Tage, die die Welt erschüttern
Predigt am 2. November 2014 zu Offenbarung 6,9-17 (Predigtreihe Offenbarung 13)
9 Nun öffnete das Lamm das fünfte Siegel. Da sah ich am Fuß des Altars die Seelen derer, die umgebracht worden waren, weil sie an Gottes Wort festgehalten und sich zur Botschaft von Jesus bekannt hatten. 10 Mit lauter Stimme riefen sie: »Du heiliger und gerechter Herrscher! Wie lange dauert es noch, bis du über die Bewohner der Erde Gericht hältst und sie dafür zur Rechenschaft ziehst, dass unser Blut an ihren Händen klebt?« 11 Daraufhin erhielt jeder von ihnen ein weißes Gewand, und es wurde ihnen gesagt, sie sollten noch eine kurze Zeit Geduld haben. Ihre Zahl sei noch nicht vollständig; denn auch unter ihren Geschwistern, die wie sie Gott dienten, gebe es noch solche, denen es bestimmt sei, dasselbe Schicksal zu erleiden und für ihren Glauben zu sterben.
12 Nun sah ich, wie das Lamm das sechste Siegel öffnete. Ein heftiges Beben erschütterte die Erde, die Sonne wurde schwarz wie ein Trauerkleid, der Mond verfärbte sich vollständig und wurde rot wie Blut, 13 und die Sterne fielen auf die Erde wie Feigen, die der Herbststurm vom Baum schüttelt. 14 Der Himmel verschwand, als wäre er eine Pergamentrolle, die man zusammenrollt, und kein Berg und keine Insel blieben an ihrem Platz.
15 Die Könige der Erde, die hohen Beamten und die Generäle, die Reichen und die Mächtigen, aber auch alle anderen Menschen – Sklaven genauso wie Freie – flüchteten ins Gebirge und versteckten sich dort in Höhlen und Felsspalten. 16 Sie flehten die Berge und Felsen an: »Fallt doch auf uns, und verbergt uns vor den Blicken dessen, der auf dem Thron sitzt, und vor dem Zorn des Lammes! 17 Denn jetzt ist er da, der furchtbare Tag, an dem ihr Zorn über uns hereinbricht. Wer kann da noch bestehen?«
Für solche Bilder ist die Offenbarung berühmt oder auch berüchtigt. Da geht alles drunter und drüber, und man versteht nicht, warum. Als Film oder als Computerspiel würde das ja noch durchgehen, aber nicht als Teil der Bibel. Da regen sich die einen auf und manche gruselt es nur noch.
Aber wenn man sich das im Einzelnen anschaut, dann fragt man sich: wie kann das funktionieren – erst bleibt kein Berg an seinem Platz, aber dann verstecken sich die Menschen doch wieder in den Höhlen der Berge. Und wenn vorher beschrieben wird, dass die Sterne vom Himmel fallen und der Himmel selbst verschwindet, dann müsste es eigentlich um das Ende des Universums aus Raum, Zeit und Materie gehen, und dann fragt man sich, wieso danach überhaupt noch Menschen übrig sind, die sich verstecken können. Mal ganz abgesehen von der Frage, ob Menschen selbst in der größten Not wohl auf die Idee kommen würden, mit einem Berg zu sprechen und ihm zu sagen: fall über mich und schütze mich!
Biblische Bilder verstehen
In diese Verlegenheiten kommen wir mit unserer humorlosen modernen Art, mit diesen Bildern umzugehen. Wir sind so naturwissenschaftlich geprägt, dass wir selbst solche Texte selbstverständlich als Tatsachenberichte lesen und nicht als Bilder. Ich kann mich erinnern, als Kind habe ich sogar das Märchen von Schneewittchen daraufhin durchdacht, ob das wohl wirklich so passiert ist, und wäre ich zu der Gewissheit gekommen, dass das keinerlei historischen Kern hat, dann wäre die Geschichte für mich erledigt gewesen. Zum Glück war ich mir damals in dieser Frage nicht ganz sicher, so dass die Brüder Grimm noch eine Chance bekamen.
Ein Mensch im Altertum hätte das nicht so gemacht, sondern er hätte natürlich verstanden, dass Märchen Märchen sind und Bilder wie in der Offenbarung eben Bilder. Es gibt in der Bibel viele Passagen, die historisch gemeint sind, und es gibt andere, die mit Bildern arbeiten, die nicht historisch gemeint sind, aber trotzdem Wahrheit sind, und die Menschen konnten das auseinander halten. Nur wir neuzeitlichen Menschen sind so faktenfixiert, dass wir denken, Schneewittchen macht nur Sinn, wenn wir es als historische Quelle über das späte Mittelalter lesen.
Welterschütternd im bildlichen Sinn
Die Bilder der Offenbarung reden tatsächlich von welterschütternden Ereignissen, aber in dem Sinn, wie es ein bekanntes Buch über die russische Oktoberrevolution gibt, das den Titel trägt: »10 Tage, die die Welt erschütterten«. Es geht um solche welterschütternden Dinge wie die Zerstörung des World Trade Centers in New York am 11. September 2001, oder den Fall der Berliner Mauer, oder die Schüsse von Sarajewo, die zum ersten Weltkrieg führten, oder eben die russische Oktoberrevolution.
Würden wir immer an Erdbeben denken, wenn wir von »welterschütternden Ereignissen« hören, dann würden wir es ungefähr so machen wie der Peter Schmidt aus Gadenstedt (Sie wissen doch, der die Bücher darüber geschrieben hat, wie er als Autist die Welt erlebt), dem jemand mal gesagt hat, er müsse sich in der Schule »durchbeißen«. Und dann hat er tatsächlich immer seine Mitschüler gebissen, wenn es Probleme gab, weil er als Autist einfach nicht in der Lage war, das Bild vom »Durchbeißen« zu verstehen.
Also verstehen wir die Bilder der Offenbarung nicht wie neuzeitliche Autisten, sondern verstehen wir sie als die Bilder, die sie sind! Bilder, die wahr sind, aber nicht in unserem neuzeitlichen Sinn historisch. Erst wenn wir diesen Unterschied verstehen, müssen wir auch nicht mehr darüber nachdenken, wie ein Lamm es mit seinen Hufen schaffen soll, eine Buchrolle zu nehmen und fein säuberlich sieben Siegel eins nach dem anderen zu öffnen.
Bilder, um über das Unvorstellbare zu reden
Denn das ist ja immer noch die Rahmenerzählung: Jesus, das Lamm Gottes, hat die versiegelte Schriftrolle mit dem geheimen Plan Gottes zur Rettung der Welt bekommen, und jetzt öffnet er die Siegel der Rolle, und die Folge sind welterschütternde Ereignisse. Das letzte Mal hörten wir von den vier apokalyptischen Reitern der Offenbarung: dem Eroberer, dem Krieg, dem Mangel an Lebensmitteln, der Seuche. Das ist erschreckend realistisch, wenn man sich die Welt heute anschaut. Wenn Gottes Plan zur Ausführung kommt, dann wird es nicht langsam immer besser, sondern dann ruft das Widerstände und Konflikte hervor, so wie es auch auf der individuellen Ebene zu dramatischen Entwicklungen kommen kann, wenn ein Mensch in einer Therapie den Kampf mit seiner Vergangenheit oder einer Sucht aufnimmt.
Anders als in solchen Bildern konnte man das damals ja überhaupt nicht kommunizieren. Wie hätte man Jesusnachfolgern des 1. Jahrhunderts nach Christus eine Vorstellung davon geben können, was aus dem Impuls, den sie in die Weltgeschichte bringen, noch alles werden würde? Unsere ganze moderne Welt mit all ihren Schrecken und Segnungen wäre ohne diesen urchristlichen Impuls nicht denkbar. Aber wie hätte man Weltraumfahrt und Atombombe, moderne Medizin und Computer, Flugzeuge und U-Bahnen und noch viel mehr einem Menschen von damals auch nur annähernd begreiflich machen können? Und wahrscheinlich wäre es noch schwerer, uns heute eine Vorstellung davon zu geben, wie die Welt vielleicht in 2000 Jahren aussieht, selbst wenn ein Zeitreisender aus der Zukunft zu uns käme. Man kann davon nur in Bildern reden.
Der Beitrag der Märtyrer zur Dynamik der neuen Welt
Jetzt, beim fünften Siegel, ändert sich das Bild. Dort im himmlischen Thronsaal gibt es anscheinend auch einen Altar, wörtlich »der Ort, wo geopfert wird«, und von dort aus melden sich die Märtyrer: diejenigen, die getötet worden sind, weil sie am Wort Gottes festgehalten und seine Wahrheit nicht aufgegeben haben.
Da wird sichtbar, dass dieser Plan Gottes nicht umsonst zu haben ist. Es muss ein Preis dafür bezahlt werden. Jesus selbst ist getötet worden, und genauso trifft auch einige seiner Nachfolger dieses Schicksal. Hier hören wir zum ersten Mal etwas davon, dass es die Standhaftigkeit der Jesusnachfolger ist, die ganz wesentlich dazu beiträgt, dass sich die Dynamik entfaltet, von der die Offenbarung redet. Jesus Christus ist das Wort Gottes, und mit diesem Wort bewegt Gott die Welt, aber ein Wort muss Gestalt annehmen, es muss in Menschen lebendig werden, sonst hört es keiner, und es bewegt nichts.
Zu Gottes Plan für seine Welt gehören also ganz wesentlich Menschen, in denen Jesus Gestalt annimmt, durch die er vernehmbar wird. Ihre Standhaftigkeit bedeutet, dass sie sich nicht vom Wort Gottes, also von Jesus, trennen lassen, sondern auch unter Druck und Bedrohung fortfahren, Jesus zu verkörpern.
Um diese Passage gut zu verstehen, müssen wir uns zuerst klar machen, dass die Christen damals eine winzige Minderheit in der Gesellschaft waren. Manche Leute stellen sich ja schon die frühe Kirche wie die späte katholische Kirche vor: mit Papst, Bischöfen, prunkvollen Prozessionen usw. Nichts könnte falscher sein. Das waren kleine Gruppen in oft großen Städten, die in einer soziologischen Analyse ihrer Stadt gar nicht aufgetaucht wären, weil sie so klein waren und durch alle Raster durchgefallen wären.
Die Wirkung einer unscheinbaren Minderheit
In der Johannesoffenbarung wird diesen kleinen Gruppen gesagt: ihr seid der Spalt in der Tür, durch den Gott in die Welt kommt, der Angelpunkt der Weltgeschichte. Durch euch bringt Gott seinen Plan zur Ausführung. Ihr seid nur wenige, aber weil in euch Jesus Gestalt annimmt, bringt ihr paar Leute die Dynamik in Gang, die in diesen dramatischen Bildern beschrieben wird. Und ihr habt dabei praktisch den ganzen Rest der Menschheit gegen euch.
Die Märtyrer am Altar haben ja unter den Bewohnern der Erde gelitten. Unter allen. Und beim sechsten Siegel wird zwar ausführlich von den Königen und Mächtigen und Großen gesprochen, über die das Gericht kommt und die sich in den Felsklüften verstecken, die Anführer stehen schon im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sie sind die Akteure, aber am Ende hören wir auch noch kurz von den einfachen Leuten, seien es Freie oder Sklaven. Das heißt, eigentlich sind es natürlich die Könige und Herren, die handeln und zur Rechenschaft gezogen werden, aber die einfachen Leute laufen ihnen hinterher.
Bis dahin unbekannte Freiheit von den Mächten
So haben es die Christen ja erlebt: verfolgt wurden sie in der Regel von den Machthabern, aber wenn sie dann im Zirkus den wilden Tieren ausgeliefert wurden, saßen die anderen, die einfachen Leute, auch dabei und klatschten. Die hatten gar nicht geistigen Mittel, um sich von ihren Oberhäuptern abzugrenzen und zu sagen: zu so etwas Grausamen gehe ich nicht hin. Erst mit dem Christentum bekamen Menschen überhaupt den Rückhalt, sich von ihren Chefs und Leitfiguren abzugrenzen. Im Judentum war das vorbereitet, da sind die Könige oft von den Propheten im Namen Gottes kritisiert worden, und dann haben die Christen diese Haltung in die ganze Welt getragen. Das war damals etwas wirklich Neues.
Für uns scheint das heute nichts Besonders zu sein, dass man sich kritische Gedanken über die Machthaber macht, aber das ist überhaupt nicht selbstverständlich. Wir sind in diesem Jahr ja öfter an die Kriegsbegeisterung am Anfang des ersten Weltkrieges erinnert worden. Das ist noch gar nicht lange her. Um sich so einem Sog zu entziehen, reicht es nicht, irgendwie kritisch zu sein. Man muss schon woanders fest verankert sein, um sich so einer Stimmung zu entziehen. Erst die Verbindung mit dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus hat Menschen das Potential gegeben, um den großen Mächten die Loyalität zu entziehen und ihren eigenen Weg zu gehen. Wenn Jesus Christus nur eine vorübergehende Episode der Menschheitsgeschichte wäre, dann würde auch diese Unabhängigkeit bald wieder verschwinden.
Freiheit, die die Sterne stürzen lässt
Denn damals im römischen Imperium gab es zwar Fraktionskämpfe, es gab natürlich Kriege mit Feinden, aber in einer fundamentalen Unabhängigkeit vom Imperium lebten nur die Christen und einige Fraktionen des Judentums. Das ist ein völlig neuartiges Element in der Geschichte. Und die Offenbarung des Johannes sagt mit ihren Bildern: das erschüttert die Welt, wie man sie bis dahin kannte. Das ist der epochale Beginn einer neuen Welt. Das lässt die Sterne – nämlich die Stars – vom Himmel fallen, so wie die Denkmäler der Machthaber irgendwann vom Sockel gestoßen werden. Da können sie sich tatsächlich nur noch unter der Erde verstecken, so wie sich der libysche Ex-Diktator Gaddafi am Ende in einer Betonröhre verstecken wollte, Iraks Saddam Hussein in einem Erdloch, und Adolf Hitler im Bunker der Reichskanzlei.
Und wenn jetzt einer fragt, ob man sich davor fürchten soll, dann kann man nur antworten: das kommt drauf an. Das ist so, wie wenn legale oder illegale Steuerschlupflöcher gestopft werden: wer einfach ehrlich seine Steuern gezahlt hat, der kann sich freuen, weil dann mehr Geld da ist, um die Schlaglöcher ordentlich zu reparieren und Dinge wie den Kugelwasserturm oder ein Schwimmbad zu sanieren. Wer beim Steuerzahlen getrickst hat, der wird das wahrscheinlich als Bedrohung sehen, aber eigentlich müsste er es nicht. Denn das kommt ja auch ihm zugute, wenn die Gemeinschaft genug Geld hat.
Angst vor einem Leben ohne Macht?
Genau so ist es mit der Bewegung, die durch Jesus in die Welt gekommen ist: wer zu Jesus gehört, muss sich sowieso nicht fürchten (davon werden wir im nächsten Kapitel noch mehr hören). Wer nicht zu Jesus gehört, der muss sich eigentlich auch nicht fürchten, weil die neue Welt – eine Welt ohne Angst, Gewalt und Lüge – für alle besser ist. Aber wahrscheinlich wird er es als Bedrohung empfinden. Wahrscheinlich wird er Angst haben vor der Erschütterung der Mächte. Beinahe alle Machthaber können sich nicht vorstellen, dass es für sie noch ein Leben geben könnte nach dem Ende ihrer Herrschaft. Magda Goebbels hat am Ende noch ihre Kinder vergiftet, weil sie nicht wollte, dass sie in einer Welt ohne Nationalsozialismus leben.
Aber warum ist das eigentlich so unvorstellbar? Wenn einer all seine Macht verloren hat, dann ist ja immer noch der Mensch da (falls die Macht ihn nicht völlig aufgefressen hat). Diesen Menschen spricht Jesus an, und für den kann es in der neuen Welt durchaus eine gute Zukunft geben.