Frieden mitten in Konfliktlinien

Predigt am 30. Juni 2013 zu Römer 15,1-13 (Predigtreihe Römerbrief 43)

Paulus1 Wir müssen als die Starken die Schwäche derer tragen, die schwach sind, und dürfen nicht für uns selbst leben. 2 Jeder von uns soll Rücksicht auf den Nächsten nehmen, um Gutes zu tun und aufzubauen. 3 Denn auch Christus hat nicht für sich selbst gelebt; in der Schrift heißt es vielmehr: Die Schmähungen derer, die dich schmähen, haben mich getroffen. 4 Und alles, was einst geschrieben worden ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir durch Geduld und durch den Trost der Schrift Hoffnung haben. 5 Der Gott der Geduld und des Trostes schenke euch die Einmütigkeit, die Christus Jesus entspricht, 6 damit ihr Gott, den Vater unseres Herrn Jesus Christus, einträchtig und mit einem Munde preist.

7 Darum nehmt einander an, wie auch Christus uns angenommen hat, zur Ehre Gottes. 8 Denn, das sage ich, Christus ist um der Wahrhaftigkeit Gottes willen Diener der Beschnittenen geworden, damit die Verheißungen an die Väter bestätigt werden. 9 Die Heiden aber rühmen Gott um seines Erbarmens willen; es steht ja in der Schrift: Darum will ich dich bekennen unter den Heiden und deinem Namen lobsingen. 10 An anderer Stelle heißt es: Ihr Heiden, freut euch mit seinem Volk! 11 Und es heißt auch: Lobt den Herrn, alle Heiden, preisen sollen ihn alle Völker. 12 Und Jesaja sagt: Kommen wird der Spross aus der Wurzel Isais; er wird sich erheben, um über die Heiden zu herrschen. Auf ihn werden die Heiden hoffen. 13 Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und mit allem Frieden im Glauben, damit ihr reich werdet an Hoffnung in der Kraft des Heiligen Geistes.

Paulus schreibt an die Gemeinde in Rom, damit sie sich nicht auseinanderdividieren lässt. Die sind auf ganz unterschiedlichen Wegen zu Jesus gekommen, sie haben es sowieso schon schwer miteinander, und anscheinend steht ihr Zusammenhalt auch von außen unter Druck.

Ein Ort, wo Feindschaft überwunden ist

Aber genau diesen Zusammenhalt sollen sie festhalten, denn es gehört zur Stärke einer christlichen Gemeinde, dass da Gegensätze zusammengebracht werden, die sonst in der Gesellschaft nicht überbrückt werden können. In Rom gab es die enorm Reichen und Mächtigen, die sich in jeder Hinsicht bedienen lassen konnten und über den Weg ganzer Völker bestimmten, und es gab die Armen, Machtlosen und Überflüssigen, die von staatlichen Getreidezuteilungen leben mussten. Die Gesellschaft fiel auseinander, und die christlichen Gemeinden hatten als einzige eine Basis, auf der Arme und Reiche zusammen kamen, wo Menschen aus den unterschiedlichen Kulturen des Weltreichs zusammen leben konnten. Diese Basis will Paulus ganz deutlich machen, und deshalb redet er so ausführlich über das Verhältnis von »Starken« und »Schwachen«, wie er sie nennt.

Er tut das schon das ganze vorige Kapitel hindurch, aber jetzt wird erst richtig sichtbar, dass es dabei in Rom vor allem um das Verhältnis von Christen jüdischer Abstammung und Christen mit Wurzeln in den anderen Völkern geht. Aber dabei wird das Lösungsmuster sichtbar, das auch für alle anderen Bruchlinien gilt, die aus der Gesellschaft in die christlichen Gemeinden hineinkommen.

Eine Gemeinde ohne ihre jüdischen Wurzeln

Die römische Gemeinde war lange eine Gemeinde ohne Christen mit jüdischen Wurzeln, denn der Kaiser Claudius hatte ein paar Jahre zuvor allen Juden den Aufenthalt in Rom verboten. Für Römer und Griechen waren Juden verdächtig: ein Volk mit einem unbezähmbaren Freiheitswillen, der immer wieder aufflackerte; sie hatten sich nie wirklich daran gewöhnt, dass sie unter der Herrschaft des Imperiums leben mussten. Sie lebten anders, sie dachten anders, sie hatten einen Gott, der anders war als alle anderen Götter in der heidnischen Welt. Sie hatten merkwürdige religiöse Regeln. Irgendwie waren sie faszinierend, aber gleichzeitig hatte man Angst, dass sie vielleicht doch Terroristen wären und morgen Bomben legen würden – man weiß bei solchen Leuten ja nie!

Kaiser Claudius hatte eine Radikallösung für die Hauptstadt angepeilt und sie alle vertrieben. Erst sein Nachfolger erneuerte die Vorschrift nicht mehr. Und so kamen die jüdischen Christen nach Rom zurück. Aber dort in der Gemeinde waren inzwischen viele, die sie gar nicht mehr kannten. Und das war eine schwierige Neubegegnung, weil die Christen mit jüdischen Wurzeln meist nach den Regeln lebten, die für ihr Volk seit vielen Jahrhunderten galten und durch die sie sich von allen anderen unterschieden.

Beieinander bleiben

Paulus war ebenfalls Jude, aber ihm war klar geworden, dass seit Jesus nicht mehr Speisevorschriften und ähnliche Regeln das Kennzeichen des Gottesvolkes waren, sondern die Zugehörigkeit zu Jesus, dem Messias, der seinen Leuten den Heiligen Geist schenkt. Seit Jesus geht es nicht mehr um defensive Abgrenzung von der Welt der Heiden und von ihren Gewaltreichen, sondern von jetzt an werden diese Reiche voller Korruption und Gewalt offensiv unterwandert. Von jetzt ab heißt es: liebevoller Angriff statt defensive Abgrenzung!

Aber Paulus wusste noch selbst, wie schwer es war, diesen Schwenk zu vollziehen, die alten Muster aufzugeben, die viele Generationen mit aller Kraft verteidigt hatten. Und er sagt: wenn jetzt die Einen zwar an Jesus glauben, aber diese Muster, die ihnen in Fleisch und Blut übergegangen sind, nicht aufgeben wollen, dann lasst euch an dieser Frage nicht auseinanderbringen. Und auch wenn ihr vielleicht in einen schlechten Ruf kommt, weil es bei euch so viele gibt, die in der Gesellschaft skeptisch betrachtet werden, auch wenn ihr es riskiert, deswegen alle schief angesehen zu werden: haltet fest an dieser Gemeinschaft der Verschiedenen.

Gemeinschaft entsteht durch Verantwortung

Und er erinnert an Jesus und sagt: der hat doch auch nicht sich selbst zu Gefallen gelebt, d.h. der hat sich auch nicht von Menschen getrennt, die für ihn eine Belastung waren. Deswegen haben wir vorhin in der Lesung die Geschichte davon gehört, wie Jesus seinen Jüngern die Füße wäscht (Johannes 13,1-16). Das ist ein ganz tiefes Symbol; er hat sich um den Dreck gekümmert, der an den anderen klebte. Das war nicht sein Problem, sondern ihres. Aber er hat es trotzdem zu seinem gemacht.

Das gilt übrigens nicht nur in der Gemeinde Jesu: Jede Gemeinschaft fällt auseinander, wenn alle sich nur um ihre eigenen Sachen kümmern und zu den anderen sagen: das ist dein Problem. Gemeinschaft entsteht nicht, wenn es allen gut geht und keiner Probleme hat. Gemeinschaft entsteht, wo Menschen merken, dass sie sich in Schwierigkeiten aufeinander verlassen können. Das haben uns die Überschwemmungen mit ihrer großen Hilfsbereitschaft in den letzten Wochen wieder deutlich gezeigt. Der Zusammenhalt einer Gesellschaft hängt daran, dass man sich auch für die verantwortlich weiß, die es gerade besonders schwer haben. Wenn das immer mehr ausgedünnt wird, wenn alle nur noch als Einzelne auf eigene Rechnung leben, dann bleibt am Ende nur noch ein Kampf aller gegen alle übrig. Wenn jeder nur noch die Ellbogen benutzt, dann geht es allen schlechter.

Die verheerende Wirkung der wuchernden Marktbeziehungen

Wenn also bei uns immer mehr Lebensbereiche als Markt angesehen und so auch organisiert werden, dann höhlt das auf die Dauer den Zusammenhalt und die Solidarität der Gesellschaft aus. Es treibt die Menschen in ein Gegeneinander, in Konkurrenz und sogar Feindschaft hinein. »Markt« bedeutet: menschliche Beziehungen werden in Bezahlbeziehungen verwandelt; man ist nicht mehr persönlich verbunden, sondern durch Geldflüsse. Du bist dem andern eine bezahlte Leistung schuldig, aber nichts anderes. Du bist für seinen Dreck nur so lange zuständig, wie er dafür bezahlt. Das ist der Solidarität, die Jesus gelebt hat, ziemlich entgegengesetzt.

Keine Ermutigung für Trittbrettfahrer

Nun muss man nach einer langen christlichen Geschichte allerdings auch sagen: das bedeutet nicht, dass man in der Gemeinde wehrlos gegen Trittbrettfahrer wird, die sich auf dieser Solidarität ausruhen möchten. Die Christen mit jüdischen Wurzeln, für die Paulus sich hier so einsetzt, die brachten ja etwas ein: die Energie, mit der sie ihre Tradition festhielten. Das war nicht das, was Paulus sich gewünscht hätte, aber Energie war es. Jeder kann etwas einbringen, Großes oder Kleines, aber was er einbringen kann, das soll er auch tun. Die Gemeinde ist kein Ort für Leute, die sich bedienen lassen wollen. Aber die unterschiedlichen Menschen, Starke und Schwache, sollen zur Ehre Gottes beieinander bleiben.

Eine Gemeinde, die Gott Ehre macht

Und Paulus zitiert einen Psalm, wo es heißt: »Die Schmähungen derer, die dich schmähen, haben mich getroffen«. Das beschreibt die Solidarität Jesu mit Menschen, die ihm keine Ehre machen. Es beschreibt aber auch die Solidarität in der Gemeinde. Das gehört beides zusammen. Die reale Praxis der Gemeinde soll Gottes Solidarität sichtbar machen, so dass Menschen daran etwas von Gott erkennen: nämlich die neue, versöhnte Menschheit, die Gott schon im Blick hatte, als er Abraham berief.

Lange Zeit musste er Abrahams Volk getrennt von den anderen Völkern halten, weil da erst das Neue heranwachsen sollte. Aber jetzt, wo mit Jesus der neue Mensch nach dem Herzen Gottes erschienen ist, jetzt gehören zum Gottesvolk Menschen aus allen Völkern und allen Klassen, Männer und Frauen, multikulturell. Jetzt sollen alle Menschen an der Gemeinde Jesu sehen können, wie die Schranken, Trennlinien und Feindschaften aller Art überwunden werden können und Menschen so miteinander leben, dass die Unterschiede zum Reichtum werden und nicht mehr zu einem Anlass von Misstrauen, Streit und Abgrenzung. Wenn Menschen sich so gegenseitig annehmen, dann sagt das etwas Wichtiges über ihren Gott.

Paulus zitiert hier immer wieder seine Bibel, das Alte Testament, wo schon lange Spuren dieser universalen Hoffnung für die ganze Welt und die ganze Menschheit verstreut sind. Vielleicht sind die lange Zeit unbeachtet geblieben, aber jetzt entdeckt er sie und sagt: schaut an, das war schon immer Gottes Ziel, das hat er schon seit alters her gesagt, auch wenn wir es bisher noch nicht recht verstanden haben.

Ermutigung durch die Schrift

So wird die Bibel zu einer Quelle der Ermutigung, weil man dort sehen kann, wie beharrlich und langfristig Gott sein Ziel verfolgt hat. 1000 Jahre hat es gebraucht, um die Bibel zu schreiben kein einzelner Mensch hat sich das ausgedacht, auch nicht eine einzige Generation, sondern Gott hat 1000 Jahre lang diese Geschichte vorangebracht, und erst von Jesus aus sieht man im Rückblick, dass es schon immer auf Jesus hinausgelaufen ist.

Wenn Gott aber über so lange Zeit seine Ziele beharrlich und unbeirrbar verfolgt hat, dann tut er es bis heute, und dann können wir zuversichtlich sein, wenn wir mal wieder in Problemen stecken und uns darum sorgen, wie es weitergehen kann. Das kommt immer wieder vor in der Geschichte des Gottesvolkes, aber Gott hat immer dafür gesorgt, dass es eine Lösung gab. Dieser Blick zurück in die Bibel soll Hoffnung und Geduld geben. Hoffnung und Geduld gehören ja zusammen: wer Hoffnung hat, der macht ganz beständig weiter. Er ist nicht von schnellen Erfolgen abhängig; er weiß, dass manches, was in einer Generation begonnen wird, erst in der nächsten oder übernächsten oder noch später seine Früchte trägt.

Der „Gott der Geduld“

Gott wird hier sogar als »Gott der Geduld« bezeichnet. Gott kann warten, er muss nicht etwas erzwingen, wofür die Zeit noch nicht reif ist. Er arbeitet unbeirrt weiter auch durch alle Irrungen und Wirrungen der Menschengeschichte hindurch an seinem Ziel einer neuen, versöhnten Menschheit, die Gottes Freude und Solidarität widerspiegelt, und die in der durch Jesus versöhnten Gemeinde schon erkennbar wird.

Und wenn Gott nichts erzwingen muss, sondern abwartet, bis die Zeit gekommen ist, und der Menschheit die nötige Zeit zugesteht, dann müssen wir auch untereinander nichts erzwingen. Dann können wir Geduld miteinander haben – Gott wird das gute Werk vollenden, das er unter uns begonnen hat. Geduld heißt: dranbleiben und warten können, sie bedeutet aber auch: warten und dabei dranbleiben.

Angekommen

Damit ist Paulus noch nicht mit dem Römerbrief fertig, aber er ist am Ziel seines theologischen Gedankenganges angekommen. Alles, was er in den 15 Kapiteln bis hierher geschrieben hat, läuft auf dieses Ziel hinaus: eine erneuerte, versöhnte Menschheit, die die ihr zugedachte Rolle in der Schöpfung wahrnimmt, so dass alle Kreaturen aufatmen und jubeln.

Und die Gemeinde soll ein Ort der Hoffnung sein, wo wir das Neue jetzt schon erleben, mitten im Alten, und denken: wenn das hier schon möglich ist, dann gibt es Hoffnung für die ganze Welt, für den ganzen Kosmos.

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