Nichts ist mit der Gemeinde vergleichbar
Predigt am 25. Juli 2004 zu Apostelgeschichte 2,41-47
41 Viele nahmen die Botschaft an, die Petrus ihnen verkündete, und ließen sich taufen. Durch Gottes Wirken wuchs die Gemeinde an diesem Tag um etwa 3000 Personen. 42 Was das Leben der Christen prägte, waren die Lehre, in der die Apostel sie unterwiesen, ihr Zusammenhalt in gegenseitiger Liebe und Hilfsbereitschaft, das Mahl des Herrn und das Gebet. 43 Jedermann in Jerusalem war von einer tiefen Ehrfurcht vor Gott ergriffen, und durch die Apostel geschahen zahlreiche Wunder und viele außergewöhnliche Dinge. 44 Alle, die an Jesus glaubten, hielten fest zusammen und teilten alles miteinander, was sie besaßen. 45 Sie verkauften sogar Grundstücke und sonstigen Besitz und verteilten den Erlös entsprechend den jeweiligen Bedürfnissen an alle, die in Not waren. 46 Einmütig und mit großer Treue kamen sie Tag für Tag im Tempel zusammen. Außerdem trafen sie sich täglich in ihren Häusern, um miteinander zu essen und das Mahl des Herrn zu feiern, und ihre Zusammenkünfte waren von überschwänglicher Freude und aufrichtiger Herzlichkeit geprägt. 47 Sie priesen Gott bei allem, was sie taten, und standen beim ganzen Volk in hohem Ansehen. Und jeden Tag rettete der Herr weitere Menschen, sodass die Gemeinde immer größer wurde.
Nichts ist mit der funktionierenden Gemeinde Jesu vergleichbar. Ihre Schönheit ist einmalig. Ihre Möglichkeiten, den Menschen zu helfen, sind unbegrenzt. Die Gemeinde ist Gottes Weg, um den Menschen jetzt schon mit den Kräften des Himmels zur Seite zu stehen.
Wenn man an die Probleme denkt, die Menschen heute zu Recht beunruhigen, dann kann man jedesmal wieder wie in einer Litanei die gleiche Antwort geben: die Lösung dieses Problems ist die Gemeinde. In manchen Gesprächen komme ich mir schon penetrant vor, wenn ich immer wieder sage: dieses Problem kann von einer funktionierenden Gemeinde gelöst werden. Ob man an Schicksalsschläge denkt, die einzelne treffen; oder an die Frage, wie unsere Zukunft gesichert werden kann; ob es um Probleme der Wirtschaft geht oder um den Terrorismus; um die kranke Psyche von Menschen oder um die gefährdete Umwelt: eine funktionierende Gemeinde kann entscheidend zur Lösung beitragen.
Es ist für mich immer ein faszinierender Moment, wenn ich zu einem Menschen sagen kann: komm in die Gemeinde, dort wirst du für dieses Problem Hilfe finden. Und noch schöner ist es, dabeizusein, wenn das auch tatsächlich geschieht, wenn die Kraft Gottes Stück für Stück die Gesundheit im Herzen eines Menschen zurückbringt, wenn das Gebet um Hilfe und Heilung nicht unerhört bleibt, wenn die Menschen in seiner Umgebung etwas sehen von der Verwandlung, die zuerst ganz verborgen in einer Seele begonnen hat und die gewachsen ist in vielen Gesprächen und Begegnungen in diesem Raum der Gemeinde.
Die Mächte der Finsternis müssen weichen, wo eine Gemeinde so funktioniert, wie Gott es will. Der Teufel, der in dieser Welt viel zu oft seine Wünsche durchgesetzt hat, wird gezwungen, Boden abzugeben; und er wird zähneknirschend zuschauen müssen, wie Menschen aufblühen und frei werden und die Schönheit eines Lebens entdecken, das vom Heiligen Geist in Bewegung gehalten wird und in dem Sünde und Trübsal in breiter Front auf dem Rückzug sind.
Die Zukunft der Welt wird sich daran entscheiden, ob es Ortsgemeinden gibt, die sich herausfordern lassen, solche Lösungen zu leben. Gott hat nicht für den Notfall noch einen Plan B, sondern die Gemeinde ist sein Plan, um dieser Welt und ihren Menschen zur Seite zu stehen. Welche Entscheidungen ganz normale Menschen wie du und ich in ihrer ganz normalen Ortsgemeinde fällen, das hat entscheidende Konsequenzen für den Lauf der Geschichte.
Wen eine Gemeinde funktioniert, dann tröstet sie die Trauernden und heilt die Zerbrochenen. Sie bietet Orientierung für alle, die mit der Welt nicht zurechtkommen. Sie hilft denen, die in Not sind oder von Menschen verfolgt werden. Sie breitet ihre Arme aus für die Vergessenen, die Unterdrückten und Desillusionierten. Sie zeigt den Weg zu dauerhafter Freude allen, die an Überdruss oder Traurigkeit leiden. Sie bricht die Ketten der Abhängigkeit und der Sucht und gibt denen einen Platz, die sonst überall draußen sind. Egal, wie groß die Kapazität für menschliches Leid ist, die Ortsgemeinde hat eine noch größere Kapazität für Hilfe, Heil und Heilung, wenn sie so funktioniert, wie Gott sie geplant hat.
Und nun verbirgt sich natürlich wie überall, so auch hier, das Problem in dem kleinen Wörtchen »wenn«. Nicht überall, wo »Gemeinde Jesu« draufsteht, ist auch eine funktionierende Gemeinde Jesu drin. Das geht so weit, dass Menschen diese Beschreibung der frühen Christenheit in der Zeit nach Jesus nicht wirklich glauben können, sondern sie für ein schönes Märchen halten, weil sie so eine Gemeinde noch nie gesehen haben. Es gibt sogar in der Auslegung dieser Beschreibung in der Apostelgeschichte eine Tradition, die sagt: das kann gar nicht so gut gewesen sein, da hat der Lukas einfach seine Idealvorstellungen von Gemeinde reingeschrieben und nur nachträglich behauptet, es wäre auch so gewesen. Die Frage ist dann aber: wieso kommt der denn zu solchen Idealvorstellungen? Irgendwo muss er das ja herhaben. Es ist für uns wahnsinnig schwierig, uns etwas vorzustellen, was wir noch nie erlebt haben. Deswegen glauben Menschen ja oft nicht wirklich, dass es heute so etwas wie neutestamentliche Gemeinde geben kann: weil sie es nie erlebt haben.
Darum haben wir ja in der Apostelgeschichte diese Beschreibung der ersten Gemeinde, damit wir einen Maßstab haben, an dem wir uns orientieren können. Lukas macht uns deutlich: das ist keine Utopie, sondern das hat wirklich funktioniert. Und hier liegt die Messlatte, so soll Gemeinde sein. Wenn man merkt, dass man das nicht so lebt und erlebt, dann soll man nicht diese Beschreibung in der Bibel als offensichtlich unrealistisch ins Museum stellen, sondern dann geht es darum, diesen Schmerz auszuhalten und nicht wegzuerklären und Gott beständig zu fragen und zu bitten: was muss geschehen, damit Gemeinde so funktioniert, wie du es vorgesehen hast und wie es sich auch immer wieder ereignet hat?
Wenn wir uns diese Beschreibung der ersten Gemeinde in der Apostelgeschichte anschauen, dann entdecken wir dort in einigen wenigen Sätzen die entscheidenden Grundlagen und ein knappes organisatorisches Konzept:
Die Grundlage des Ganzen war die Geschichte Jesu und der von ihm aufgebaute Kreis von Jüngern und Anhängerinnen. Dieser Kreis von Menschen hatte die Aufgabe, die Geschichte Jesu immer wieder lebendig zu erhalten, davon zu erzählen und dafür zu sorgen, dass da nichts verfälscht oder ausgelassen oder hinzugedichtet wird. Als die Augenzeugen dann allmählich ausstarben, da ist es gelungen, diese Tradition im Neuen Testament authentisch in eine geschriebene Form umzusetzen. Jedenfalls gehört diese lebendige Erinnerung an die Person Jesu zu den entscheidenden Grundlagen der Gemeinde. Ohne diese Erinnerung funktioniert Gemeinde nicht. Wir haben nicht einen bloßen Namen, sondern Geschichten und Worte Jesu, in denen er sich mit seiner ganzen Art sehr deutlich herauskristallisiert. Und diese Erinnerung muss in dem, was »Lehre« heißt, lebendig gehalten werden.
Es muss dann aber auch eine Organisationsform geben, in der diese Lehre fruchtbar werden und in den Gedanken der Menschen Raum einnehmen kann. Das geht nicht ohne Kleingruppen, in denen man über diese Geschichte Jesu spricht und darüber, wie diese Geschichte im eigenen Leben weitergeht. Das kann der Gottesdienst als Großveranstaltung nicht leisten, und deshalb hatten sie auch damals schon diesen Wechsel von großen gemeinsamen Gottesdiensten und überschaubaren Hausgruppen, in denen man sich kannte und wo jeder seinen Platz hatte.
Diese Gemeinschaft ging erstaunlicherweise so weit, dass sie auch materiell eine Einheit waren. Wenn einer zu wenig Geld hatte – und das kam nicht selten vor – dann halfen ihm die anderen. Wir wissen, wie leicht Menschen an diesem Thema Geld in Konflikte geraten, wie schnell emotionale Brüche über die Finanzen ausgetragen werden, und wie leicht man sich da ausgenutzt fühlt – ich nenne nur die Themen Scheidung und Erbschaft. Um so bemerkenswerter ist es, dass es mit dem Geld hier anscheinend keine Probleme gab – da muss die Grundlage wirklich in Ordnung gewesen sein. Da war etwas präsent, das stärker war als das Geld: der Heilige Geist.
Wenn man noch tiefer schaut, kann man sagen: indem die Menschen in der Gemeinde auch materiell füreinander sorgten, spiegelten sie die Art Jesu wieder, der ja auch ganz stark die materiellen und körperlichen Probleme der Menschen im Blick hatte. Im Kreuz hat Jesus die Leiden der ganzen Welt geteilt – und seine Nachfolger leben so, dass sie ebenfalls Anteil nehmen an den Schwierigkeiten der anderen und dafür Lösungen finden. Das Kreuz ist das Zeichen dafür, dass Jesus sich bis zum Äußersten auf unsere Probleme eingelassen hat, und die Jünger Jesu erwarten und erleben, dass der Gott, der Jesus auferstehen ließ, auch für alles andere eine Lösung hat.
Das ist die entscheidende Grundlage für den Zusammenhalt in gegenseitiger Liebe und Hilfsbereitschaft. Gemeinschaft gibt es in vielen Gruppen; ohne irgendeine Art von Gemeinschaft kann man gar nicht leben. Die besondere Art christlicher Gemeinschaft besteht darin, dass dabei die dunklen Seiten des Lebens nicht ausgeklammert werden, weil wir mit der Kraft Gottes rechnen, die das Dunkel besiegt. Und dieser Schritt vom Leiden zur Herrlichkeit wird dadurch eingeleitet, dass all dies Dunkle im Gebet zu Gott gebracht wird, dass es mit Jesus und seiner Auferstehungskraft zusammengebracht wird.
Wer diese Hoffnung nicht hat, der bleibt an der Oberfläche und möchte dem wirklichen Menschen mit seinen Dunkelheiten und Abgründen, mit Trauer und Schmerz und Torheit und Angst nicht begegnen, und deshalb verstecken Menschen sich voreinander. Aber wir wissen, dass wir die Herrlichkeit nur sehen werden, wenn wir uns dem Leiden und dem Dunkel stellen.
Zu dieser Verbundenheit im Täglichen und Materiellen gehört genauso das gemeinsame Essen. Und wahrscheinlich hat es viele gegeben, für die Gemeinde eben auch bedeutet hat: hier werde ich satt. Und Jesus hat genau aus diesem ganz profanen gemeinsamen Essen das Abendmahl gemacht, so dass die Erinnerung an ihn ganz fest mit dem normalen Alltag verbunden ist.
Und dies alles spielte sich täglich ab. Da war ein Zentrum geschaffen, das stark genug war, die Menschen täglich zu versammeln. Da wollte man nichts verpassen. Das Klima dort war so, dass man aufblühte. Es herrschte Freude, Zuversicht, die feste Überzeugung, dass es nur noch besser werden konnte. Und die Menschen lebten miteinander mit lauterem, aufrichtigem Herzen. Die ganzen geheimen Vorbehalte, Tabus und Lebenslügen, die Ressentimets und Empfindlichkeiten, die Menschen sonst sorgfältig behüten, für die war das gar kein gutes Umfeld. Die hatten da keinen Platz und konnten nicht gedeihen.
In so einem Umfeld kann sich Gottes Geist entfalten. In so einem Umfeld geschehen Wunder. Und die anderen, auch die, die nicht gleich zur Gemeinde dazukamen, die merkten, dass da etwas besonderes los war. Die Menschen freuen sich, wenn neben ihnen Gott zu finden ist. Sie spüren so etwas. Und sie wissen, dass sie das brauchen.
Liebe Freunde, es gibt nichts, was mit der Ortsgemeinde zu vergleichen ist, vorausgesetzt, sie funktioniert richtig. Was da passiert, das ist ein Vorspiel zur Ewigkeit hier in unserer Zeit. Die radikale Lebensveränderung, die da produziert wird, die wird uns einmal helfen, uns im Himmel zurechtzufinden. Natürlich wissen wir, dass wir dafür noch viel lernen müssen, auch bei uns hier. Wir sind noch nicht wieder da, wo wir hin sollen. Aber gerade deswegen bitte ich euch: lasst das das Zentrum eures Denkens sein, dass wir hier bei uns neutestamentliche Zustände erleben. Gebt euch nicht mit weniger zufrieden als mit der Dynamik und Kraft der neutestamentlichen Gemeinde. Tut jeden möglichen Schritt, den größten und den kleinsten, um, soweit es an uns liegt, diesem Ziel näher zu kommen. Natürlich heißt das auch: setzt eure Zeit und euer Geld ein, damit dieser Raum der Gemeinde stark ist. Sogar jedes Jahr wieder ein bisschen mehr, weil unsere traditionelle Grundlage zerbröckelt. Aber das ist nicht das Wichtigste. Zuerst und zuletzt bedeutet das: wir müssen umdenken, umkehren, wir müssen die Maßstäbe der Bibel nehmen und dann Schritt für Schritt verstehen, wie wir die Bibel heute leben.
Jesus hat drei intensive Jahre gebraucht, bis er seine Jünger so weit hatte, dass sie die Gemeinde leben und leiten konnten. Als wir neulich mit ein paar Leuten darüber sprachen, wie man eigentlich die Gemeinde unterstützen sollte, da fand jemand (leider nicht ich) die Formulierung: wir wollen euren Kopf. Etwas brutal, aber darum geht es: um die Köpfe und Herzen und um das, was sich da bewegt und arbeitet. Da liegt noch ganz viel vor uns: nachdenken, beten, Abschied nehmen von alten Vorstellungen, immer wieder reden, reden, reden und die Unsicherheit aushalten. Immer weder der Versuchung widerstehen, eine schnelle vorläufige Lösung festzuhalten, damit man die Ungewissheit los ist. Immer wieder auf Menschen und auf Gott hören und vertrauen, dass sein Tempo richtig ist. Wir sind noch nicht im Neuen angekommen, aber zurück kann es auch nicht gehen. Alttestamentlich gesehen ist das die Wüste zwischen der Sklaverei in Ägypten und dem Land der Verheißung. Die Wüste ist nicht schön. Aber sie ist der Ort, wo man die tiefsten und einschneidensten Begegnungen mit Gott erlebt. Deswegen ist sie ein Ort der Verheißung, und wer sich in der Wüste bewährt, der wird in aller Ewigkeit zurückschauen und stolz und dankbar sein dafür.