Ein Psalm für Unheilstifter

Predigt am 2. September 2018 zu Psalm 32

1 Von David. Ein Weisheitslied.
Selig der, dessen Frevel vergeben *
und dessen Sünde bedeckt ist.
2 Selig der Mensch, dem der HERR die Schuld nicht zur Last legt*
und in dessen Geist keine Falschheit ist.
3 Solang ich es verschwieg, zerfiel mein Gebein, *
den ganzen Tag musste ich stöhnen.
4 Denn deine Hand liegt schwer auf mir bei Tag und bei Nacht;*
meine Lebenskraft war verdorrt wie durch die Glut des Sommers.
[Sela]
5 Da bekannte ich dir meine Sünde *
und verbarg nicht länger meine Schuld vor dir.
Ich sagte: Meine Frevel will ich dem HERRN bekennen. *
Und du hast die Schuld meiner Sünde vergeben.
[Sela]
6 Darum soll jeder Fromme zu dir beten; *
solange du dich finden lässt.
Fluten hohe Wasser heran, *
ihn werden sie nicht erreichen.
7 Du bist mein Schutz, /
du bewahrst mich vor Not *
und rettest mich und hüllst mich in Jubel.
[Sela]
8 Ich unterweise dich /
und zeige dir den Weg, den du gehen sollst. *
Ich will dir raten, über dir wacht mein Auge.
9 Werdet nicht wie Ross und Maultier, die ohne Verstand sind./
Mit Zaum und Zügel muss man ihr Ungestüm bändigen, *
sonst bleiben sie nicht in deiner Nähe.
10 Der Frevler leidet viele Schmerzen, *
doch wer dem HERRN vertraut, den umfängt seine Liebe.
11 Freut euch am HERRN und jauchzt, ihr Gerechten, *
jubelt alle, ihr Menschen mit redlichem Herzen!

Dieser Psalm ist noch mal wieder anders als die, auf die wir bisher gehört haben. Die Kirche hat ihn später zu den sieben »Bußpsalmen« gezählt, d.h. es geht in diesem Psalm um das Thema Schuld. Und viele Menschen würden wahrscheinlich sagen, dass Sünde, Schuld und Vergebung ja zu den religiösen Kernthemen gehören. Um so bemerkenswerter ist es, dass man von den 150 Psalmen nur 7 zu den Bußpsalmen zählt. Das Thema »Schutz vor skrupellosen Feinden« ist weitaus häufiger vertreten, und trotzdem assoziiert man es viel seltener mit Religion.

Was ist das Thema von Religion?

Stattdessen gibt es viel mehr Geschichtchen und Anekdoten rund um Religion und Sünde. In einer dieser Geschichten kommt ein Mann aus dem Gottesdienst nach Hause, und seine Frau fragt ihn: »worüber hat denn der Pfarrer heute gepredigt?« Und was kommt als Antwort? Etwa: »über fiese Feinde und wie Gott einem gegen sie beisteht«? Natürlich nicht. Stattdessen antwortet er selbstverständlich: »Über die Sünde«. Aber der Frau reicht das nicht, und sie fragt weiter: »Was meinte er denn dazu?« Und der Mann sagt: »Er war dagegen.«

Jetzt wissen Sie also schon mal, was Sie sagen können, wenn Sie heute noch gefragt werden, worum es im Gottesdienst ging.

Bisher haben wir also in den Psalmen öfter mal von Menschen gehört, die unter anderen leiden, weil sie von denen verleumdet oder gemobbt werden und das allmählich existenzbedrohend wurde. In solchen Fällen scheint der Tempel von Jerusalem so etwas wie eine Berufungsinstanz gewesen zu sein, an die man sich wenden kann, um eine Ehrenerklärung zu bekommen und rehabilitiert zu werden. Dieser Psalm hier ist der Rückblick eines Menschen, der anscheinend früher einmal auf der anderen Seite gestanden hat. Wir erfahren leider auch hier wieder nicht, was da genau passiert ist. Aber wenn es im ersten Psalm heißt:

Selig der Mensch, der nicht dem Rat der Frevler folgt, /
der nicht betritt den Weg der Sünder‚*
nicht sitzt im Kreise der Spötter

dann scheint der Verfasser unseres 32. Psalms irgendwie in diese Kreise gekommen zu sein. Er scheint zu denen gehört zu haben, denen im 4. Psalm gesagt wird:

Ihr Mächtigen, wie lange noch schmäht ihr meine Ehre‚*
wie lang liebt ihr das Nichtige und sucht die Lüge?

Und ich glaube, dass bis heute Sünde vor allem durch Worte, durch Gesinnungen und Gruppenstile geschieht. Das wenigste davon landet vor Gericht. Wenn Menschen beraubt, verletzt oder getötet wurden, dann erfahren wir natürlich aus der Zeitung davon, und deswegen denken wir wahrscheinlich auch oft an Gesetzesverstöße, wenn von Sünde die Rede ist. Und wir wissen, dass es in anderen Teilen der Welt sehr viel an krasser Gewalt gibt. Besonders da, wo Krieg herrscht, ist ein Menschenleben wenig wert, und deshalb sind ja auch viele Menschen zu uns geflohen, weil wir hier in unserem Alltag zum Glück nur sehr selten mit solchen krassen Formen von Sünde zu tun haben. Der andere Bereich, an den man beim Thema Sünde vor allem denkt, ist sexuelle Unmoral, wie auch immer man die definiert. Und auch die erreicht nur selten solche Dimensionen, dass sich Gerichte damit befassen müssen, oder dass die Zeitung darüber schreibt.

Deswegen denke ich, im Alltag haben wir es vor allem mit sündig verzerrter Kommunikation zu tun, um es mal so zu sagen: Mobbing im weitesten Sinn, Demontage eines Menschen durch Gerede, Demoralisierung von Menschen durch offene oder versteckte Beleidigungen, Verbreiten eines negativen Klimas mit Beschuldigungen, Gemeinheiten und Abwertungen. Der Psalm spricht von einem Herzen oder Geist voll Falschheit. All das kann am Ende zu richtig schlimmen Handlungen führen, aber zum Glück gehen Menschen diesen Weg nicht immer bis zum Ende, jedenfalls in unserem Teil der Welt. Hoffen wir sehr, dass es so bleibt.

Leben verdorrt

Irgendwie muss der Beter dieses Psalms auch an so einer sündig verzerrten Kommunikation teilgenommen haben, und das hat ihm nicht gut getan. Er spricht im Rückblick davon, dass »Gottes Hand schwer auf ihm lag«, und dass er »verdorrte« wie das Gras im heißen Sommer. Die genaue Bedeutung ist an dieser Stelle nicht ganz klar, aber es ist schon deutlich, dass das Bild von Hitze redet, die alles austrocknen lässt. Wir brauchen aber zum Leben Wasser. Ohne Feuchtigkeit kommt alles Leben zum Stillstand. Und Wasser ist deshalb auch ein Bild für die Kraft und den Segen, der von Gott her alles Lebendige am Leben erhält.

Man kann dieses Bild also am besten so verstehen, dass die Lebenskraft dieses Menschen verfiel, dass sich dieser Mensch durch eigene Schuld von der Liebe Gottes abgeschnitten hat, und dass er dadurch an Leib und Seele verkümmerte. Vielleicht ist er sogar krank geworden. Die Vorstellung dahinter ist, dass wir einen ständigen Zufluss an Gottes Lebensenergie brauchen, um unsere Lebendigkeit zu behalten. Andere Menschen können unsere Lebensenergie klein machen oder rauben, wenn uns etwa Nahrung oder Zuwendung genommen wird, aber wir können uns auch selbst davon abschneiden, wenn wir Gottes Zugang zu uns blockieren. Und wenn wir in einem Netzwerk voll sündig verzerrter Kommunikation drinstecken, das ist eine der wirkungsvollsten Methoden, sich von Gottes Lebensenergie abzuschneiden.

Zerstörte Lebenswege

Um es mal an einem krassen Beispiel zu sagen: wir haben im Augenblick an vielen Orten der Welt militärische Gruppen, die in einer Welt voller Gewalt und Mitleidlosigkeit leben. Die gewohnt sind, zu töten und zu quälen, die erlebt haben, wie Kameraden neben ihnen getötet wurden und ahnen, dass auch ihr Leben schnell zu Ende sein kann. Die aber voll aufgehen in diesem Leben, die sich noch gegenseitig filmen, wenn sie andere zerstören und die Bilder vielleicht noch stolz in Netzwerken präsentieren.

Wird es denen jemals gelingen, in ein halbwegs normales Leben zurückzukehren? Es gibt genug Geschichten von regulären Soldaten, die es nicht mehr schaffen, nach einem Krieg in ein ziviles Leben zurückzukehren. Wie soll das dann erst solchen Desperados gelingen? Wie können die jemals wieder harmlos mit ihren Kindern spielen, ohne dass in ihnen die Bilder von toten Kindern aufwachen, die sie gesehen oder vielleicht sogar selbst getötet haben? Wie können die jemals wieder ihre Frauen und Freundinnen lieben, wenn sie so lange mit Herabwürdigung von Frauen zu tun hatten, mit Verachtung von Weichheit und Freundlichkeit, mit einem Ideal des harten Kriegers? Wie sollen die jemals alt werden können, wenn sie gelernt haben, dass man um keinen Preis schwach werden darf, weil es für Schwache kein Mitleid gibt?

Ja, manchmal scheint es zu gehen: von manchen KZ-Kommandanten wird berichtet, sie seien liebevolle Familienväter gewesen, obwohl ich das nicht wirklich glaube. Aber auf jeden Fall muss man dann ganz viel verdrängen, man muss ganze Teile seiner Persönlichkeit irgendwo tief unten einschließen und gut bewachen, und das kostet Lebenskraft. Man braucht viel Kraft, um die Vergangenheit unter Kontrolle zu halten. Warum sind denn auch bei uns in Deutschland so viele starr und engstirnig geworden, die den letzten Krieg miterlebt haben? Weil sie sich von so viele Tabuzonen fernhalten mussten, an die niemand rühren durfte. Und dann nimmt auch der Intellekt Schaden, und die soziale Intelligenz erst recht. Und wie soll es dann erst bei einem sein, der Jahrzehnte in einer Miliz gewesen ist, der gefoltert und vergewaltigt hat, der gelacht hat über Opfer und Schwächlinge, der seine eigene Angst nie eingestehen durfte, der kein normales Leben mehr vor sich sieht, in das er eines Tages zurückkehren wird?

Abgeschnitten von Gottes Lebensfreude

Ich nehme so ein krasses Beispiel, weil da die Zusammenhänge deutlicher werden als in unserem vergleichsweise harmlosen Alltag. Aber greifen tun solche Zusammenhänge auch bei uns. Wenn Menschen sich von Gott abschneiden, dann verkümmern sie: manchmal körperlich, manchmal seelisch, in ihrer Liebesfähigkeit, in ihrer Fähigkeit, sich an andere zu binden oder Bedürfnisse aufzuschieben, in ihrer Beweglichkeit und Freude, manchmal verkümmern Menschen kulturell und brauchen kräftige Dosen an Kitsch und plumpen Bildern, um das Leben noch zu spüren, manchmal können sie das nur noch unter Drogen. Manchmal kriegen sie ihr Leben gar nicht mehr auf die Reihe. Auf viele Arten schlägt sich das nieder, wenn ein Mensch verdorrt, weil Gottes Lebenskraft für ihn nur noch ein dürres Rinnsal ist.

Der Beter des Psalms hat zum Glück noch rechtzeitig gemerkt, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Und dann hat er sich an Gott gewandt und hat das ihm gegenüber ausgesprochen. Und das war die Wende. Es war wichtig, dass er diesen Zusammenhang formuliert hat, auf den Punkt gebracht hat. Aus so einem verzerrten Kommunikationszusammenhang kommt man nur raus, wenn man dem Ding einen Namen geben kann. Da muss ein Etikett dran, wo »Sünde« draufsteht oder was Vergleichbares. Vorhin in der Evangelienlesung (Johannes 8,31-36) haben wir von Jesus gehört:

Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht.
Weniger krass, aber nicht harmlos

Sünde ist ein Herrschaftsverhältnis, und du kommst da nur raus, wenn du bereit bist, deinen Kerkermeister beim Namen zu nennen und dich von ihm zu distanzieren. Ob das vor Gott geschieht oder vor einem anderen Menschen, ist nicht so entscheidend, es kommt auf die Haltung an. Die diffusen Erlebnisse und Erfahrungen müssen einen Namen bekommen, sonst modern sie vor sich hin und vergiften alles. Es muss formuliert werden: ich habe meine Mitmenschen immer zu kontrollieren versucht, ich habe meine Umgebung mit meinen Launen tyrannisiert, ich habe mich gefreut, wenn ich Macht über andere ausüben konnte, ich habe mich auf Kosten anderer in den Mittelpunkt gespielt, ich habe den Sonntag nicht beachtet, ich habe Menschen benutzt, um mich gut zu fühlen, ich habe andere manipuliert, ich habe Stimmung gegen Menschen gemacht, ich habe verdummende Zeitungsartikel geschrieben, ich habe anderen ihre Zeit gestohlen, ich habe anderen das Leben schwer und drückend gemacht – um jetzt mal Beispiele zu nehmen, die näher an unserer Alltagsrealität sind. Und Sie sehen daran, dass Sünde in der Regel gar nicht so einfach zu benennen ist. Die meisten Menschen, die sich so verhalten, würden das nie so formulieren. Und dann behalten sie ihre Einschränkungen, welche auch immer das sein mögen. Wenn ich einen überfalle und beraube, müsste es klarer sein, aber selbst da dauert es manchmal lange, bis Menschen aufhören, die Schuld bei anderen zu suchen. Wieviel mehr bei Sünden, die irgendwie in die ganz normale Alltagskommunikation eingeflochten zu sein scheinen.

Der Weg zurück

Hier in dem Psalm begegnen wir der Erleichterung eines Menschen, der spürt, wie seine Einschränkungen verschwinden und er wieder Anschluss an das volle Leben bekommt. Er spürt wieder die Freude und Liebe, die von Gott her in die Welt fließen. Und er hört den Zuspruch Gottes: ich will dich leiten, über dir wacht mein Auge! Ich will dich nicht wie einen störrischen Esel treiben müssen, viel lieber möchte ich dir dir den Weg zeigen, den du dann selbst gehst.

Bis ein Mensch so weit ist, braucht es manchmal eine blitzartige Erkenntnis und manchmal einen langen Heilungsprozess, nicht selten beides. Aber es gibt einen Weg zurück zum Leben. Niemand muss unter der Herrschaft seiner Sünden verdorren und versteinern. Gott lässt es zu, wenn wir seinen Zugang zu uns blockieren, aber er arbeitet daran, dass wir den Verlust unserer Lebendigkeit spüren. Und er wartet auf uns, wenn wir umkehren.

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