… nicht mehr derselbe Mensch
Predigt im Besonderen Gottesdienst am 6. Juni 2004 zu Psalm 71,1-14
Im Gottesdienst vorausgegangen waren eine Theaterszene zum Thema und ein Interview mit einem Altenpfleger.
1 HERR, bei dir suche ich Zuflucht; enttäusche nicht mein Vertrauen! 2 Rette mich, befreie mich, wie du es versprochen hast! Hör mich doch, hilf mir! 3 Sei mir ein sicheres Zuhause, wohin ich jederzeit kommen kann! Du hast doch zugesagt, mir zu helfen; du bist mein Fels und meine Burg!
4 Meine Feinde missachten dich, mein Gott, sie brechen das Recht und misshandeln mich. Rette mich aus ihren Fäusten! 5 Du bist meine Hoffnung, Herr, dir habe ich von Jugend auf vertraut. 6 Seit meiner Geburt bist du mein Halt, du hast mir aus dem Mutterschoss herausgeholfen, darum gehört dir allezeit mein Dank! 7 Viele meinten, du hättest mich verflucht; aber du bist mein mächtiger Beschützer. 8 Mein Mund singt immerzu dein Lob, den ganzen Tag verkünde ich deinen Ruhm.
9 Jetzt, wo ich alt geworden bin, vertreibe mich nicht aus deiner Nähe! Die Kräfte schwinden mir, verlass mich nicht! 10 Meine Feinde stecken die Köpfe zusammen; sie beraten schon, wie sie mich umbringen können. 11 »Gott hat ihn verstoßen«, sagen sie. »Los, ihm nach! Packt ihn! Jetzt gibt es keinen mehr, der ihm hilft.«
12 Gott, du bist so weit weg! Komm doch, mein Gott, hilf mir schnell! 13 Lass sie unterliegen und zugrunde gehen, sie, die mich beschuldigen! Mit Schimpf und Schande sollen sie abziehen, alle, die mein Verderben suchen! 14 Ich gebe die Hoffnung niemals auf; auch in Zukunft werde ich dich preisen.
Wie verändert sich ein Mensch am Ende seines Lebens? Ich hoffe, Sie haben alle die Antwort von Peter vorhin gut behalten: eigentlich gar nicht so sehr. Es gibt bestimmte Krankheiten, z.B. Alzheimer, die die Persönlichkeit zerstören, aber allein durch das Altwerden ändert sich gar nicht so viel bei uns.
Das ist eine gute Nachricht! Es gibt keinen Automatismus, dass wir starrsinnig oder missmutig werden, wenn wir alt sind – wenn wir das vorher nicht sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir es auch später nicht werden. Das Alter verändert uns selbst gar nicht so sehr, aber wir werden dann verstärkt in Situationen kommen, die belastend sind. Es ist belastend, wenn man seine gewohnten Kräfte nicht mehr hat. Es ist belastend, wenn man auf die Hilfe anderer angewiesen ist, und zwar manchmal auch in ganz persönlichen und intimen Dingen. Es ist belastend, wenn man nicht mehr gut sehen und hören kann, wenn man durch viele Hindernisse von Menschen isoliert ist, wenn die Gesundheit angegriffen ist und man Menschen verloren hat, die über lange Zeit selbstverständlich zum eigenen Leben dazugehört haben.
Neulich habe ich gelesen, dass Pädagogen so eine Art Alters-Simulations-Ausrüstung entwickelt haben, mit der man Jugendlichen und Erwachsenen zeigen kann, wie es ist, alt zu sein: sie setzen den Versuchspersonen Brillen auf, die dafür sorgen, dass sie nur noch undeutlich sehen können, sie verstopfen ihnen die Ohren, so dass sie nicht mehr gut hören können, sie geben Ihnen Schuhe mit Bleigewichten drin, so dass jeder Schritt viel Kraft braucht, und die Versuchspersonen bekommen solche Manschetten an Arme und Beine, dass sie die Gelenke nicht mehr gut bewegen können. Und die Leute, die das ausprobiert haben, die sagen hinterher: jetzt kann ich mir vorstellen, wie man als alter Mensch die Welt erlebt, das ist ja unglaublich mühsam, wenn man so leben muss!
Das bedeutet: Alt zu werden ist die letzte und vielleicht schwerste Prüfung, die noch auf uns wartet: Bis dahin haben wir alle Schwierigkeiten mit unseren gewohnten geistigen und körperlichen Kräften gemeistert, aber dann müssen wir ohne diese ganzen Reserven durch den mühsamen letzten Lebensabschnitt hindurch.
Im 21. Psalm wird das drastisch geschildert. Da spricht einer davon, dass er Feinde hat, die ihn schon lange auf der Abschussliste haben, aber bisher konnten sie ihm nichts antun. Aber jetzt, wo er alt ist, da sehen sie eine Chance, sie wetzen das Messer und sagen: »Jetzt hilft ihm keiner mehr! Jetzt können wir ihn endlich erledigen!«
Nun muss man natürlich der Vollständigkeit halber sagen, dass es ja auch den Fall gibt, wo die Menschen ganz berechtigt aufatmen, weil jemand, der sie sein Leben lang getriezt und kontrolliert hat, endlich nicht mehr die Kraft dazu hat und sie endlich frei von dieser Bedrückung sind.
Im Ergebnis ändert das aber nicht viel: unser ganzes Leben bereitet uns vor auf diese letzte Prüfung – alt zu werden. Und wir sollten einerseits so leben, dass die Menschen nicht am Ende sagen: endlich gibt er den Löffel ab, das wurde ja auch Zeit! Und andererseits ist all das, was ein Leben lang für uns gut und richtig ist, die beste Vorbereitung auf die Zeit, wenn wir alt sein werden: zu lernen, sich ohne zu klagen auch in schwierigen Lagen zurechtzufinden; sich nicht von Unzufriedenheit erfüllen zu lassen; nicht daran festzuhalten, wie es immer war, sondern bereit sein, sich auf Ungewohntes einzustellen; eine aktive Haltung gegenüber dem Leben, die Verantwortung übernimmt; Bereitschaft, Vergangenes loszulassen und nach vorn zu schauen; eine Grundeinstellung der Dankbarkeit gegenüber dem Leben; und natürlich die Entscheidung, auf Gottes Kommentar zu meinem Leben zu achten und zu hören.
All das, was wir ein Leben lang Tag für Tag lernen sollen, das wird spätestens dann seine Bewährungsprobe bestehen müssen, wenn unser Leben in seine letzte Phase kommt. Wenn wir alt sind, dann werden wir nicht mehr Kraft haben, um unsere Macken zu überspielen, wir werden dann für die anderen ziemlich leicht erkennbar und durchschaubar. Wir haben nicht mehr die Kraft, anderen gegen ihren Willen unsere Vorstellungen aufzuzwingen. Dann bleibt nur noch das, was an echter Güte und echter Weisheit da ist, dann besteht nur noch die Autorität, die auch wirklich in unserer Person verankert ist. Und ich glaube, jeder von uns kennt alte Menschen, die bis ins hohe Alter beweglich und freundlich bleiben, die die Jungen mit ihren Gedanken und Gebeten begleiten, ohne sie einzuengen, deren Denkhorizont weit über ihre Lebenszeit hinausreicht und die immer noch bereit sind, sich auf neue Wege einzulassen. Und ich denke, das ist auch für einen Menschen selbst der beste Weg, um in Würde und in Frieden die letzte Wegstrecke zu gehen.
Aber wir werden auch dann, wenn wir uns gut vorbereitet haben, immer noch angewiesen sein auf die Güte und Nachsicht der Jüngeren. Deshalb sollten wir auch lernen, Freundlichkeit dankbar als ein Geschenk anzunehmen – als ein Geschenk, auf das wir keinen Anspruch haben, aber dessen Annahme uns nicht demütigt. Auch das gehört zur Vorbereitung auf den letzten Lebensabschnitt.
Es ist ja eindrücklich, wie im Buch des Predigers Salomo, das Alter mit seinen Belastungen beschrieben wird als Jahre, die uns nicht gefallen werden. Aber das alles wird begleitet von den Worten: denk an deinen Schöpfer, solange du noch jung bist! Genieße dein Leben, bevor es zu spät ist! Wir sollen ein Leben lang die Fähigkeit zur Freude entwickeln und alles Gute auch annehmen, damit wir nicht einmal enttäuscht zurückschauen und sagen: hätte ich doch damals die Chancen genutzt! Gott gibt uns selten das stabile Glück und die beständige Sicherheit, die wir uns alle wünschen; aber Freude, Vergnügen und Fröhlichkeit schenkt er uns immer wieder. Der christliche Schriftsteller C.S. Lewis hat einmal dargelegt, dass Gott Gründe hat, uns Sicherheit vorzuenthalten: denn dann würden wir anfangen, diese Welt als unsere bleibende Heimat anzusehen: sie würde uns festhalten und uns hindern, uns auf Gott zu orientieren. »Aber«, schreibt er, »die wenigen Augenblicke von Liebesglück, eine Landschaft, eine Symphonie, ein fröhliches Zusammensein mit Freunden, ein Bad im Freien oder ein Fußballspiel haben nicht diese Tendenz. Unser Vater erfreut uns auf der Reise mit manchem angenehmen Gasthaus, aber er will uns nicht ermutigen, es fälschlich für unser Zuhause zu halten.« Und er setzt hinzu: »Wir sind niemals sicher – und doch haben wir Spaß die Menge, und auch Entzücken ist nicht selten.« Und wir sollten diese wunderbaren Augenblicke, wenn sie kommen, dann auch nicht verschmähen.
Aber natürlich gibt es nicht nur diesen Zusammenhang, dass wir ein Leben lang doch ziemlich dieselben bleiben und im Alter nur deutlicher sichtbar wird, was für einen Menschen wir aus uns gemacht haben. Es passiert eben auch, dass die Persönlichkeit eines Menschen am Ende seines Lebens immer mehr schwindet, dass er immer weiter weggeht und dieser Mensch, den man jahrzehntelang gekannt hat, kaum noch da ist. Das kann durch Demenzerkrankungen geschehen – Alzheimer ist ja zu trauriger Berühmtheit gelangt. Es kann aber auch sein, dass die körperlichen und seelischen Kräfte so weit geschwunden sind, dass es kaum noch eine Reaktion gibt, wenn man einen Menschen anspricht oder berührt, und man sich unsicher ist, ob da überhaupt noch jemand ist.
Obwohl: fast alle Angehörigen, mit denen ich gesprochen habe, die einen Menschen bis an sein Lebensende begleitet haben, erzählen davon, dass sie fast bis ganz zuletzt immer noch den Eindruck hatten, dass da jemand war, und sie berichten von Reaktionen – einem schwachen Händedruck, einem Blick, oder dem Versuch, noch etwas zu sagen. Aber für viele ist das doch eine schlimme Erfahrung, wenn der Mensch, den man so lange gekannt hat, Stück für Stück verschwindet. So wie es wohl in der Szene am Anfang der Fall war, wo von dem fröhlichen und lebendigen Vater am Ende fast nichts mehr übriggeblieben war.
Es kann tatsächlich auch schon im Leben die Zeit kommen, wo nur noch Gott unsere Person festhält, weil wir selbst das nicht mehr können. Gott kennt uns, und wenn wir selbst beinahe gar nicht mehr sind, wenn wir selbst nicht mehr unsere Würde verteidigen können und uns beinahe schon aufgelöst haben – dann haben wir immer noch ein Zuhause und eine Existenz in den Gedanken und im Herzen Gottes.
Und das ist ein anderes Weiterleben als in den Gedanken und Herzen von Menschen. Die Erinnerung von Menschen verblasst und stirbt irgendwann auch. Aber Gottes Erinnerung setzt Realität. »Für Gott leben sie alle, denn er ist kein Gott von Toten, sondern von Lebenden« sagt Jesus. Wenn wir in dieser Welt an unser Ende kommen, dann ist es Gott, der uns von der anderen Seite aus festhält. So wie wir vor unserem Leben schon existiert haben in den Gedanken und im Herzen Gottes, so hält er uns auch nach unserem irdischen Leben fest und wird es alles noch einmal ganz neu zur Geltung bringen. Und das gilt auch schon für die Zeit, wenn wir in diesem Leben immer mehr abnehmen und beinahe schon gar nicht mehr sind.
In diesem Sinn dürfen wir Menschen in aller Begrenztheit Gott spielen: indem wir die Person eines Menschen festhalten und erinnern, auch wenn sie hier kaum noch zu finden ist. Und so hat es in der ersten Szene ja der Sohn auch gemacht, indem er seinem Vater einen Brief geschrieben hat, den der sicher nicht mehr lesen konnte – aber er hat an dem Vater festgehalten, den er kannte, und von dem er wusste, dass der in Wahrheit ein anderer war. Gott wird das besser machen, als wir es können, aber wir sollen ihn da, so gut es geht, nachahmen.
Gott spielen in dem anderen Sinne: sich zum Herrn über Leben und Tod zu machen – das hat der Sohn dagegen zu Recht zurückgewiesen. Es gibt Entscheidungen, die Gott uns zum Glück erspart. Dazu gehört es ebenso, das endgültige Urteil über das Leben eines Menschen zu sprechen, wie auch die Entscheidung über sein Lebensende zu fällen. Die Schwierigkeit ist nur, dass wir heute eigentlich nicht mehr unbefangen von einem natürlichen Tod sprechen können. Zu vielfältig sind die Möglichkeiten, einen Menschen noch am Leben zu erhalten, wenn seine eigenen Lebenskräfte eigentlich schon erschöpft sind.
Dass wir nicht Gott spielen sollen, bedeutet deshalb heute nicht nur das ziemlich Eindeutige, dass wir einem Leben nicht vor der Zeit ein Ende setzen dürfen. Es bedeutet auch das viel Schwierigere, dass wir ein Leben nicht über sein Maß hinaus verlängern sollen. Nicht einen Menschen, dessen Zeit gekommen ist, mit Technik, ja: mit Gewalt am Weggehen zu hindern. Aber das ist natürlich schwer zu sagen: wann ist die Zeit eines Menschen gekommen? Wann verlängert man ein Leben über sein Maß hinaus, und wann hilft man nur über eine Schwäche hinweg, nach der noch einmal eine sinnvolle Zeit kommt? Da stehen Angehörige, Ärzte und Pflegepersonal immer wieder vor Fragen, die man nicht mit letzter Sicherheit entscheiden kann. Aber entscheiden muss man, so oder so.
Es gibt ja auch diese Möglichkeit, dass man dazu rechtzeitig etwas schriftlich niederlegt, was dann den Angehörigen die Entscheidung erleichtern kann. Aber trotzdem kann man vorher nie wissen, was Gott noch in den letzten Stunden eines Lebens tun kann. Ich habe schon Geschichten gehört, die eigentlich nur den Schluss zulassen, dass da erst ganz kurz vor dem Ende eines Lebens Friede eingekehrt ist und einer diese Welt loslassen konnte.
Gott kann auch in dieser letzten Zeit eines Lebens noch auf Menschen einwirken. Auch dann, wenn wir da schon niemanden mehr erreichen. Aber Gott ist nicht an Verstand und klares Bewusstsein gebunden. So ziehen wir mit dem 71. Psalm die Summe:
5 Du bist meine Hoffnung, Herr, dir habe ich von Jugend auf vertraut. …
9 Jetzt, wo ich alt geworden bin, vertreibe mich nicht aus deiner Nähe! Die Kräfte schwinden mir, verlass mich nicht!