Heimat: wo noch keiner war

Besonderer Gottesdienst am 28. Januar 2018 mit Predigt zu Hebräer 11,8-16

Diese Predigt war Teil eines Besonderen Gottesdienstes zum Thema !Heimat“. In einem ersten Teil wurden Videoaufnahmen mit Äußerungen verschiedener Interviewpartner zum Thema eingespielt.

In der Einleitung zum Gottesdienst hieß es:

Mit »Heimat« scheint vor allem gemeint zu sein: mit anderen Menschen zusammenzugehören, egal, ob das die Dorfgemeinschaft ist, die Familie, oder die Fans, mit denen man feiert. Da stellt sich jeder etwas zusammen, manchmal auch eine Mischung aus verschiedenen Zugehörigkeiten, und das findet dann seinen Ausdruck in Ritualen und Gemeinschaftsformen. Manchmal ist es mit einer Landschaft verbunden, manchmal mit eher abstrakten Gedanken und Werten. Aber es geht immer um die Zugehörigkeit, um ein Wir-Gefühl, das unkompliziert zugänglich ist.

Damit wird natürlich auch ein Problem sichtbar: Zugehörigkeit funktioniert oft gar nicht gut; deshalb wünschen wir sie uns ja auch so sehr. Und nicht alle Gemeinschaften, zu denen wir gern gehören möchten, halten, was sie versprechen. Eigentlich gibt uns keine all das, was diese Hoffnung erfüllen könnte, die wir, wenn es gut geht, aus der Kindheit haben.
Aber ich glaube, was wir uns unter dem Begriff der »Heimat« ersehnen, das könnte man zusammenfassend beschreiben als dieses Gefühl der fraglosen Zugehörigkeit zu einer überschaubaren Gemeinschaft, die oft mit einem Ort und regelmäßigem gemeinsamen Zusammenkommen verbunden ist.

Deswegen blickt man auf »Heimat« nicht selten romantisch zurück: irgendwann früher war das, in der Kindheit oder auch vor Generationen, vor vielen Jahren, als die Welt noch in Ordnung war. Im Rückblick verklärt sich das dann zu einer heilen Vergangenheit, die aber meistens gar nicht so heil war, solange sie noch Gegenwart war.

Mit der Überlegung, dass Heimat etwas ist, wo noch keiner war, steht der jüdische Philosoph Ernst Bloch ganz nah bei dem, was wir in der Bibel zum Thema finden: auch in der Bibel ist Heimat etwas, das wir nicht haben, sondern worauf wir erst zugehen und was wir erhoffen. Abraham z.B. wurde von Gott aufgefordert, seine Heimat zu verlassen, weil Gott ihm eine neue Heimat geben wollte. Das durchdenkt im Neuen Testament z.B. der Hebräerbrief:

8 Aufgrund des Glaubens gehorchte Abraham dem Ruf, wegzuziehen in ein Land, das er zum Erbe erhalten sollte; und er zog weg, ohne zu wissen, wohin er kommen würde. 9 Aufgrund des Glaubens siedelte er im verheißenen Land wie in der Fremde und wohnte mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung, in Zelten; 10 denn er erwartete die Stadt mit den festen Grundmauern, die Gott selbst geplant und gebaut hat. 11 Aufgrund des Glaubens empfing selbst Sara, die unfruchtbar war, die Kraft, trotz ihres Alters noch Mutter zu werden; denn sie hielt den für treu, der die Verheißung gegeben hatte.
12 So stammen denn auch von einem einzigen Menschen, dessen Kraft bereits erstorben war, viele ab: zahlreich wie die Sterne am Himmel und der Sand am Meeresstrand, den man nicht zählen kann. 13 Im Glauben sind diese alle gestorben und haben die Verheißungen nicht erlangt, sondern sie nur von fern geschaut und gegrüßt und sie haben bekannt, dass sie Fremde und Gäste auf Erden sind.
14 Und die, die solches sagen, geben zu erkennen, dass sie eine Heimat suchen. 15 Hätten sie dabei an die Heimat gedacht, aus der sie weggezogen waren, so wäre ihnen Zeit geblieben zurückzukehren; 16 nun aber streben sie nach einer besseren Heimat, nämlich der himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht, er schämt sich nicht, ihr Gott genannt zu werden; denn er hat ihnen eine Stadt bereitet.

Dieser Abschnitt des Hebräerbriefes schaut zurück auf einen der entscheidenden Momente in der Geschichte Israels und der Weltgeschichte überhaupt. Ziemlich am Anfang der Bibel, gleich nach der Geschichte vom Turmbau zu Babel, im 12. Kapitel des 1. Buches Mose, fordert Gott Abraham auf, seine Heimat zu verlassen und im Vertrauen auf Gottes Zusage in ein unbekanntes Land zu ziehen. Das ist die Geburtsstunde Israels und ein Wendepunkt der Weltgeschichte. Gott will einen Neuanfang machen, und dafür braucht er jemanden, der sich von all seinen bisherigen Zugehörigkeiten löst. Der Turm zu Babel war der Versuch von Menschen, über ein großes Symbol-Bauwerk ihren Zusammenhalt zu sichern. Das ging gründlich schief. Seitdem ist die Menschheit in viele Nationen aufgeteilt. Jetzt will Gott in einem neuen Land einen Neuanfang machen, mit einem Menschen, der seine ganzen alten Bindungen gekappt und hinter sich gelassen hat.

Um zu zeigen, wie fundamental dieser Aufbruch war, möchte ich den Historiker Larry Siedentop zitieren, der den Zusammenhang zwischen den antiken Menschen und ihrer Heimat so beschreibt:

»Nach seinem Selbstverständnis verteidigte der antike Bürger das Land seiner Ahnen, die zugleich seine Götter waren. Seine Vorfahren waren untrennbar verbunden mit dem Boden, auf dem die Stadt stand. Diesen Boden zu verlieren war gleichbedeutend mit dem Verlust der Familiengötter. …
Bei der Verteidigung der Stadt kämpfte der Bürger folglich für den Kern seiner Identität. Religion, Familie und Territorium waren untrennbar verbunden, eine Kombination, die den antiken Patriotismus in eine überwältigende Leidenschaft verwandelte.«

Das heißt: diese ganzen Bausteine von Heimat, aus denen sich heute jeder selbst irgendwie sein Heimatgefühl zusammenstellt – Dorf und Verein, Familie und Fußball, Religion und Nation, Landschaft und Wirtschaft, wie wir es am Anfang gesehen haben – das war in der Antike eine Einheit, die man nur im Paket haben konnte. Für dieses Paket haben die Leute selbstverständlich alles gegeben, wenn es sein musste, sogar ihr Leben. Denn das war alles, was sie hatten, ihre ganze Zugehörigkeit.

Aber Abraham sollte das alles aufgeben und stattdessen in ein Land ziehen, das er noch nicht einmal kannte. Und der Hebräerbrief sagt: es wurde noch nicht einmal seine endgültige Heimat, sondern sie wohnten da nur in Zelten. In Wirklichkeit warteten sie auch dort noch auf die Heimat, die es noch gar nicht gab, die Stadt, die Gott ihnen erst noch bauen wollte. Sie haben sie nur von fern geschaut und gegrüßt, heißt es da. Klingt das nicht verdächtig nach der Formulierung von Ernst Bloch, Heimat sei etwas, »das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war«?

Selbstgeschaffene Identität

Der Hebräerbrief beschreibt deshalb die Christenheit als das »wandernde Gottesvolk«, auf dem Weg zu einer Heimat, die erst noch kommen wird, hin zu einer Welt, die erst noch so werden soll, wie Gott sie gemeint hat. Und immer, wenn die Christen dachten, sie wären schon angekommen, dann kamen sie in Gefahr, ihren eigenen, christlichen Turm zu Babel zu bauen, mit all den Abgrenzungen, die das nach sich zieht, nur dass die Christen sich dann nicht in verschiedene Nationen zerstreuen, sondern in viele Konfessionen.

Diese Aufspaltungen entstehen immer dann, wenn Menschen sich selbst so etwas wie Heimat schaffen und sichern wollen. Wenn ihnen die Heimat, die Zugehörigkeit, das Wir-Gefühl nicht zufällt wie ein Geschenk, wie eine unerwartete Gabe, sondern wenn Menschen das festhalten und befestigen wollen mit Ideologien und Institutionen, mit Bauten und Symbolen, damit das auf jeden Fall sicher bleibt. Vor allem bleibt es dann in der Regel nicht aus, dass man den Zusammenhalt sichert durch den Blick auf die anderen, die nicht so sind, die nicht dazugehören, die Feinde, die »uns« bestimmt Böses wollen. Und genau das verdirbt die heimat.

Heimat bleibt Geschenk

Es ist im Grunde mit der Heimat so wie mit allen anderen Gaben Gottes: wenn wir etwas als Geschenk aus Gottes Hand entgegennehmen, dann ist es gut, es richtet nichts Schlimmes an, sondern bringt Segen mit sich. Wenn wir es uns als Beute unter den Nagel reißen und es mit keinem teilen wollen, dann verdirbt es und bringt uns das Gegenteil von dem, was wir uns wünschen. Die Heimat hat da eine schwierige Geschichte, weil so viele Kriege schon zur Verteidigung der Heimat geführt worden sind. Gerade in der Neuzeit, wo man Gott lieber beiseite geschoben hat, ist dann schnell die Nation an Gottes Stelle getreten, und man hat sich dann mit beinahe religiöser Inbrunst sein Selbstbewusstsein daraus gezogen und sich für die Nation eingesetzt. Aus einem Geschenk wurde ein Götze.

Deswegen hat Gott Israel immer wieder daran erinnert: das Land, das ich euch gebe, das gehört euch nicht, sondern es gehört mir; und ihr seid dort meine Gäste. Immer wenn sie das vergaßen und das Land als ihr Eigentum ansahen, auf das sie einen rechtmäßigen Anspruch hatten, dann verloren sie ihr Land über kurz oder lang.

Heimat ist noch verborgen

Wir haben in der Lesung (Lukas 9,57-62) vorhin gehört, wie Jesus selbst von sich sagt: ich bin heimatlos, mir gehört nichts, wo ich mein Haupt hinlegen könnte. Die Vögel und die Füchse mit ihren Nestern und Bauen haben mehr davon als ich. Und wie er dann von Menschen, die ihm nachfolgen wollen, verlangt, dass sie auch die ganzen Bindungen, in denen sie stecken, hinter sich lassen, wenn sie ihm nachfolgen wollen. Er tritt da ganz deutlich in die Spuren Abrahams.

Und von da aus blickt der Hebräerbrief zurück und sagt: auch Abraham war klar, dass das verheißene Land nicht die Endstation sein sollte, sondern das war erst ein Zeichen für die endgültige Heimat. Und im Philipperbrief schreibt Paulus: unsere Heimat ist im Himmel. Dort ist sie noch verborgen, wir sind noch auf dem Weg, wir sind Bürger der kommenden Welt, aber wir versuchen deshalb, jetzt schon zu leben als Menschen, die wissen, dass sie eigentlich woanders hingehören.

Heimat ist etwas Zerbrechliches

Warum sind Jesus, Paulus und all die anderen da so radikal? Weil sie wissen, wie schnell unsere Zugehörigkeiten und Heimaten ebenso wie unsere Besitztümer zu falschen Sicherheiten werden, auf die wir mehr vertrauen als auf Gott. Weil wir immer in Gefahr sind, aus Gottes guten Geschenken einen Anspruch zu machen, auf den wir ein Recht haben, den wir sogar manchmal gegen alle anderen verteidigen.

Das schöne an dem klassischen Heimatlied »Kein schöner Land« ist, dass es da relativ unschuldig ist. Da erinnert sich jemand an die schönen Momente im vertrauten Kreis von Freunden, unter den Linden im Tal, er wünscht sich, dass das noch lange so weitergeht, aber er weiß, dass es dafür keine Garantie gibt. Heimat ist etwas Zerbrechliches. Und deshalb überlässt er es Gott, wie lange er ihnen dieses Geschenk der Gemeinschaft gibt. So kann man, glaube ich, von »Heimat« sprechen, und dagegen hätte wohl auch Ernst Bloch nur einzuwenden, dass man nicht zu sehr zurückschauen sollte, weder in die Kindheit, noch in eine idealisierte Vergangenheit. Die Heimat liegt in Wirklichkeit vor uns, so wie Abraham nach vorn schaute und nicht zurück, als er aufbrach in das verheißene Land.

Gewalt verdirbt alles

Gott wird uns immer wieder solche Geschenke einer vorübergehenden Heimat machen. Wir dürfen das erwarten. Und mit all dem nährt er in uns die Erinnerung an die Heimat, in der noch keiner war. Wiir dürfen sie von fern schauen und grüßen, aber wir sollen sie nicht verwechseln mit den Orten, wo wir für begrenzte Zeit Gäste sind. Dass Jesus immer wieder und gern bei anderen zu Gast war, ist kein Zufall.

Heimat, die Geschenk bleibt, ist gut. Nach ihr Ausschau zu halten, ist gut. Sich über sie zu freuen, ist gut. Nur wenn wir sie mit aller Gewalt festhalten wollen, dann verdirbt sie. Wir sind noch unterwegs nach der neuen Welt, unserer wahren Heimat, die irgendwo hinter dem Horizont liegt; und nicht wir haben es in der Hand, wann diese Suche zu Ende ist.

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