Das Universum und das Gesetz

Predigt am 27. Mai 2018 zu Psalm 19

1 Für den Chormeister. Ein Psalm Davids.

2 Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes und das Firmament kündet das Werk seiner Hände. 3 Ein Tag sagt es dem andern, eine Nacht tut es der andern kund, 4 ohne Rede und ohne Worte, ungehört bleibt ihre Stimme. 5 Doch ihre Botschaft geht in die ganze Welt hinaus, ihre Kunde bis zu den Enden der Erde. Dort hat er der Sonne ein Zelt gebaut. 6 Sie tritt aus ihrem Gemach hervor wie ein Bräutigam; sie frohlockt wie ein Held, ihre Bahn zu laufen. 7 Am einen Ende des Himmels geht sie auf und läuft bis ans andere Ende; nichts kann sich vor ihrer Glut verbergen.

8 Die Weisung des HERRN ist vollkommen, sie erquickt den Menschen. Das Zeugnis des HERRN ist verlässlich, den Unwissenden macht es weise. 9 Die Befehle des HERRN sind gerade, sie erfüllen das Herz mit Freude. Das Gebot des HERRN ist rein, es erleuchtet die Augen. 10 Die Furcht des HERRN ist lauter, sie besteht für immer. Die Urteile des HERRN sind wahrhaftig, gerecht sind sie alle. 11 Sie sind kostbarer als Gold, als Feingold in Menge. Sie sind süßer als Honig, als Honig aus Waben. 12 Auch dein Knecht lässt sich von ihnen warnen; reichen Lohn hat, wer sie beachtet. 13 Versehentliche Fehler, wer nimmt sie wahr? Sprich mich frei von verborgenen Sünden! 14 Verschone deinen Knecht auch vor vermessenen Menschen; sie sollen nicht über mich herrschen! Dann bin ich vollkommen und frei von schwerer Sünde.

15 Die Worte meines Munds mögen dir gefallen; was ich im Herzen erwäge, stehe dir vor Augen, HERR, mein Fels und mein Erlöser.

Vielleicht haben Sie gemerkt, dass dieser Psalm aus zwei ganz verschiedenen Abschnitten besteht: zuerst eine Beschreibung davon, wie der Kosmos Gottes Lob singt. Und dann anschließend ein Lob des Gesetzes Gottes, das den Menschen auf seiner Bahn hält. Die beiden Teile sind sehr unterschiedlich, und wahrscheinlich sind sie ursprünglich auch mal zwei verschiedene Lieder gewesen. Wahrscheinlich ist das erste Lied auch viel älter, der zweite Teil ist deutlich jünger.

Aber irgendwann sind diese ganz unterschiedlichen Texte in einem Psalm verbunden worden. Irgendwer hat gedacht, dass die sich gut ergänzen, ja, dass sie einander brauchen. Vielleicht war der äußere Anlass dafür, dass sie beide beim gleichen Fest gesungen worden sind. Aber es muss ja auch einen inneren Grund geben, warum man so unterschiedliche Texte zusammengefügt hat.

Der Blick auf den Kosmos

Fangen wir mit dem ersten Teil an: Da ist vom Kosmos die Rede, von den Himmeln und vom Himmelsgewölbe, von Tagen und Nächten und von den äußersten Grenzen der Erde. Man merkt deutlich, dass das aus einer Zeit stammt, wo die Physik noch nicht so weit fortgeschritten war. Man hatte sich noch nicht mal klargemacht, dass die Sonne irgendwie hinter der Erde herumlaufen muss, um am Morgen wieder aufzugehen, sondern das Lied spricht davon, dass Gott ihr eine Art Zelt gibt, wo die Sonne die Nacht verbringt. Erst der griechische Philosoph Anaximander hat – vermutlich eine ganze Zeit nach der Entstehung dieses Liedes – überlegt, dass die Sonne ja eigentlich irgendwie unter der Erde wieder vom Westen zum Osten zurückkehren müsste und hat daraus geschlossen, dass die Erde eine Kugel ist.

Aber die Physik ändert sich, inzwischen wissen wir auch wieder mehr als Anaximander. Was aber bis heute geblieben ist, das ist das Gefühl für die Großartigkeit des Kosmos, das in diesem frühen Lied eingefangen ist. Das können wir heute noch ganz anders nachvollziehen, denn wir sehen inzwischen nicht nur die unendlichen Räume über uns, wenn wir zum Himmel hinauf schauen. Wir blicken mit Teleskopen und Radioteleskopen und Satelliten heute weiter und tiefer ins Weltall hinein als jemals zuvor, und diese gigantischen Räume haben sich noch einmal unglaublich geweitet.

Unvorstellbare Räume

Unsere Sonne mit ihren Planeten ist ein winziger Teil der Milchstraße, man nennt sie auch die Galaxis. Allein in unserer Galaxis gibt es ungefähr 300 Milliarden Sonnen, und viele davon sind wesentlich größer als die Sonne. Unser nächster Nachbar im All ist die Andromeda-Galaxis, ungefähr zweieinhalb Millionen Lichtjahre entfernt. Das ist sozusagen unsere Nachbarschaft. Milchstraßen treten meistens in Haufen auf, dazu können ein paar Tausend Galaxien gehören. Im ganzen Weltall gibt es aber nach den neuesten Schätzungen etwa 50 Milliarden Galaxien; so viele könnte man jedenfalls theoretisch beobachten, vielleicht gibt es aber auch noch mehr. Wir haben ja schon Probleme damit, wenn wir uns die Entfernungen innerhalb des Sonnensystems vorstellen sollen, aber diese Dimensionen eines Weltalls von 50 Milliarden Galaxien mit vielleicht jeweils 300 Milliarden Sonnensystemen sprengt im Grunde jede Vorstellungskraft. Und all diese Galaxien bilden Strukturen, wirken aufeinander ein, senden Dichtewellen aus, klumpen zu Haufen zusammen und kommunizieren miteinander.

Wahrscheinlich ist das noch längst nicht das Ende der wissenschaftlichen Entwicklung. Aber es bleibt die Erfahrung, die die Menschen schon immer gemacht haben, und die in diesem Lied aus dem alten Israel eingefangen ist: das Erlebnis, wenn einer in der Nacht unter dem hohen Himmel steht und hinaufschaut in diese unendlichen Räume und merkt, wie klein wir sind. Und dazu gehört der Eindruck: das alles ist nicht stumm und tot, sondern da kommt eine Botschaft auf uns zu. Aber vielleicht sind wir gar nicht die eigentlichen Adressaten, sondern wir sind nur Zeugen eines Gesprächs, das wir nicht wirklich verstehen. So wie man vielleicht in einem großen Saal mit vielen Menschen das Geräusch ihrer Gespräche hört, aber man versteht nichts.

Eine Botschaft, nicht für uns bestimmt

So jedenfalls sagt es der Psalm: die Milchstraßen singen Gottes Ruhm. Die Sonne freut sich, wenn sie ihre Bahn zieht rings um das Zentrum unserer Galaxie. Jeder Ort im Universum hat seine eigenen Zeit, das wissen wir durch Albert Einstein, aber nichts ist isoliert, alles hängt mit allem zusammen, und sie grüßen sich auch über alle Abgründe und Unterschiede hinweg, auch wenn wir es nicht verstehen. Man kann jetzt sagen: da tragen wir menschliche Vorstellungen ins Universum hinein. Aber wie sollte es denn anders gehen? Wir können nicht nachvollziehen, wie Sterne und Galaxien miteinander kommunizieren. Wir können manches mathematisch beschreiben, aber das heißt noch längst nicht, dass wir es auch verstehen oder nachvollziehen könnten. Wir sind draußen vor, wenn Sterne miteinander kommunizieren.

Unter dem hohen Himmel

Deswegen sagt der Psalm: das Universum redet ohne Worte und ohne vernehmbare Stimme. Es gibt Schwingungen und Wellen, Resonanzen und Zusammenhänge, aber wir sind an diesem Gespräch nicht beteiligt, wir kriegen gerade mal mit, dass da was abläuft, mehr nicht. Das Universum redet auf seine Weise von Gott, wir ahnen es, heute dank Radioteleskopen und anderen technischen Wundern präziser als früher, aber verstehen tun wir es trotzdem nicht. Im Gegenteil, man könnte auch sagen: weil wir heute viel seltener unter dem hohen Himmel stehen, weil wir viel mehr Zeit drinnen verbringen als die Menschen früher, weil das Licht unserer Städte den Glanz der Sterne überstrahlt, deswegen bekommen wir heute viel weniger mit von der Botschaft des Weltalls als etwa ein Nomade, der nur einen Schritt aus seinem Zelt tun musste, um nachts unter dem hohen Himmel zu stehen. Diese Botschaft des Universums redet heute viel indirekter zu uns als früher.

Deswegen: setzt euch doch wenigstens ab und zu mal dieser Botschaft aus: sucht euch einen Platz, wo der Himmel nachts nicht vom Kunstlicht verschmutzt wird, und schaut eine Zeit in den hohen Himmel hoch, hört auf die Stille und macht euch klar, dass wir da Zeugen eines Gesprächs sind, das nicht für uns bestimmt ist, das unabhängig von uns ist, aber ein bisschen davon kommt dann doch auch bei uns an.

Die Botschaft an uns

So, und weil sie wohl damals schon gemerkt haben, dass da eine Lücke bleibt, deshalb haben sie den zweiten Teil des Psalms dazu gesetzt. Da geht es um eine Botschaft, die an uns gerichtet ist, die wir verstehen können und sollen. Die Weisung Gottes, die Thora, von Gott offenbart und festgehalten in der Schrift, ist die entscheidende Botschaft Gottes an uns. Für uns hat Gott seine Botschaft so formuliert, dass sie zu Menschen passt. Und tatsächlich haben die Worte der Schrift die Fähigkeit, Menschen in allen Zeiten zu erreichen und zu verwandeln. Wenn heute Menschen in neuzeitlicher Arroganz sagen: was kann denn ein jahrtausendealter Text uns modernen Menschen noch sagen, dann ist das pure Ahnungslosigkeit. Dass ein Buch über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg immer wieder zu Menschen gesprochen und den Lauf der Weltgeschichte verändert hat – das soll erstmal einer nachmachen. Und das schafft schon gar nicht dieser ganze Textmüll, der heute Tag für Tag produziert wird und am nächsten Tag vergessen ist, ins Altpapier gewandert oder in irgendwelche Datenspeicher, wo wir nie wieder nachschauen.

Freude an der Weisung Gottes

Von wie vielen Texten würde man das ernsthaft behaupten, dass sie den Menschen und seine Seele erquicken? Dass sie die Unverständigen weise machen können? Das sie das Herz mit Freude erfüllen? Dass sie gerecht sind? Da liegt die Messlatte schon ziemlich hoch. Wir spüren in diesen Worten immer noch die Freude einer Begegnung mit der Wahrheit: wie das Herz erquickt wird, wenn es Worte hört, die gut tun, die Freude, wenn die Welt entschlüsselt wird durch Worte, die alles an seinen Platz stellen, so dass es passt und das Leben transparent wird, übersichtlich wird, klar und einsichtig. Da kommt ein Gegenüber in unser Leben, eine Stimme, die die Welt durchschaubar macht und uns sagt, wie gutes Leben aussieht.

Diese Weisung Gottes, die Thora, das Gesetz, das begleitet die Juden jetzt schon seit mindestens dreitausend Jahren und hat dafür gesorgt, dass sie als Volk geblieben sind. Seit zweitausend Jahren ist es in der Nachfolge Jesu in der ganzen Welt verbreitet worden. Ohne dieses Buch wäre die Weltgeschichte völlig anders gelaufen.

Aufatmen als Erkennungszeichen

Natürlich ist dieses Buch auch missbraucht worden; wir kennen das vor allem aus der Lebensgeschichte Martin Luthers, der das zuerst als eine niederdrückende Tradition kennengelernt hat, die ihn bedroht hat und ihm das Leben schwer gemacht hat. Er hat das dann später das »Gesetz« genannt und hat immer gesagt: das wichtigste in der Theologie ist es, zu unterscheiden und gut darauf acht zu geben, dass aus der beglückenden Weisung Gottes nicht ein Herrschaftsinstrument wird, das Menschen einschüchtert, niederdrückt und ihnen das Leben unnötig schwer macht. Wenn aus der Thora ein Stock wird, mit dem man auf andere einprügelt, dann produziert das bis heute seelisch Behinderte oder Rebellen, oft beides in einem.

Aber hier im Psalm lernen wir: die Weisung Gottes macht das Leben leichter, sie befreit das Herz, sie lässt aufatmen, und sie sagt uns alles über die Welt, was uns das stumme Gespräch des Universums nicht sagen kann. Die Sterne haben für uns keine Botschaft, aber das Gesetz Gottes sagt uns, wie alles zusammenhängt. Erst aus dem Gesetz Gottes wissen wir, dass die Milchstraßen ihn loben. Erst aus der Schrift hören wir von der Freude der Sonne, wenn sie aufbricht zu ihrem Weg.

Die Antwort von der Erde aus

Die Schrift warnt uns auch, wenn wir gegen die innere Logik der Schöpfung verstoßen. Vorhin haben wir in der Lesung aus der Bergpredigt (Matthäus 6,24-33) gehört, wie Jesus diese Logik der Fülle und des Überflusses beschreibt. Es erquickt das Herz, wenn wir davon hören, dass die Welt nicht arm und kärglich ist, sondern reich und bunt. Der große Lobgesang der Milchstraßen übersetzt sich für uns in das Lob der Erde, die genug für alle hervorbringt und uns die Güte und Großzügigkeit des Vaters im Himmel verkündet. Und das soll unser Herz erquicken, es klüger und furchtloser machen, klarer und freier. Es soll uns davor bewahren, dass wir auf trügerische Menschen hereinfallen, auf leeres Gerede und nutzlose Diskussionen.

Und am Ende antwortet der Beter und stellt sich selbst mit hinein in den großen Gesang der Schöpfung: Lass dir gefallen die Worte meines Mundes! Mögen die Gedanken meines Herzens zu dir gelangen, Gott! Ich bin keine Stern und keine Galaxie, aber du hast dich mir zugewandt und hast verständlich zu mir gesprochen, und auf meine Weise stimme ich ein in den großen Lobgesang deiner Schöpfung!

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