Liebe in der Offensive

Predigt am 30. August 2015 zu 1. Johannes 4,7-12

7 Liebe Brüder, wir wollen einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott und jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott. 8 Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe.
9 Die Liebe Gottes wurde unter uns dadurch offenbart, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben. 10 Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat.
11 Liebe Brüder, wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben. 12 Niemand hat Gott je geschaut; wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns und seine Liebe ist in uns ans Ziel gekommen.

WeltGott ist Liebe. Das ist die christlichen Grundaussage über Gott, und hier wird das ganz besonders konzentriert ausgesprochen. Gott ist Liebe. Das ist sein Wesenskern, das ist seine Motivation. Aus Liebe hat er die Welt geschaffen, und Liebe hat er eingeschrieben in die Fundamente der Welt. Liebe ist das Muster, nach dem die Welt funktioniert, und wenn wir sie nach anderen Regeln behandeln, dann funktioniert sie nicht gut.

Für uns als europäische Menschen, die aus einer langen christlichen Tradition stammen, ist das keine besonders überraschende Behauptung. Natürlich ist Gott Liebe, er ist doch der »liebe Gott«, wie sollte er sonst sein? Wir haben vielleicht Probleme mit Menschen, deren Verhalten dem nicht entspricht, obwohl sie religiös zu sein scheinen, aber dass Gott, wenn es ihn gibt, Liebe ist, das ist für die meisten keine Überraschung.

Götter, die nicht Liebe sind

Als Johannes seinen Brief schrieb, war das ganz anders. Die damaligen Götter waren höchstens nebenbei auch liebevoll. Man hoffte, sie mit Opfern und Zeremonien zu freundlichem Verhalten zu bewegen. Dass sie wirklich halfen, und vor allem: dass sie überhaupt helfen wollten, war keineswegs sicher. Götter hatten ihre eigenen Ziele, sie stritten miteinander, sie verliebten sich und bekämpften sich, und wenn man als Mensch dazwischen geriet – Pech gehabt! Und wenn man nun gar an den göttlich verehrten römischen Kaiser denkt – dessen Ruhm und seine Stärke werden gepriesen, wohl auch seine Klugheit, bestenfalls der Frieden, den er gebracht hat. Aber niemand wäre auf die Idee gekommen, seinen Antrieb und sein innerstes Wesen in der Liebe zu suchen.

In dieser Welt, in der Liebe eher eine Randexistenz führte, schreibt Johannes seinen Brief mit dem Zentralthema Liebe. Der wirkliche, wahre Gott wird von Liebe bewegt, und ihn kennen, das geht nur, wenn ihr auch von Liebe bewegt seid und in einer ziemlich rauen Welt Gemeinschaften der Liebe aufbaut, Gemeinschaften, die sich nach dem Muster zusammenfinden, das der wahre Gott in die Grundfesten der Welt eingeschrieben hat.

Dieses Muster der Liebe kann man aber heute genauso wenig an der Welt ablesen wie damals. Johannes lebte in einer Welt, in der Menschenleben wenig zählten, wo man vor allem in der eigenen Großfamilie zusammen hielt und andere außen vor waren. Wir heute sind eher gewöhnt, die Welt als Ansammlung toter Materie anzusehen, mit der man machen kann, was man will – aber nicht als sichtbar gewordene Liebe.

Sichtbar gewordene Liebe

Aber darum geht es: die Welt ist nicht neutral und stumm, sondern hinter ihr steht Gott, und er hat alles so eingerichtet, dass die Welt erst unter den Sonnenstrahlen der Liebe wirklich aufblüht. Ohne Liebe wird die Welt kalt und zum Fürchten, und sie bleibt weit unter ihren vollen Möglichkeiten. Die ganze Schöpfung wartet darauf, dass endlich Menschen erscheinen, die die Betriebsanleitung der Welt verstehen und danach handeln.

Und damit das Wort »Liebe« nicht ein Allerweltswort wird, unter dem man alles Mögliche verstehen kann, hat Gott, der Schöpfer der Welt, sich in ein Menschenleben übersetzt: Jesus ist der Mensch, an dessen Leben und Worten man ablesen kann, was Liebe ist.

Deswegen haben wir vorhin in der Lesung diese Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37) gehört, wo Jesus nicht nur einen misstrauisch beäugten Außenseiter zum Helden macht (die Samaritaner standen in der Rangfolge der Wertschätzung damals ziemlich weit unten). Vor allem dreht Jesus die Frage des Schriftgelehrten »wer ist denn mein Nächster?« um. Es geht nicht mehr darum, wem ich helfen muss und wem nicht.

»Wem muss man helfen und wem nicht?«

Da kann man ja lange und fruchtlos drüber streiten, wann wir zur Hilfe verpflichtet sind und wann nicht. Aktuell kann man die ganzen verbalen und tätlichen Angriffe auf Fremde, die bei uns Schutz suchen, ganz gut im Rahmen dieser Frage verstehen. Da fühlen sich Menschen sowieso schon lange im Stich gelassen und abgehängt, und sie sehen, dass anderen geholfen wird, und sie fürchten, dass das auf ihre Kosten geht. Und sie haben das Gefühl: zuerst müsste eigentlich uns geholfen werden. Ob dieses Gefühl berechtigt ist, ist eine ganz andere Frage, aber diese Angst, abgehängt zu sein, ist der mehr oder weniger bewusste Hintergrund, vor dem dann einige auch ganz enormen Hass entwickeln.

Aber diese Frage »wem muss man helfen und wem braucht man nicht zu helfen?« führt in eine Sackgasse, weil Liebe unteilbar ist. Es gibt keine vernünftige Antwort, weil schon die Frage falsch ist. Liebe hat keine Grenzen, denn sie wird mehr, wenn wir Liebe ausüben. Liebe ist kein knappes Gut. Unsere Liebesfähigkeit ist wie ein Muskel: je mehr sie trainiert wird, um so stärker wird sie. Wenn sie nicht benutzt wird, verkümmert sie. Je mehr Liebe wir schenken, um so reicher werden wir an Liebe. Eine liebevolle Gesellschaft ist eine reiche Gesellschaft, und wenn wir den einen helfen, wird das allen zugute kommen. Wenn wir aber die einen schlecht behandeln, weil es den anderen auch nicht besser geht, wird daraus eine Abwärtsspirale, die alle nach unten zieht.

Es ist genug für alle da

Aber das ist überhaupt nicht nötig. Es ist genug für alle da. Gott war nicht knauserig, als er die Welt schuf. Gott ist großzügig. Und unser Land hat sogar ziemlich viel abbekommen von seiner Großzügigkeit. Liebe muss nicht sparen. Knapp wird es immer nur dann, wenn Menschen glauben, es würde nicht reichen und dann zuerst oder ausschließlich an sich selbst denken.

Deshalb dreht Jesus diese Frage: »wem muss ich helfen und wem nicht?« um und sagt: wem willst du denn helfen? Guck dir den Samariter an, der hat von sich aus den Schwerverletzten am Straßenrand zu seinem Nächsten gemacht. Niemand hätte ihn dazu verpflichten können, aber er wollte es so. Die Liebe hat ihn motiviert. Sieh ihn dir an und erkenne, dass jeder ein liebevoller Mensch sein kann, einer von denen, die die Welt freundlicher und heller machen. Jemand, an den einige Menschen ihr Leben lang zurückdenken werden und sagen: wenn die nicht gewesen wäre, ich weiß nicht, was dann aus mir geworden wäre! Als ich ganz am Ende war, da hat seine Freundlichkeit und Wärme mich gerettet! Das ist die Berufung über unserem Leben, über dem Leben von uns allen. Willst du nicht auch so sein? Wir haben selbst das meiste davon, wenn wir unserer Berufung folgen.

Liebe, die initiativ wird

Man muss das so nebeneinander sehen: Wir sind nicht verpflichtet, in jeder möglichen und unmöglichen Lage zu helfen, aber wir haben in uns das Potential, ganz viel Gutes zu bewirken. Dieses Potential ist unbegrenzt. Es gibt viele Menschen, die das von sich selbst gar nicht mehr glauben mögen, aber Jesus ist gekommen, weil Gott diesen Glauben in uns allen wecken möchte.

Gott wäre ja auch nicht verpflichtet gewesen, die Welt zu schaffen, aber er wollte es so. Die Liebe hat ihn motiviert. Er hat sich entschieden, unser Allernächster zu sein. Wir sind zuerst in seinen schöpferischen Träumen lebendig gewesen, und dann hat er sein eigenes Leben in uns hineingelegt und uns ins Leben gerufen. Und wir konnten diesem liebevollen Ruf nicht widerstehen.

Strukturen voller Misstrauen

Wir werden dann leider in eine Welt hineingeboren, die in vielen Bereichen von Misstrauen regiert wird. Der größte Teil unserer Bürokratie ist organisiertes Misstrauen. Wenn du einen Verletzten ins Krankenhaus bringst, ist die wichtigste Frage die nach der Versicherung. Wenn ein Fremder bei uns Zuflucht sucht, sind die größten Hürden die undurchschaubaren Vorschriften. Wenn jemand arbeitslos wird, gerät er in ein Gestrüpp von Regelungen, wo auch die Leute vom Jobcenter nicht immer durchblicken. Den Mindestlohn setzen wir bloß nicht zu hoch an, damit es keinem zu gut geht. Wenn du heiratest, brauchst du einen Haufen Dokumente, um zu beweisen, dass du nicht schon zwei Frauen hast. Wenn du einen Telefonvertrag abschließt, verstehst du das Kleingedruckte nicht. Eine Welt voller Misstrauen und Tricks versucht uns glauben zu machen, dass Großzügigkeit ein schöner Traum ist, eine weltfremde Illusion.

Wir haben viel zu verschenken

Und trotzdem leben wir alle immer noch von der Großzügigkeit Gottes, der es regnen lässt und die Sonne scheinen lässt über Böse und Gute: über die, die das verdienen, aber auch über die anderen. Und wir erleben natürlich auch dauernd die spontane Freundlichkeit von Menschen, die nicht mit Liebe sparen, die nicht misstrauisch sind, die von sich aus schenken und geben, und wahrscheinlich, hoffentlich sind wir doch auch so. Trotz aller Versuche, uns das auszutreiben, damit wir endlich auch in diese Welt des verwalteten Misstrauens hineinpassen. Aber wollen wir wirklich zu diesen armen Menschen gehören, die mit Überzeugung sagen »ich habe nichts zu verschenken«?

Jeder hat ganz viel zu verschenken. Wir sind reich. Gott hat uns so gemacht, er hat eine Welt voller Überfluss geschaffen. Und Johannes erinnert seine Leute in dem Brief daran, damit sie sich das nur nicht ausreden lassen. Wer glaubt, Gott wäre knauserig, der kennt ihn nicht. Aber wir, sagt er, wir kennen ihn, wie er wirklich ist, und wir leben in diesen Gemeinschaften der Großzügigkeit und der Liebe, die Jesus ins Leben gerufen hat. Wenn um uns herum der große Versuch im Gange ist, die Welt hart und karg zu machen, dann setzen wir eine Welt der Liebe dagegen. Wo alle glauben, sie kämen zu kurz, da kennen wir den unerschöpflichen Segen Gottes. Während viele am liebsten unter Gleichen sind, entdecken wir in anderen und Fremden ein Geschenk. Obwohl viele sich nichts zutrauen, wächst unsere Kraft. Andere verschanzen sich ängstlich in der Abwehr, wir gehen offensiv auf die Welt zu und entdecken ihren Reichtum. Gott ist nicht fremd und fern, sondern er lebt unter uns, und wir erinnern alle daran, wie die Schöpfung wirklich gemeint ist.

Die Welt des Misstrauens ist nicht alternativlos. Weil Gott Liebe ist, deshalb gehört der Liebe die Zukunft, und das spürt man schon in der Gegenwart.

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