Biblische Spiritualität: Im Rhythmus der Psalmen

Aus meinem Workshop beim Emergent Forum 2013: die Psalmen schaffen mit Worten einen offenen Raum, in dem es zur Begegnung mit der Tiefendimension der Welt kommen kann.

In lockerer Folge poste ich Gedanken aus meinem Psalmenworkshop beim Emergent Forum 2013. | Teil 2 | Teil 3 |

Ein stereoskopischer Zugang zur Welt

Die Grundstruktur der Psalmen ist ein Parallelismus: immer zwei Zeilen gehören zusammen und sagen beinahe das Gleiche, aber nicht ganz. Sie sagen es mit unterschiedlichen Worten oder aus unterschiedlicher Perspektive. Das wird dadurch verstärkt, dass die Psalmen im Gottesdienst wohl von mindestens zwei Gruppen gesprochen/gesungen wurden. Erst die unterschiedlichen Sichtweisen unterschiedlicher Gruppen ergeben also das ganze Bild. Das übt eine meditative Grundhaltung ein: die Dinge müssen zunächst in ihrer Fülle wahrgenommen werden. Zudem wird in der klassischen Psalmenrezitation zwischen den beiden Zeilen eine Pause eingelegt: eine Unterbechung, die ebenfalls betrachtend verweilen lässt.

Das führt aber nicht zu Beliebigkeit, sondern der Sachverhalt wird dadurch gerade viel klarer und reicher beschrieben. Wenn es z.B. heißt (Ps. 5,6):

»Stolze kommen dir nicht vor die Augen –
du hassest alle, die Unrecht tun.«

dann wird die Grundausrichtung damit nicht relativiert oder abgemildert, sondern sie wird reicher entfaltet. Man verpackt die Realität nicht abschließend in einen Begriff und klebt ein Etikett daran, sondern man bleibt dabei und umkreist ein Stück Welt und klopft es ab auf die Bedeutungen, die es in sich trägt. Der Blick bekommt Tiefenschärfe. Die Welt ist nicht einfach das, was sie ist, sondern sie birgt in ihrer Mitte ein Geheimnis.

Spiritualität als leerer Ort

Mit der Grundstruktur des Parallelismus halten die Psalmen also die Differenz fest zwischen unseren Begriffen und Worten und der Sache, die wir bezeichnen. Indem sie den Sachverhalt von mehreren Seiten umkreisen, halten sie zwischen sich einen leeren Raum frei – ähnlich wie der Jerusalemer Tempel in seiner Mitte einen leeren Raum barg, die Wohnung des unsichtbaren Gottes. Das lässt uns verstehen, worum es in der (jüdischen und christlichen) Spiritualitat überhaupt geht: es wird ein Ort geschaffen, in dem es zur Begegnung mit der unverfügbaren Realität Gottes kommen soll.

Der Tempel schafft einen solchen leeren Ort im Raum. Der Sabbat schafft einen ebensolchen Ort in der Zeit. Die Psalmen bauen ein Heiligtum in der Sprachwelt. Es sind Worte, die zwischen sich Raum schaffen für das Unsagbare. Biblische Spiritualität ist deswegen keine wortlose Spiritualität, sondern eine wortgeprägte. Die Worte der Psalmen sind keine Bedrohung für das Geheimnis der Welt, so dass man besser auf sie verzichten sollte, sondern sie ermöglichen gerade Begegnung. Denn es ist kein beliebiges Unsagbares, auf das wir warten, sondern es geht um den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Vater Jesu Christi.

Biblische Spiritualität geht davon aus, dass die Wirklichkeit nicht einfach das ist, was sie ist. sondern sie birgt in sich ein Geheimnis, sie hat eine Tiefendimension, eine verborgene Seite: den Himmel, den Bereich Gottes. Gott überlässt seine Schöpfung nicht sich selbst, sondern belebt, segnet und durchwaltet sie auch weiterhin. In der biblischen Spiritualität geht es darum, mit dieser verborgenen Tiefendimension in Berührung zu kommen. Einen Raum zu schaffen, wo diese Begegnung möglich wird. Dafür sind die Psalmen da.

Dieser Beitrag hat 5 Kommentare

    1. Walter

      Als Vorzug des Bildes vom weißen und schwarzen Feuer sehe ich, dass dabei der Zwischenraum und die Begrenzungen, die ihn ermöglichen, besser aufeinander bezogen sind. So dass also deutlicher herauskommt, dass die unverfügbare Präsenz gerade in einem irdischen, materiellen Rahmen geschieht. Auf diese Weise muss man nicht, wie es gerade in der lutherischen Tradition oft geschieht, das „Machbare“ und das „nicht Machbare“ gegeneinander stellen.

  1. Walter

    Ja, daran habe ich auch schon gedacht. Wobei das Feuer ja etwas ist, was in dem leeren Raum auflodern soll und deshalb von ihm zu unterscheiden ist. Allerdings gefällt mir die Formulierung „leerer Raum“ noch nicht ganz; sie ist ein bisschen zu theatralisch. Aber im Moment fällt mir noch nichts Besseres ein. Es ist halt in Analogie zum Tempel und zum Sabbat gedacht.
    Bei den beiden Sätzen eines Psalm-Parallelismus könnte man auch an zwei Gestirne denken, die um den gemeinsamen – virtuellen – Schwerpunkt kreisen. Wie finden Sie dieses Bild?
    Herzliche Grüße nach Berlin!

  2. IWe

    Ich finde den Begriff „leerer Raum“ auch noch nicht das „Gelbe vom Ei“, aber vermutlich aus anderen Gründen als Sie:

    1. Ist es nicht wirklich ein leerer Raum, sondern das schwarze und das weiße Feuer bedingen und ergänzen sich gegenseitig. Das eine geht ohne das andere nicht, und in diesem weißen Feuer liegt eine riesige Potentialität, nämlich die, der jeweiligen Neuauslegung bzw. Aktualisierung in die gegenwärtige Situation hinein.

    Die jüdische Tradition geht davon aus, daß der Text der Torah (und für die Psalmen gilt entsprechendes):
    1. ein heiliger Text
    2. ein vollständiger Text (nicht zu viel, nicht zu wenig, jeder Buchstabe hat eine Bedeutung)
    3. ein aktueller (also immer zu aktualieirender Text ins Jetzt und Heute)
    ist.

    In unserer Gesellschaft, die in der Alltagskultur – besonders hier in der Großstadt – immer stärker von Versatzstücken des Buddhismus geprägt wird, halte ich den Begriff der „Leere“ für problematisch, weil er auf das „NICHTS“ verweist und deshalb mißverstanden werden kann. Und genau das ist nicht der Duktus der jüdischen Tradition, und wie ich sie bis jetzt kennengelernt hat, auch nicht der christlichen Tradition.

    Es geht also eher um „Zwischenräume“ als um „Leerräume“.

    Die Analogie zum Schabbat finde ich insofern schwierig, weil das Judentum – auch wenn es die örtliche Manifestation des Tempels gab – keine Religion des „Raumes“, ist, sondern es – wie Abraham Heschel in seinem Buch über den Schabbat schreibt – um die Heiligkeit der Zeit geht.

    Was Ihr Bild von den Gestirnen angeht, würde ich die Analogie dann eher in der Flugbahn einer Elipse sehen, die zwei Brennpunkte hat.

  3. IWe

    Ich möchte in Hinblick auf die Psalmen noch ein anderes Bild, das mir in den letzten Jahren sehr wichtig geworden ist, ins Spiel bringen – nämlich das der BRÜCKE.
    Auf diese Spur hat mich Wilhelm Bruners, ein katholischer Priester und Lyriker mit einem seiner Gedichte gebracht:

    Nach morgendlichem
    Gang über die
    Psalmenbrücke

    drehe ich mich nicht
    mehr um die eigene
    Achse.

    Ich atme die alten
    Heilsworte in meine
    Tagängste

    und bin
    guter Hoffnung.

    (Wilhelm Bruners, Verabschiede die Nacht. Gedichte, Erzählungen, Meditationen, Biblisches, Düsseldorf, 1999, S. 27)

Schreibe einen Kommentar