hose mit roten Streifen an der Seite? Und der sollte also nun auch bei diesem Seminar dabei sein? Wo war ich da bloß hineingeraten? Ich überlegte schon, ob ich da wirklich hinfahren sollte.
Aber die Begegnung ging gut aus: ich verstand mich im Verlauf des Seminars prima mit ihm, ich merkte, dass wir jeder auf seine Art unseren Weg mit Gott gingen, und die militärische Schirmmütze war gar nicht mehr wichtig. Vermutlich hat er sie beim Seminar ja auch nicht dauernd aufgehabt, aber sie war auch wirklich nicht mehr wichtig. Ich könnte mir bis heute nicht vorstellen, in so einer Uniform zu arbeiten, aber was soll’s? Das ist nicht der Punkt, auf den es ankommt.
Um so eine Problematik geht es Paulus. Er hätte auch schreiben können: das Reich Gottes ist nicht Schirmmütze oder Talar, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist. Es geht um dieses Zentrum des christlichen Glaubens, die tiefe Freude, Gott zu kennen, zu wissen, dass er an unserer Seite ist, durch seinen Heiligen Geist erfüllt zu werden mit Freude, deren Wurzeln außerhalb unserer Welt liegen und die deshalb stärker ist als unsere Welt. Frieden zu erleben, der uns erfüllt, obwohl wir mitten im Streit leben und außen alles Anlass zur Sorge gibt.
Erinnern Sie sich an die Evangelienlesung vorhin (Markus 12,28-34)? Dieser Schriftgelehrte, mit dem Jesus diskutierte, in dem hat er die wirkliche Liebe zu Gott erkannt, und quer zu allen Gruppierungen und Einteilungen und Gegnerschaften, die eigentlich zwischen ihnen stehen, sagt Jesus zu ihm: du bist nicht fern vom Reich Gottes!
Und Paulus nimmt hier genau das gleiche Wort, »Reich Gottes« und sagt: lasst euch dieses Zentrum durch nichts anderes nehmen, durch nichts Großes und nichts Kleines, durch nichts Bedeutungsvolles und durch nichts Unwichtiges. Das ist die Hauptsache, und wenn dieses Zentrum klar ist, dann werden die anderen Fragen auch schon ihre Lösung finden. Aber wenn dieses Zentrum aus dem Blick kommt, dann streitet man sich über einen Haufen zweit- und drittrangiger Fragen.
Mit dem Bruder von der Heilsarmee habe ich mich zum Glück damals nicht über Kleiderfragen gestritten, und so konnten wir entdecken, dass wir in der Hauptsache zusammengehörten.
Damals in der Gemeinde von Rom ging es nicht um Klamotten, sondern ums Essen, genauer gesagt um die Vegetarier. Es gab in der Gemeinde Leute, die aßen kein Fleisch, und zwar nicht aus Mitleid mit den Tieren, sondern weil ein großer Teil des Fleisches damals aus heidnischen Tempeln stammte. In diesen Kultstätten wurden viele Tiere geschlachtet, und hinterher wurde das Fleisch auf dem Markt verkauft. Und dann sagten einige Christen: »das ist Götzenopferfleisch, das verunreinigt uns, das ist okkult belastet, damit wollen wir nichts zu tun haben. Und weil man nie genau wissen kann, wo her der Schlachter die Steaks hat, essen wir vorsichtshalber überhaupt kein Fleisch.«
Und dann gab es andere, die sagten: »unser Gott ist doch stärker als die Götzen. Mensch, was seid ihr pingelig! Es ist alles vom Gott geschaffen, und wenn wir dafür danken und es aus Gottes Hand entgegennehmen, dann haben die Götzen keine Macht mehr über dieses Fleisch, selbst wenn es wirklich mal ein Opfer im Tempel war.« Wer hat Recht? Natürlich die zweiten, das sagt Paulus selbst ein paar Verse vor unserer Stelle. Natürlich hat Gott alles geschaffen, und nichts davon ist von Haus aus unrein, und auch irgendwelche abergläubischen Praktiken ändern daran nichts, und wir dürften von Gott aus auch Heuschrecken, Kaulquappen oder Regenwürmer essen, wenn es uns schmeckt.
Aber das, so fährt Paulus fort, ist nicht der Punkt, auf den es ankommt. Das eigentliche Problem da in Rom ist, dass die Hauptsache aus dem Blick kommt, wenn man sich über die Frage streitet, was man essen darf und was nicht. Auf einmal ereifern sich die Leute an der Frage »Fleisch oder Gemüse?«, und sie vergessen das Reich Gottes. In ihrem Herzen macht sich die Vegetarierproblematik breit, und die Freude des Heiligen Geistes verweht wie eine Wolke im Herbstwind.
Liebe Freunde, versteht bitte, dass so etwas meistens mit einem ganz positiven Anliegen beginnt: da geht es Menschen um die Freiheit von diesen ganzen Ängstlichkeiten »du darfst dies nicht, und das ist gefährlich, und das macht man nicht«, und sie haben meine volle Sympathie für dieses Anliegen. Aber unter der Hand verdrängt dieses gute Anliegen dann manchmal die Hauptsache, und Gott rückt aus dem Zentrum zugunsten der »guten Sache«. Ganz viele wichtige und unwichtige Fragen des christlichen Lebensstils und Fragen der Gottesdienstgestaltung tragen in sich die Gefahr, im Lauf der Zeit zu Hauptfragen zu werden: wie man sich kleidet, welche Musik im Gottesdienst gespielt wird, welche Moralvorstellungen gelten sollen, wie eine Gemeinde geleitet werden soll, wie stark sich Menschen engagieren sollten, wie man mit Geld umgeht. Alles wichtige Fragen, die gute Antworten verdienen. Aber es gibt erst dann eine Chance, die Probleme wirklich zu lösen, wenn die Beteiligten in erster Linie begeistert sind von Gottes Reich unter uns und von der Quelle der Freude, die er immer wieder unvermutet in uns fließen lässt. Sonst landet man am Ende in der Diktatur der Nebensachen.
Noch ein Beispiel: In dem Buch »Dienstanweisung für einen Unterteufel« beschreibt C.S. Lewis den Briefwechsel zwischen einem erfahrenen und mit allen Wassern gewaschenen Oberteufel und seinem Neffen, einem jungen Hüpfer, der mit jugendlichem Elan einen Menschen zum Bösen verführen will. Und dann kommt der zweite Weltkrieg, und der junge Teufel ist begeistert und sagt: was für eine tolle Gelegenheit zum Sündigen! Aber der alte Teufel sagt: kühlen Kopf bewahren! Lass uns erstmal in Ruhe überlegen, ob wir ihn besser mit Nationalismus und Kriegsbegeisterung infizieren wollen oder mit Pazifismus und Kriegsgegnerschaft! Und dann erörtert er ausgiebig welche Chancen für die Hölle die unterschiedlichen Möglichkeiten bieten.
Das heißt: dieser Gegensatz zwischen Kriegsbefürwortern und Kriegsgegnern ist geistlich gesehen nicht so entscheidend wie die Frage, ob die Freude an Gott heimlich aus dem Zentrum des Lebens herausgedrängt wird. Wer wirklich von Gott begeistert ist, wer ihn auf keinen Fall verlieren will, den kann Gott auch so führen, dass er immer mehr zur Klarheit gelangt.
Ich will es mal für die Gegenwart sagen: ich halte den Irakkrieg für einen schrecklichen Fehler, und ich vermute, dass ich hier unter uns nicht der einzige bin. Aber wenn jemand die Gerechtigkeit und den Frieden und die Freude im Heiligen Geist sucht und trotzdem dazu kommt, so einen Krieg gutzuheißen, dann werde ich mich mit ihm, wenn es irgend geht, wegen diesem Punkt nicht auseinanderbringen lassen.
Ich würde zwar immer noch nicht verstehen, wie man diesen Krieg und den Frieden Gottes zusammenbringen kann, aber ich möchte in einem Menschen diese Verwurzelung in Gott stärken und fördern und wenn es irgendwie möglich ist, dies die Mitte sein lassen und die noch offenen Fragen Gott überlassen.
Gut, manchmal geht es nicht anders, manchmal muss Streit sein, Paulus ist es nicht anders gegangen. Manchmal muss man auch Menschen stoppen, bevor sie anderen oder sich selbst schweren Schaden zufügen. Aber wir müssen uns, wenn es irgend geht, um die Hauptsache kümmern und uns nicht um andere Fragen streiten. Es ist immer misslich, wenn man nur oder hauptsächlich gegen etwas ist, anstatt von Gott her zu denken, der unter uns ist und in uns lebt und mitten in der Dunkelheit der Welt sein Licht angezündet hat. Um es auf den Punkt zu bringen: Es geht in erster Linie nicht darum, gegen die Finsternis zu kämpfen, sondern es geht darum, Licht zu sein, dann hat die Finsternis schon genug Probleme mit uns.
Das bedeutet nun andererseits nicht, dass es bedeutungslos ist, wie man über Krieg und Frieden denkt oder über Abtreibung oder über Anbetungsstile und Musik im Gottesdienst oder über Essen und Trinken und Kleidung. Darüber sollen wir viel miteinander sprechen: was passt denn am besten zu dem Gott, den wir kennen und suchen, wie können wir unser Leben so führen, dass er sich an uns freut. Wenn Menschen da zu schlechten Antworten kommen, dann hat das manchmal schlimme Folgen, für sie selbst und für andere, innerlich und äußerlich. Und trotzdem können wir Menschen nicht gegen ihren Willen zu den Antworten bringen, die besser für sie wären. Wir können nicht für andere erkennen, wir können nicht für andere Buße tun und umkehren.
Wie gesagt, der Normalfall ist eigentlich, dass man auf einander hört und voneinander lernt, und das geht erstaunlich gut unter Menschen, die mit ganzem Herzen Gott suchen. Aber auch dann noch haben wir unsere blinden Flecke, unsere Ängste und schlechten Erfahrungen, die unser Denken und Fühlen prägen. Und wenn man zu keinen gemeinsamen Antworten kommt, dann ist es besser, sich in Ruhe zu lassen, sich wenn es irgend geht zu ertragen und zu begleiten, bis Gott neue Perspektiven öffnet. Das ist besser, als den Streit um die wichtigen zweitrangigen Fragen zum Mittelpunkt werden zu lassen.
Denn jeder muss seinen eigenen Weg gehen. Wir können das den andern nicht abnehmen. Wir können es den anderen manchmal auch nicht abnehmen, dass sie immer weiter in eine Sachgasse hineingehen und manchmal schmerzlich scheitern, bevor sie ihren Irrtum sehen. Aber Gott muss sie stoppen und nicht wir sie aufhalten. Wenn Menschen nicht aus den Erfahrungen und Argumenten anderer klug werden wollen, dann helfen ihnen nur eigene Erfahrungen. Buße und Umkehr können dann geschehen, wenn einer seinen Weg zu Ende geht, und nicht dann, wenn Menschen einander ihre Meinung überstülpen wollen.
Wenn ich jemanden mit Druck dazu bringe, das Richtige zu tun, aber gegen seine ehrliche Überzeugung, dann habe ich Schlimmes angerichtet. Denn wer wie in Rom pingelig das Fleisch aussortiert, oder wer in seiner Uniform oder seinem Talar Gott dienen will, der tut es doch eben aus der Liebe zu Gott heraus, aus der Sehnsucht, Gott zu dienen und seine Freude zu finden. Dieses Verlangen soll nicht kaputtgehen, denn damit kann Gott allemal mehr machen als mit einer Korrektheit, die nicht vom Herzen kommt. Und dieses Verlangen sollen wir überall stärken und fördern und schützen.
Deshalb lasst uns noch einmal hören auf die Worte des Schriftgelehrten aus der Evangelienlesung. Er wusste, was die Hauptsache ist, aus der alles andere geboren wird, und er hat es so gesagt: »ER ist Herr allein, und es gibt keinen anderen außer ihm, und ihn lieben mit ganzem Herzen, mit aller Einsicht und mit aller Kraft und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.«