Die zentrale Identität

Predigt am 22. September 2024 zu Galater 3,26-29

26 Denn alle seid ihr durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. 27 Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. 28 Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus. 29 Wenn ihr aber Christus gehört, dann seid ihr Abrahams Nachkommen, Erben gemäß der Verheißung.

Wo gehörst du hin? Das ist die Frage, die Paulus durch den ganzen Galaterbrief hindurch stellt, und in diesen Versen konzentriert sich das noch einmal. Wo gehörst du hin? Was für einer bist du? Woran hängt dein Herz am allerfestesten? Oder um es mit einem Fremdwort zu sagen: was ist deine zentrale Identität?

Gesellschaftliche Bruchlinien
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Und Paulus nennt dann ein paar von den Schubladen, in die Menschen sich und andere damals einsortierten: Männer und Frauen, Sklaven und Freie, Juden und Griechen. An anderen Stellen redet er auch noch vom Gegensatz Griechen und Barbaren, also die gebildeten Griechen und die ungebildeten, wilden Barbaren. Das waren damals die Bruchlinien, die die Gesellschaft durchzogen.

Und solche Abgrenzungen sind ja in der Regel mit Wertungen verbunden: Gebildet oder primitiv und unzivilisiert. Sklaven waren damals zum Arbeiten da und die Freien, in der Regel die freien Männer, auf die kam es an, die hatten das Sagen. Die Frauen dagegen galten als Menschen zweiter Klasse, schwach und unvernünftig.

Wir könnten heute noch viele andere solche Bruchlinien nennen: alt oder jung, reich oder arm oder irgendwas dazwischen, Hannover 96 oder Eintracht Braunschweig, Ostdeutschland oder Westdeutschland, Alteingesessener oder Migrant, Veganer oder Grillfan, und überhaupt die unzähligen Kulturen und Milieus, in die unsere Gesellschaft inzwischen zerfällt. Die einen identifizieren sich mit Musikstilen und Musikern, die anderen mit Automarken, wieder andere mit ihrer Firma und ganz viele immer noch mit ihrer Familie. Wir haben heute eine riesige Auswahl an Möglichkeiten, aus der wir uns unsere Identität zusammenbasteln können, und das ist für viele ganz schön anstrengend.

Die übergreifende Identität

In der Zeit von Paulus gab es längst nicht so viele verschiedene Möglichkeiten, und in der Regel konnte man sich die auch gar nicht aussuchen, sondern man wurde da hineingeboren. Aber trotzdem sagt er: diese ganzen Einteilungen sind zweit- und drittrangig. Das Wichtigste, was man über euch sagen kann, ist: ihr gehört zu Jesus Christus. Das ist eure zentrale und entscheidende Identität. Natürlich seid ihr dann immer noch Frauen und Männer, Sklaven und Freie, Gebildete und Ungebildete und so weiter, aber all diese Rollen füllt ihr von Jesus Christus her aus. Zuerst seid ihr Christinnen und Christen, das ist das Zentrale, und das gibt eurem Leben Richtung und Linie, egal, was ihr sonst noch alles seid.

Das bedeutet dann zuerst: unter Christen spielen diese Einteilungen keine Rolle. Wenn für mich Christus das Zentrum meines Lebens ist, dann fühle ich mich natürlich am engsten mit denen verbunden, bei denen das auch so ist. Auch wenn sie an anderen Punkten ganz anders sind als ich.

Eine gemeinsame Basis

Mir ist das zum ersten Mal richtig bewusst geworden, als ich vor vielen Jahren bei einer Tagung einen Offizier der Heilsarmee kennenlernte. Das ist so eine christliche Gemeinschaft, die sich in Analogie zum Militär organisiert, die Pastoren heißen da Offiziere, und die tragen auch richtige Uniformen mit Mütze und Schulterstücken und so weiter.

Ich fand das sehr merkwürdig, obwohl ich wusste, dass die gute Arbeit machen, sich um Obdachlose und Drogenabhängige kümmern, aber trotzdem: in Uniform? Aber als ich mit ihm ins Gespräch kam, wurde mir schnell klar: auch für den ist Christus ganz klar das Zentrum seines Lebens. Die Uniform fand ich immer noch merkwürdig, aber was soll’s? Hauptsache, wir sind am entscheidenden Punkt verbunden. Dann werden solche Stilfragen nebensächlich.

Und viele von uns erinnern sich noch daran, wie wir nach 2015 hier iranische Christen in der Gemeinde hatten. Das war schwierig mit der Verständigung, der Google-Übersetzer steckte noch in den Kinderschuhen, und mit Religion konnte er erst recht nichts anfangen. Aber über diese Sprach- und Kulturgrenzen hinweg war doch immer deutlich: es gibt für uns eine gemeinsame Basis – Jesus Christus. Und auf der Grundlage kann man zusammenwachsen.

Es fing an mit Abraham

Vor dieser Aufgabe stehen Gemeinden schon immer: die Trennungen und Bruchlinien zu überwinden, die sich durch die Gesellschaft und durch die Menschheit ziehen. Das geht nicht automatisch, da muss man manchmal ganz schön dran arbeiten, aber die Basis, auf der das geschehen kann, die ist da. Deswegen konnten in der Zeit von Paulus Reiche und Arme ebenso miteinander an einem Tisch sitzen wie die Angehörigen aller möglichen Völkerschaften aus den verschiedenen Ecken des römischen Reiches, und sogar Barbaren, auf die sonst alle herabgesehen haben.

Die Christen waren die einzige Gruppe, bei denen das möglich war. Denn sie hatten ein Zentrum, das wichtiger war als diese ganzen Unterscheidungen, mit denen Menschen sich sonst voneinander abgrenzen. Wer zu Christus gehört, der gehört schon zur neuen Menschheit, die Gott in seiner Güte und Großzügigkeit widerspiegelt. Und weil Gott Einer ist, deshalb ist auch die wahre Menschheit nicht in alle möglichen Abteilungen aufgesplittert, sondern alle sind eine Einheit in Jesus Christus. Eine sehr bunte und vielfältige Menschheit, aber verbunden in der Solidarität, die Jesus stiftet.

Und diese neue Menschheit bringt den Segen Gottes in die Welt, damit Menschen wirklich das Bild Gottes widerspiegeln können, wie es von Anfang an unser Auftrag ist. Paulus erinnert an Abraham, mit dem Gott diesen neuen Anfang gemacht hat, der dann in Jesus voll entfaltet war. Wenn wir zu Jesus gehören, dann leben wir unter dieser Verheißung, dass durch uns alle Menschen gesegnet werden sollen. Das verbindet uns über alle Unterschiede hinweg.

Die Erfahrung der Verbundenheit

Das ist von Anfang an bis heute eine der wichtigsten und schönsten Erfahrungen, die man in Gemeinden machen kann: da sind Menschen, die äußerlich ganz anders sind als ich, aber wir erkennen, dass unsere Herzen für Jesus brennen und für all das, wofür er steht. Und dann wächst eine tiefe Verbundenheit. Und zum Glück strahlt das dann auch oft in die Gesellschaft hinaus, und auch die anderen lernen irgendwann, dass man sich nicht vor Fremden fürchten muss, und dass in einer solidarischen Welt alle besser leben können.

Deshalb hat es z.B. hier in Europa im Mittelalter keine Sklaven mehr gegeben, weil es irgendwann einfach unvorstellbar wurde, andere Christen zu versklaven. Das ist eine Langzeitfolge solcher biblischer Texte wie unserer hier im Galaterbrief. Es hat dann leider noch ziemlich lange gedauert, bis man verstanden hat, dass auch die Versklavung von Nichtchristen gegen ihre gottgegebene Würde verstößt. Und ich habe manchmal das Gefühl, dass es auch heute manche Christen noch nicht verstanden haben, z.B. in Amerika. Das sind Lernprozesse, die leider oft sehr lange dauern. Wenn man aber auf die lange Entwicklung schaut, dann merkt man, wie sich solche christlichen Gedanken am Ende eben doch verbreiten.

Es hängt immer daran, dass die Menschen in den christlichen Gruppen ihre Identität in Christus kennen und von daher leben. Es reicht dann nicht mehr, zu wissen: ich bin Kind von Familie sowieso, oder Angestellte bei Firma XY, oder Staatsbürger von Sowiesoland, sondern ich werde mich dann immer fragen: wie kann ich meine Rolle als Kind, Mitarbeiterin oder Bürger so ausfüllen, dass es zu meiner Christusidentität passt?

Spielräume tun sich auf

Ich will doch nicht, dass ich in meinem Verhalten von der jeweiligen Situation abhängig bin: zu Hause lieb und nett, aber wenn ich zur Arbeit gehe, dann bin nötigenfalls knallhart, wenn es verlangt wird, und wenn mein Land mir sagt, dass andere meine Feinde sind, dann akzeptiere ich das auch. Nein, ich kann da jedes Mal Abstand halten, weil ich in erster Linie zu Christus gehöre und erst dann zu einer Familie, einer Firma und einem Land. Meine Kernzugehörigkeit ist Jesus Christus, und darum bin ich in jeder Situation frei, einen Schritt zurückzutreten und zu fragen: wie fülle ich diese Rolle so aus, dass ich ein wahrer Nachkomme Abrahams bin, der zum Segen für die Völker werden sollte? Und wie lebe ich in dieser Rolle als jemand, der mit dem wahren Bild Gottes, nämlich Jesus, verbunden ist?

Das gibt Entscheidungsfreiheit. Da tut sich vor uns ein großer Spielraum auf. Wir sind nicht festgelegt auf die Erwartungen, die andere an uns haben. Wir müssen auch nicht anderen hinterherlaufen, damit wir zu irgendeiner Gemeinschaft dazugehören. Wir haben die Gemeinschaft mit Jesus Christus und den anderen, die auch zu ihm gehören.

Das ist ein ganz großer Vorteil in einer Welt, wo alle dauernd auf der Suche nach einer Zugehörigkeit sind, auf der Suche nach einem Ort, wo sie hingehören. Da steckt ja auch Angst dahinter: Zugehörigkeit ist heute nicht selbstverständlich. Du kannst so schnell aus allem rausfallen und dann stehst du allein da und deine Identität geht wahrscheinlich auch den Bach runter. Aber diese Identität in Christus, die begleitet dich, durch alle anderen Situationen hindurch. Und du hast die anderen, die auch diese Identität haben und mit denen du deshalb zusammengehörst. Und du hast die Verheißung, dass wir alle miteinander zum Segen werden sollen.

Wie ein Blatt im Wind??

Nur wer weiß, wo er hingehört, kann etwas bewirken. Wer nicht sagen kann, wer er ist, der wird wie ein welkes Blatt im Herbst vom Wind mal hierhin und mal dorthin getrieben. Wo er am Ende hingeweht wird, hängt vom Zufall ab oder von den gesellschaftlichen Machtverhältnissen, Trends und Stimmungen. Wenn wir Christus angezogen haben, wie Paulus es sagt, dann sind wir kein Spielball der Mächte mehr, sondern dann können wir mit dem Segen Gottes und unter seiner Verheißung die Welt gestalten.