Zuflucht vor Beschuldigungen

Predigt am 8. Juli 2018 zu Psalm 26

1 Von David.
HERR, schaffe mir Recht, denn ich bin unschuldig!
Ich hoffe auf den HERRN, darum werde ich nicht fallen.
2 Prüfe mich, HERR, und erprobe mich, läutere meine Nieren und mein Herz!
3 Denn deine Güte ist mir vor Augen, und ich wandle in deiner Wahrheit.
4 Ich sitze nicht bei falschen Menschen und habe nicht Gemeinschaft mit den Heuchlern.
5 Ich hasse die Versammlung der Boshaften und sitze nicht bei den Gottlosen.
6 Ich wasche meine Hände in Unschuld und umschreite, HERR, deinen Altar,
7 dir zu danken mit lauter Stimme und zu verkünden alle deine Wunder.
8 HERR, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt.
9 Raffe meine Seele nicht hin mit den Sündern noch mein Leben mit den Blutdürstigen,
10 an deren Händen Schandtat klebt und die gern Geschenke nehmen.
11 Ich aber gehe meinen Weg in Unschuld. Erlöse mich und sei mir gnädig!
12 Mein Fuß steht fest auf rechtem Grund. Ich will den HERRN loben in den Versammlungen.

In diesem Psalm kann man immer noch ganz gut seine Ursprungssituation erkennen: Da ist in Vers 6 vom Altar die Rede, und das weist in den Tempel von Jerusalem. Ebenso Vers 8, wo der Beter sagt, dass er das Haus Gottes liebt. Und der Psalm setzt ein mit der Bitte: schaffe mir Recht, Herr!

Nimmt man das zusammen, dann ist also jemand in den Tempel gegangen mit der Bitte, dass Gott ihm zu seinem Recht verhelfen möge und seine Schuldlosigkeit bestätigen möge. Und in der Tat finden sich an verschiedenen Stellen der Bibel Hinweise auf so etwas wie ein Ritual, bei dem ein unschuldig Verfolgter oder Verleumdeter im Tempel Asyl bekommt und wo er dann durch ein Gotteswort rehabilitiert wird.

Ein Mensch unter Angriff

Wie bei allen Psalmen weist der Text, wie er heute in der Bibel steht, weit über diesen eng begrenzten Zusammenhang hinaus. Die Psalmen haben sich im Laufe der Zeit ein ganzes Stück von ihrer Ursprungssituation entfernt, so dass sich heute viele Menschen dort wiederfinden können, auch wenn sie sich nicht in dieser ganz speziellen Problematik befinden. Trotzdem ist es gut, den ursprünglichen Anlass zu kennen, wie er immer noch in einzelnen Formulierungen durchschimmert.

Da ist also jemand, der beschuldigt wird, etwas Böses getan zu haben. Das ist tatsächlich eine menschliche Standardsituation bis heute: mit Vorwürfen und Anschuldigungen konfrontiert zu sein. Bis heute kannst du jede Versammlung und jede Sitzung aufmischen, wenn du jemanden heftige Vorwürfe machst und ihn einer schlimmen Tat beschuldigst: sofort wird er sich verteidigen, vielleicht wird er dich seinerseits angreifen, und alle im Raum gehen emotional mit. Auch in der öffentlichen Diskussion und in den Nachrichten bekommen solche Konflikte mit Vorwürfen und Beschuldigungen sofort große Aufmerksamkeit. Und auch im Kleinen entfaltet das eine enorme Dynamik: wer ist schuld, und wer muss sich entschuldigen oder etwas wiedergutmachen?

Ausweichen nicht möglich

Und während du heute jemanden, der dir Vorwürfe macht und dich dauernd anschuldigt, relativ einfach aus dem Weg gehen kannst (wenn es nicht gerade ein Familienmitglied, eine Kollegin oder ein Mitschüler ist), war das damals viel schwieriger. Da lebte man in einem überschaubaren Dorf zusammen, jeder kannte jeden, man war aufeinander angewiesen, die Familien kannten sich seit Generationen, alle lebten von ihren Äckern in der gleichen Feldmark, man redete dauernd miteinander und übereinander, weil es ja sonst wenig Themen gab, da kamst du nicht einfach heraus. Und wenn da jetzt ein paar Leute sind, von denen du gemobbt wirst, die über dich erzählen, du wärst ein schlechter Landwirt oder ein heimlicher Ehebrecher oder du wärst religiös nicht zuverlässig, das konnte schnell existenzbedrohend werden.
Und wenn du dich dann an die Dorf- oder Stadtältesten wandtest, die sich im Tor treffen und Streitfälle entscheiden, dann konnte es sein, dass da im Rat auch wieder ein paar von dieser Mobbing-Clique sitzen, oder dass deine Feinde mit denen wirtschaftlich verbunden sind, und dann wäscht eine Hand die andere, oder die Ältesten haben auch Angst, sich mit denen anzulegen, und niemand ist bereit, dir zu helfen.

Zuflucht im Haus Gottes

Für solche Fälle gab es den Tempel. Dort konnte man hingehen und Gott um Hilfe bitten. Und die Priester scheinen dann ein Verfahren gehabt zu haben, mit dem sie einem Menschen tief ins Herz schauten, wo sie einen Gebetsweg mit ihm gegangen sind, und am Ende stand dann die Rehabilitation: im Namen Gottes: dieser Mensch ist gerecht!

Uns wird das heute oft genau andersherum erzählt: Gott oder seine Kirche machen den Menschen angeblich dauernd ein schlechtes Gewissen, sie klagen uns an und drohen mit der Hölle, sobald wir mal einen kleinen schlechten Gedanken hatten. In den Psalmen wird es genau andersherum beschrieben: Menschen klagen an, Menschen beschuldigen, Menschen mobben, aber Gott steht den Beschuldigten zur Seite. Selbst Gewaltstaaten reicht es nicht, ihre Opfer zu beseitigen oder wegzusperren, sie versuchen immer auch, sie moralisch fertigzumachen. Folter und Vorwürfe gehen da oft Hand in Hand. Und Menschen, die Kinder missbrauchen, geben ihnen oft auch noch das Gefühl, dass sie schmutzig und schuldig sind. Beschuldigungen sind gefährliche Waffen.

Rehabilitation

Aber wir sind dagegen nicht ohne Beistand. Wenn Menschen uns angreifen, sollen wir bei Gott Beistand suchen und finden. Er ist gerade nicht der Ober-Ankläger, sondern unser starker Verbündeter, der uns den Rücken stärkt. Der Satan ist es, der im Neuen Testament als »Verkläger der Brüder« (Offenbarung 12,10) bezeichnet wird. Er arbeitet mit Gewissensfummelei. Aber es scheint schon damals im Tempel ganz regelmäßig vorgekommen zu sein, dass von Gott das Wort der Rechtfertigung kam.

Unser Wort »Rechtfertigung« hat seinen Ursprung in solch einem Zuspruch im Tempel: du bist ok, du bist in Gottes Augen gerecht. Vielleicht sprach ein Priester das aus, vielleicht haben aber auch Menschen ganz direkt von Gott diese Botschaft empfangen: ich stehe an deiner Seite! Und die Priester machten das dann nur noch für alle sichtbar, sprachen öffentlich aus, was für eine Antwort dieser Mensch bekommen hatte auf seine Bitte: Schaffe mir Recht, o Herr!
Menschen erlebten also ganz konkret, dass Gott sie verteidigte. Gottes Haus, sein Tempel, war quasi das Obergericht, an das man sich wenden konnte, wenn die lokalen Rechtsinstanzen zu nahe dran und nicht neutral waren. So man heute an den europäischen Gerichtshof appellieren kann, und der ist noch einmal unabhängiger als nationale Gerichte.

Gewissenserforschung, die runterzieht? Im Gegenteil!

Man kann in dem Psalm sogar noch sehen, wie das ablief. Es beginnt mit dem Appell: schaffe mir Recht, Herr! Und dann gibt es (Vers 2) so etwas wie eine Prüfung, eine Gewissenserforschung, wo einer sich Gott weit öffnet, vielleicht ein tiefgehendes Gespräch hat oder einen Gebetsweg geht und sich der Frage stellt: ist da etwas dran an dem, was sie mir vorwerfen? Und während wir das eher so kennen, dass man immer tiefer ins Grübeln und Selbstzweifeln kommt, was man falsch gemacht haben könnte, ist es hier anders. Diesem Beter wird immer klarer: da ist doch gar nichts dran an den ganzen Beschuldigungen!

Wir sind nämlich im Grunde viel zu schnell zu beeindrucken von Vorwürfen. Im zweiten Schritt verteidigen wir uns dann und verleugnen, was wir vielleicht wirklich getan haben, oder wir antworten mit Gegenvorwürfen, aber zuerst einmal lassen Menschen sich viel zu schnell ein schlechtes Gewissen machen, besonders, wenn die Vorwürfe auch noch von vielen Menschen kommen.

Manipulation mit Schuldgefühlen

Deswegen ist dieser Trick mit den Vorwürfen und Beschuldigungen so perfide, weil er eigentlich immer wirkt, ganz egal, ob die Vorwürfe stimmen oder nicht. Manche Eltern lassen ihre Kinder so aufwachsen, dass die dauernd das Gefühl haben, sie wären nicht gut genug, oder sie würden alles falsch machen. Die stehen dann Jahr um Jahr unter Angriff und kommen davon nicht los. Viele sagen: wenn meine Mutter doch nur einmal sagen würde: das hast du gut gemacht! Vielen Dank! Und sie tun alles dafür, damit sie wenigstens einmal hören: du bist ein gutes Kind! Aber sie hören es nie, obwohl sie vielleicht ein ganzes Leben lang darum kämpfen. Und es ist die entscheidende Hilfe, wenn sie dann Gott begegnen und verstehen: der ist kein Beschuldiger und Gewissensbelaster, sondern der stärkt uns im Gegenteil den Rücken.

Jesus jedenfalls war so sehr mit sich im Reinen, dass er ganz souverän mit Beschuldigungen und Verleumdungen umgehen konnte. Der ließ das an sich abtropfen und sorgte noch dafür, dass es für die Angreifer selbst peinlich wurde. Deshalb sind in der Gemeinde Jesu Beschuldigungen und Vorwürfe tabu. Natürlich gibt es Fälle, wo eine Gemeinde sich mit Fehlverhalten in den eigenen Reihen auseinandersetzen muss, das kommt in der Bibel immer wieder vor, aber das läuft nie darüber, dass man Menschen beschuldigt und ihnen ein schlechtes Gewissen macht. Das ist immer lösungsorientiert.

Schon hier im Psalm sehen wir das. Der Mensch, der sich dort im Tempel einer Prüfung unterzieht, merkt: ich habe mich wirklich nie mit solchen Leuten gemein gemacht, ich hab mich ferngehalten, wenn sie über andere abgelästert haben, ich war nie in Hinterzimmer-Tricksereien verwickelt. Ich habe immer Abstand gehalten.

Frei werden

Wenn du andere beschuldigst, oder dir selbst ihre Vorwürfe anziehst, sogar wenn du dagegen Sturm läufst: dann kommst du nicht von ihnen los. Beschuldigungen binden Menschen aneinander. Frei wird nur, wer selbst nicht damit arbeitet und die Verbindung zu denen kappt, die so etwas machen. Und wenn Sie sich noch an die Lesung vorhin (Matthäus 10,16-20) erinnern: da sagt Jesus seinen Jüngern, dass sie vor Königen und Statthaltern stehen werden und von ihnen angeklagt werden, aber sie sollen dann nicht von sich aus antworten. Sie würden von sich aus vielleicht nur zwecklose Gegenvorwürfe erheben. Stattdessen sollen sie den Heiligen Geist antworten lassen, mit den Worten, die er ihnen dann eingibt. Das ist der schützende Tempel verwandelter Form: Gott selbst verteidigt uns, durch seine Wort in unserem Mund.

Als in unserem Psalm der Beschuldigte so weit ist, dass ihm das alles klar wird, darf er sich zum Zeichen seiner Unschuld die Hände waschen (Vers 6). Uns fällt dabei sofort Pilatus ein, der diese Geste missbrauchte, als er Jesus verurteilte. In Wirklichkeit ist das aber ein Zeichen des Schutzes: ich wasche von meinen Händen das Unrecht ab, mit dem die anderen mich beschmutzen wollten. Man kann sich das ruhig so vorstellen, dass die versucht haben, meine Hände in den Dreck zu ziehen, und dann wasche ich es ab, und nichts bleibt zurück! Gerade weil Beschuldigungen etwas so Elementares sind, deswegen wird da im Tempel diese elementare Geste dagegen gesetzt.

Mit erhobenem Haupt

Und der Rest ist Freude und Erleichterung. Der freigesprochene Mensch umschreitet den Altar, er lobt Gott, er erzählt von dieser Befreiung, er dankt dafür, dass es diesen Ort gibt, wo Gott Freiheit schenkt.

Und von nun an geht er mit erhobenem Haupt seines Weges. Ihm ist ganz deutlich, zu wem er nicht gehört. Ihm ist klar geworden, dass er sich all die Vorwürfe nicht anziehen muss. Er hat neuen Boden unter den Füßen, und er hat eine neue Heimat gefunden: die Gemeinde derer, die raus ist aus dem unheilvollen Kreislauf von Beschuldigung, Verteidigung und Gegenangriff. Die Gemeinschaft derer, die das große Ja Gottes gehört haben und nun erhobenen Hauptes aus dem Haus Gottes in die Welt hinein gehen.

Schreibe einen Kommentar