Das Ende der Schuldtürme

Predigt am 28. Juni 2015 zu Lukas 6,36-42

Jesus sprach: 36 Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist! 37 Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden. Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden. Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden. 38 Gebt, dann wird auch euch gegeben werden. In reichem, vollem, gehäuftem, überfließendem Maß wird man euch beschenken; denn nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird auch euch zugeteilt werden.
39 Er gebrauchte auch einen Vergleich und sagte: Kann ein Blinder einen Blinden führen? Werden nicht beide in eine Grube fallen? 40 Der Jünger steht nicht über seinem Meister; jeder aber, der alles gelernt hat, wird wie sein Meister sein. 41 Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht? 42 Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Bruder, lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen!, während du den Balken in deinem eigenen Auge nicht siehst? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.

Früher gab es für Menschen, die ihre Schulden nicht bezahlen konnten, den Schuldturm: sie wurden so lange eingesperrt, bis sie alles zurück gezahlt hatten. Obendrauf kamen noch die Kosten für das Schuldgefängnis – das mussten sie auch bezahlen. Es gab dabei allerdings Unterschiede: Adlige kamen in die bessere Abteilung, wo sie Besuch bekommen und sich gutes Essen bringen lassen konnten. Die einfachen Leute wurden in kalten, feuchten Zellen aneinander gekettet und gingen dort zugrunde.

Bild: tpsdave via pixabay, Lizenz: creative commons CC0
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Denn wie sollten sie ihre Schulden jemals bezahlen, wenn sie nicht arbeiten konnten, aber die Schulden durch Zinsen und Gebühren immer weiter wuchsen?

Verschiedene Arten von Schuldgefängnissen

Der Schuldturm ist ein Symbol dafür, wie Menschen in eine Abhängigkeit von anderen geraten, aus der sie nie wieder herauskommen können. In Indien kann das dann so weit gehen, dass der Schuldner de facto zum Sklaven des Geldverleihers wird, und dass sogar seine Kinder dann von klein auf als Sklaven arbeiten müssen.

Es gibt aber auch Schuldtürme, die nicht mit Geld und Zinsen gebaut werden, sondern aus Verfehlungen und Vorwürfen. Da hat jemand angeblich oder tatsächlich mal etwas Schlimmes gemacht, und jetzt muss er sich das ein Leben lang immer wieder anhören. »Du hast damals diesen Unfall verursacht, durch den ich bis heute behindert bin.« »Du hast mich so enttäuscht, dass ich dir immer noch nicht wieder vertrauen kann.« »Dass du geboren wurdest, das hat mein Leben ruiniert.«

Das sind alles Sätze, die Menschen in einen Schuldturm sperren, aus dem sie nie wieder herauskommen. Und jedes Mal, wenn sie nicht so wollen, wie sie sollen, dann werden sie daran erinnert, dass auf ihnen eine Schuld liegt, die sie nie loswerden können. Das ist der Grund, weshalb Menschen ungern zugeben, dass sie an irgendetwas schuld sind: gar nicht so sehr, weil sie sich schämen oder weil das ihr Selbstbild beschädigen würde, sondern weil sie möglicherweise eine hohe Rechnung präsentiert bekommen, wenn sie eine Schuld anerkennen. Man kann ein ganzes Netz von Abhängigkeiten aufbauen, wenn man Menschen in Vorwürfe, Schuld oder Schulden verstrickt.

Ein großzügiger Gott

Jesus hat immer wieder gesagt, dass Gott nicht mit diesen Methoden arbeitet, und dass wir es deshalb auch nicht tun sollen. Jesus verkörpert einen großzügigen Gott. Jesus redet normalerweise nicht in vielen, großen Worten, aber wenn er von der Güte und Großzügigkeit Gottes spricht, dann spricht er von dem ‚reichen, vollen, gehäuften, überfließenden Maß‘, mit dem wir beschenkt werden. Gott schenkt im großen Stil; er verstreut bedenkenlos seinen Segen überall in der Schöpfung, ohne zu knausern oder zu sparen. Es ist genug für alle da! Und ausdrücklich sagt Jesus einen Vers vor unserem Abschnitt, dass Gott gütig ist gegenüber den Undankbaren und Bösen. Und dann beginnt er unseren Abschnitt mit dem Satz: seid ihr auch so barmherzig wie Gott!

Alles kommt zurück

Und es wird deutlich: das Einzige, was die Fülle Gottes einschränkt, sind wir, wenn wir sie nicht weitergeben. Dann wird die Welt arm und karg, dann wächst die Gnadenlosigkeit, dann werden die Lebensmittel knapp und die Neurosen und Depressionen breiten sich aus. Und am Ende trifft es nicht bloß die anderen, sondern uns selbst genauso. Wenn wir Schuldtürme bauen, egal, ob sie aus Kreditverträgen bestehen oder aus moralischen Vorwürfen, dann sperren wir uns selbst genauso ein.

Stattdessen sagt Jesus: gebt los, gebt frei, und ihr werdet befreit werden! Seid genauso großzügig wie Gott, und ihr werdet großzügig beschenkt. Vergesst diese ewige Angst, dass es nicht reicht. Genau die produziert Armut, Misstrauen und Ungleichheit. Ihr habt die Wahl, wie ihr behandelt werden wollt. Nach der Logik, mit der ihr die anderen behandelt, werdet ihr auch behandelt. Mit dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr auch gemessen. Wenn ihr von anderen verlangt, dass sie bis zum letzten Heller zurückzahlen, dann wird Gott euch auch so eine gnadenlose Rechnung präsentieren.

Unerwartete Aktualität

Wir hören das heute natürlich auf dem Hintergrund der Verhandlungen um die griechischen Schulden, und das ist ein gutes Beispiel, wie Bibeltexte in neuen Situationen auf einmal neue Einsichten eröffnen. Dieses Bestehen darauf, dass Schulden zurückgezahlt werden müssen, auch wenn der Schuldner darüber kaputtgeht, das ist ein wunderbares Beispiel für das, was überhaupt nicht zu Gott passt.

Ich sollte jetzt eigentlich nicht mehr viel dazu sagen, weil das ja nächste Woche bei unserem Besonderen Gottesdienst »Schuld und Schulden« Thema sein wird. Aber wenn man sieht, wie gnadenlos da mit Griechenland verfahren wird, dann kann man nur ganz große Angst vor dem Moment haben, wo das zu uns zurück kommt und wir eines Tages ebenso gnadenlos behandelt werden, wie unsere Regierung es jetzt mit den Griechen durchexerziert. Man muss dafür kein Experte sein, der die ganzen Tricks und Haken der Finanzgeschäfte durchschaut. Es reicht die schlichte biblische Einsicht: mit dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr selbst gemessen werden.

Blinde Experten

Und erstaunlicher Weise redet Jesus gleich anschließend über die Experten und Fachleute. »Kann denn ein Blinder einen Blinden führen?« Die Blinden, das sind die Experten und Fachleute, damals die Pharisäer, die Experten fürs Sündenmanagement, heute die Finanzgurus. Die wissen alles über die ganzen komplizierten Regelwerke, die sie sich ausgedacht haben. Die kennen alle Feinheiten der Formeln, mit denen sie die Welt im Griff haben, aber keiner hat 2008 die Finanzkrise vorhergesagt. Und das gilt für alle Experten, die im Einzelnen ganz viel wissen und meinen, die Welt käme in Ordnung, wenn sie als Fachleute das Sagen hätten. Aber wissen sie etwas von dem großzügigen Gott, der gegen alle Regeln schenkt und gibt und Freundlichkeit verbreitet?

Wer bei denen in die Lehre geht, der wird auch so. Ein Schüler kann nicht mehr werden als der Lehrer, bei dem er in die Lehre geht; allerhöchstens wird er so gut wie sein bester Lehrer. Wenn du den Fachleuten glaubst, wirst du bestenfalls auch einer, aber nichts anderes. Aber das reicht nicht, wenn die Welt in ihren Grundfesten erschüttert wird. Deswegen: wenn du einem begegnest, der sich als Fachmann ausgibt, dann nimm die Beine in die Hand. Wenn das Schiff auf einen Eisberg zusteuert, dann nützt es dir nichts, wenn dir jemand ganz genau erklären kann, wie der Propeller geölt wird.

Lieber kleine Fragen als große!

Es gibt eine nette Geschichte aus dem Russland des Jahres 1917. Da gab es unter den Bischöfen der orthodoxen Kirche einen heftigen Streit, der ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Sie debattierten intensiv über die richtigen Priestergewänder. Während sie das taten, begann in Russland die kommunistische Revolution, die Russland und die ganze Welt am Ende dramatisch verändert hat. Aber die Bischöfe haben das nicht mitbekommen, weil sie sich so intensiv mit den kleinen Fragen beschäftigten, wo sie Fachleute waren.

Ich weiß nicht, ob die Geschichte stimmt. Wenn nicht, ist sie jedenfalls gut erfunden. Menschen sind so gut darin, sich auf den kleinen Ausschnitt der Welt zu konzentrieren, den sie verstehen, und sie übersehen dabei die großen Umwälzungen, die ihnen nicht geheuer sind, denen sie aber trotzdem nicht entgehen. Menschen konzentrieren sich auf die kleinen Splitter im Auge, aber wirklich entscheidend sind die Balken, die großen Grundentscheidungen: wie ist Gott? Ist er ein Buchhalter, der nur im Rahmen seiner Zahlen denkt und darauf besteht, dass die Schulden auf Heller und Pfennig zurückgezahlt werden? Ist Gott ein Apparatschik, der nur seine Vorschriften kennt und es nicht schafft, danach zu fragen, was gerecht und lebensfördernd ist? Oder ist Gott wirklich an seiner ganzen Schöpfung interessiert, freut sich an ihr, kämpft für ihre Befreiung und möchte ihr einen Neuanfang schenken? Ist Gott in Wirklichkeit ganz anders, konträr zu der Art, wie wir die Welt verwalten, und ist er es, der kommt und unsere Art von Welt erschüttert? Das sind die wirklich wichtigen Fragen.

Und zwar deshalb, weil wir so werden, wie wir uns Gott vorstellen. Wenn wir uns einen Buchhalter-Gott vorstellen, der sich auf den Kleinkram konzentriert, dann werden wir auch so. Wenn wir glauben, dass Gott sich vor allem auf die Sünde konzentriert und sofort draufhaut, wenn wir was falsch machen, dann werden wir auch so. Aber wenn wir an dem biblischen Gott hängen, der großzügig Leben und Segen in der Welt verstreut, der nicht rechnet, sondern befreit und über diesen ganzen Kleinkram lacht, dann werden wir auch so: großzügig und voller Liebe, angstfrei und sorglos, zuversichtlich und reich.

Die Welt der Schuldtürme wankt

Dieses Gleichnis von dem Splitter und dem Balken bedeutet ja nicht, dass jeder selbst die eigenen Sünden nicht sieht, obwohl sie die allergrößten sind, und stattdessen den anderen die Schuld gibt. Es geht gerade umgekehrt darum, dass Menschen sich viel lieber mit einzelnen konkreten, persönlichen Fragen beschäftigen, auch mit Einzelsünden, wo wir nicht ehrlich waren oder zornig oder neidisch, aber es ist viel schwieriger, das ganze System anzuschauen, das wir mit anderen teilen: das Denkmuster, in dem wir überlegen; das Familiensystem, in dem wir drinstecken und das unsere Vorstellungen und Werte prägt; oder auch das Gesellschaftssystem, dem wir verbunden sind. Und sie alle sind irgendwie mit den Schuldtürmen dieser Welt verbunden.

Aber Gott kommt und öffnet mit seiner Güte all die Schuldtürme, mit denen Menschen andere Menschen unter Kontrolle halten. Die ganze menschliche Lebensart ist darauf aufgebaut, dass Menschen anderen Menschen etwas schuldig sind, und wenn sie es nicht freiwillig tun, wird es erzwungen. Wo Gottes Reich kommt, da gilt das andere Gesetz des Gebens, Segnens und Schenkens. Das erschüttert die ganzen Selbstverständlichkeiten, aus denen unsere Welt aufgebaut ist. Endlich! Die Schuldtürme sind unterminiert, und wir müssen vor ihnen keinen Respekt mehr haben.

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