Ein besonderes Volk, ein besonderer Gott

Predigt am 9. August 2015 zu 2. Mose 19,1-6

1 Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägypten – genau auf den Tag – kamen sie in der Wüste Sinai an. 2 Sie waren von Refidim aufgebrochen und kamen in die Wüste Sinai. Sie schlugen in der Wüste das Lager auf. Dort lagerte Israel gegenüber dem Berg. 3 Mose stieg zu Gott hinauf. Da rief ihm der Herr vom Berg her zu: Das sollst du dem Haus Jakob sagen und den Israeliten verkünden: 4 Ihr habt gesehen, was ich den Ägyptern angetan habe, wie ich euch auf Adlerflügeln getragen und hierher zu mir gebracht habe. 5 Jetzt aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, 6 ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören. Das sind die Worte, die du den Israeliten mitteilen sollst.

In dieser Szene sind wir mitten am Anfang einer wunderbaren Freundschaft: Gott schließt einen Bund mit Israel, das von nun an sein auserwähltes Volk sein wird. Der große Gott, der Schöpfer der Welt verbündet sich mit einem kleinen Volk, das noch gar kein richtiges Volk ist, sondern ein sehr gemischter Haufen ehemaliger Sklaven, die sich irgendwie noch an ihre Vorfahren erinnern, Abraham, Isaak und Jakob, die auch schon ein besonderes Verhältnis zu diesem Gott hatten.

Ein ungewöhnlicher Gott

Zu dieser Vorgeschichte gehört natürlich auch, dass er diese Menschen aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat – er hat Mose geschickt, um sie aus dieser alten Hochkultur herauszuführen, wo sie als Zwangsarbeiter gefangen gehalten wurden.

Bild: mohamed_hamdy via pixabay, Lizenz: creative commons CC0
Bild: mohamed_hamdy via pixabay, Lizenz: creative commons CC0

Daran sehen wir, dass das nicht nur auf menschlicher Seite ein besonderes Bündnis ist, sondern auch auf der göttlichen Seite ist der Partner ziemlich ungewöhnlich: ein Gott, der nicht mit dem jeweiligen Herrscher des Reiches zusammenarbeitet, sondern sich um die Sklaven auf der untersten Stufe der Gesellschaftspyramide kümmert, das ist ziemlich einmalig. Götter und Könige arbeiten sonst immer zusammen. Von den Königen sagte man in der Regel, sie seien göttlichen Ursprungs. Die Könige waren dazu da, eine Ordnung zu beschützen, ohne die sonst das Chaos ausbrechen würde, und das gab ihnen eine göttliche Aura.

Der römische Kaiser Augustus z.B. ließ den großen Cäsar nach seinem Tod zum Gott erklären. Weil Augustus ein Adoptivsohn Cäsars war, hatte das für ihn den angenehmen Nebeneffekt, dass er nun der Sohn eines Gottes war. Und als Augustus tot war, ließ sein Nachfolger Tiberius ihn auch zum Gott erklären, mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass er als Adoptivsohn des Augustus nun ebenfalls Sohn eines Gottes war. Und nach dem Tod des Tiberius – na, Sie wissen schon. Götter verbünden sich immer mit denen, die die Macht haben.

Das Profil des Befreiergottes

Bis auf eine Ausnahme, und um die geht es heute. Ein Gott, der einen völlig anderen Stil zeigt als alle seine Kollegen. Er ist ein Befreiergott, und er geht auf diese desorientierten Sklaven zu und sagt: ich will euch. Ich brauche euch. Ich habe eine spezielle Aufgabe für euch.

Und da ist beides drin: ich habe ein besonderes Verhältnis ausgerechnet zu euch. Und ich habe eine besondere Aufgabe für euch.

Gott hat dem Volk sozusagen eine Kostprobe von dem gegeben, was er vor hat: er hat sie aus Ägypten befreit, er hat sie gerettet vor dem Pharao und seinen Sicherheitssystemen, er hat sie durch die Wüste heil zum Berg Sinai gebracht. In Zukunft wird er sich selbst immer so vorstellen: ich bin der Gott, der euch befreit hat. Das ist seine Visitenkarte, sein Profil, seine ganz persönliche Handschrift. Das unterscheidet ihn von allen anderen, die als Götter gelten. Das unterscheidet ihn auch von allen sonstigen Prinzipien, Regeln und Systemen, die heute so etwas wie moderne Götter sind. Alle seine Gebote, die dann noch kommen stehen unter der Überschrift: ich bin der Gott, der euch befreit hat. Und sie sind dafür da, dass die Freiheit erhalten bleibt. Wenn Gott sagt: ihr sollt keine anderen Götter neben mir haben! – dann ist das kein Zeichen, dass er seine Leute beherrschen und kontrollieren will, sondern gerade andersherum: habt nichts zu tun mit den anderen Göttern, die mit dem Ausbeutungs- und Gewaltsystem verbunden sind. Gebt denen noch nicht mal den kleinen Finger, damit nicht am Ende eure beiden Hände in der Schlinge stecken!

Berufen, um als freies Volk zu leben

Das war jetzt schon ein Blick nach vorne: Gott wird den Bund so gestalten, dass sein Volk als freies Volk in einem freien Land leben soll. Er wird Gesetze geben gegen Schuldsklaverei, gegen Landraub und die Anhäufung großen Grundbesitzes, er wird Propheten schicken, die gegen die Kriegspolitik späterer israelitischer Könige protestieren, und immer wieder wird er warnen: holt euch nicht die Unterdrückergottheiten ins Haus!

Gott erzieht seine Leute in einer langen Geschichte zum Unglauben gegenüber all den beeindruckenden Mächten und Kräften, die normalen Menschen beeindrucken, begeistern und ihnen einen Schauer den Rücken herunter jagen. Gott senkt den Unglauben an all diese anderen Götter tief in das Herz seines Volkes hinein. Immer wieder gibt es Rückfälle, immer wieder sind sie doch fasziniert von der Macht anderer Götter und ihrer Könige und Systeme, viel lieber möchten sie auch so sein wie alle anderen, aber immer wieder lässt Gott sie die Kehrseite der faszinierenden Mächte erfahren, besser: erleiden. So wie sie als Sklaven die Kehrseite der faszinierenden Hochkultur Ägyptens kennengelernt haben. So werden sie immer wieder die dunkle Seite der Macht erleben.

Zwischen diesem Blick zurück und dem, was noch kommt sind wir hier in unserer Geschichte in der Mitte, an dem Punkt, wo Gott sagt: nachdem ihr mich kennengelernt habt, den Befreiergott, wollen wir das jetzt festmachen? Soll das der Beginn einer wunderbaren Freundschaft werden? Mir gehört die ganze Erde, ich habe sie geschaffen, aber mit euch möchte ich ein ganz spezielles Verhältnis haben. Ihr sollt mein Volk sein.

Schlüsselbegriffe: Priester, heilig

Das ist sozusagen die Voranfrage, und als das Volk dazu Ja sagt, folgen die Ausführungsbestimmungen, die Regeln, die in diesem Bund gelten sollen, z.B. die 10 Gebote, und danach wird dann feierlich der Bund geschlossen. Der Kern des Ganzen wird aber schon in dieser Voranfrage gesagt: »ihr sollt ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein.«

Was bedeuten diese Schlüsselworte? Priester ist man nicht deshalb, weil man in einem feierlichen und häufig unbequemen Gewand herumläuft. Heilig ist man nicht, weil man meistens ein frommes Gesicht macht. Priester zu sein, heilig zu sein, da geht es jedes Mal darum, dass man eine spezielle Funktion ausübt. Ein Priester ist ein Verbindungsmann zwischen Gott und Menschen. Er spricht zu den Menschen von Gott und er spricht im Namen der Menschen zu Gott. Israel soll für die ganze Menschheit die Verbindung zu Gott sein. An Israel sollen alle Gottes Willen ablesen können.

Priester: Gottes Alternative

Das ist der tiefste Grund, weshalb Gott ihnen diese ganzen Gesetze gibt: an diesem Volk soll man sehen können, wie Menschen nach Gottes Willen zusammen leben sollen. Israel soll ein Alternativmodell sein zu all den Großreichen, die mit dem Schweiß, dem Blut und den Tränen der Unterworfenen aufgebaut worden sind. An Israel soll man sehen können, welche Kraft in der göttlichen Freiheit liegt. Deswegen nimmt Gott es so ernst, wenn Israel sich an den unterdrückerischen Regimes ein Beispiel nimmt. Dann ist Gottes Alternative der Freiheit in Gefahr.

Wenn man darauf achtet, dann merkt man, wieviel entscheidende Impulse die Welt Israel verdankt. Dieser nüchterne Blick auf die Welt, die eben nicht heilig ist, sondern Gottes gute und weise Schöpfung, der ist eine Voraussetzung für die moderne Naturwissenschaft. Wenn dahinter ein weiser Gott steckt, dann kann und soll man seine Gesetze erforschen, und das hat man dann auch getan. Oder Albert Einstein, der einen neuen Blick auf die Welt warf und entdeckte, dass alles noch mal ganz anders ist, als es scheint, sehr offen und in manchen Bereichen im Widerspruch zu unserer Erfahrung – er war Jude. Sigmund Freud, der die geheimen Abgründe und Verknotungen unserer Seele erforschte, damit wir davon frei werden können, war Jude. Karl Marx, der dasselbe für die Wirtschaft tat, war Jude. Bis heute übt das kleine Israel einen gewaltigen Einfluss auf die ganze Welt aus. Nicht durch Macht oder Politik, sondern durch Gedanken, durch Worte – eben so, wie ein Priester es macht.

Den größten Einfluss hat Israel natürlich dadurch gehabt, dass mit dem Christentum sozusagen eine Tochterfirma entstanden ist. Seit Jesus gehören auch Menschen aus den anderen Völkern zum Volk Gottes. Und das Verhältnis zwischen den beiden Fraktionen des Gottesvolkes war von Anfang an schwierig. Erst haben die Christen für einige Zeit unter der Mehrheitsfraktion zu leiden gehabt, und dann durch alle Jahrhunderte hindurch die Juden unter der christlichen Mehrheit. Vor allem da, wo sich auch die Christen mit der Macht verbündet haben, wo auch sie aus dem Befreiergott doch wieder den Garanten der Herrschaft und den Unterstützer der bestehenden Verhältnisse gemacht haben. »Opium des Volkes« ist das Schlagwort dafür – es stammt natürlich auch von einem Juden, dem schon erwähnten Karl Marx.

Heilig: was Gott aus einem macht

Aber Gott wacht darüber, dass sein Volk aus Juden und Heiden heilig bleibt. »Heilig« ist keine Eigenschaft, die man hat, so wie man sportlich oder intelligent sein kann. Heilig ist etwas, was Gott mit einem macht. »Heilig« bedeutet eigentlich: für einen bestimmten Zweck bestimmt, unterschieden von allem anderen. Gott heiligte den siebenten Tag, und so wurde ein besonderer Tag daraus, der Ruhetag. Und dieser eine Tag prägt unser Zeitgefühl für alle Tage, erst durch ihn gibt es Werktage und eben den Feiertag.

Und ähnlich: Gott verbindet sich mit einem Volk, er heiligt es, und dadurch wird es ein besonderes Volk. Von keinem anderen Volk wird diesseits des Himmels erwartet, dass es mit seiner Lebensart, mit seiner Staatlichkeit, mit seiner ganzen Wirkung Gottes Willen widerspiegelt. Von Deutschland wird nicht erwartet, dass wir ein christlich geprägtes Volk sind. Schön, wenn es so wäre, und wir können dankbar sein, dass in unserem Land trotzdem so viele christliche Einflüsse wirksam sind. Aber es ist nirgendwo verheißen, dass in dieser alten, zerrissenen Welt ein ganzes Volk aus Jüngern Jesu besteht. Es ist ein Denkfehler, zu glauben, die Gesetze Israels sollten auch Gesetze anderer Staaten sein. Wir sollten nie versuchen, das zu erzwingen, das ist ein Irrweg, und wir haben darauf keinen Anspruch. Aber von seinem Volk, Israel, erwartet Gott, dass es mit seiner ganzen Gestalt etwas über ihn sagt.

Gott bleibt bei seinem Bund

Das ist in Israel so umkämpft gewesen, wie es in der Christenheit gefährdet war und ist. Aber Gott hat dafür gesorgt, dass seine Leute in beiden Fraktionen immer wieder daran erinnert wurden, dass sie etwas Besonderes sind. Nicht selten gegen sie und gegen ihren Willen. Die Juden haben oft darunter geseufzt, dass sie etwas Besonders sind, und die Christen, wo sie in der Minderheit sind, auch. Etwas Besonders zu sein, das macht einen ja nicht unbedingt beliebt. Der ganze Antisemitismus hängt damit zusammen, dass das ein besonderes Volk ist, dass diesen speziellen Geruch der Freiheit nie losgeworden ist. Alle hasserfüllten Leute sind meistens auch Antisemiten. Und gleich danach stehen dann oft die Christen auf der Abschussliste, nur kann man die nicht so gut herausfiltern wie die Juden.

Wir sitzen da und in vielen anderen Hinsichten mit den Juden in einem Boot. Gott sorgt dafür dass weder die Juden noch die Christen jemals ganz vergessen können, dass sie eine besondere Rolle haben. Gemeinsam repräsentieren wir Gott, und wir kriegen es auch ab, wenn einer mit Gott oder seinen Göttern oder dem Schicksal hadert. Der Befreiergott hat sich unwiderruflich mit Menschen verbunden, er will uns zu freien Menschen machen. Er will uns den Glauben an die Mächte dieser Welt untergraben, er will uns heilen von der Faszination durch die glänzende Außenseite der Götter, Idole und Leitbilder.

Und er wird uns nie aufgeben. Auch wenn Menschen dem Bund untreu werden – Gott hält daran fest. Das ist die Macht Gottes, seine Stärke: dass er seine Leute immer wieder zurückholt in den Bund den er mit uns geschlossen hat und der der ganzen Schöpfung dient.

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