Abschied vom Bonsai-Gott
Predigt am 5. Oktober 2014 zu Offenbarung 6,1-8 (Predigtreihe Offenbarung 12)
1 Nun sah ich, wie das Lamm das erste von den sieben Siegeln der Buchrolle öffnete. Daraufhin hörte ich eines der vier lebendigen Wesen rufen: »Komm!« Die Stimme war so laut, dass es wie ein Donnerschlag klang. 2 Und auf einmal sah ich ein weißes Pferd und auf dem Pferd einen Reiter, der einen Bogen in der Hand hielt. Dem Reiter wurde ein Siegeskranz gegeben, worauf er wie ein siegreicher Feldherr losritt; nichts konnte seinen Siegeszug aufhalten.
3 Als das Lamm das zweite Siegel öffnete, hörte ich das zweite der lebendigen Wesen rufen: »Komm!« 4 Wieder erschien ein Pferd, aber im Unterschied zum ersten war es feuerrot. Seinem Reiter wurde ein großes Schwert gegeben, und er erhielt die Macht, den Frieden von der Erde wegzunehmen, sodass die Menschen sich gegenseitig hinschlachteten.
5 Als das Lamm das dritte Siegel öffnete, hörte ich das dritte der lebendigen Wesen rufen: »Komm!« Diesmal sah ich ein schwarzes Pferd, dessen Reiter eine Waage in der Hand hielt. 6 Und eine Stimme, die von dort zu kommen schien, wo die vier lebendigen Wesen waren, hörte ich rufen: »Ein Kilo Weizen zu einem vollen Tageslohn! Drei Kilo Gerste zu einem vollen Tageslohn! Aber Öl und Wein darfst du nicht knapp werden lassen!«
7 Als das Lamm das vierte Siegel öffnete, hörte ich das vierte der lebendigen Wesen rufen: »Komm!« 8 Und wieder sah ich ein Pferd; diesmal war es fahlgelb. Der Reiter, der darauf saß, hieß »der Tod«, und sein Gefolge war das Totenreich. Ihnen wurde die Macht gegeben, ein Viertel der Menschheit durch Krieg, Hungersnot, Seuchen und wilde Tiere umkommen zu lassen.
Als wir vor vier Wochen auf das fünfte Kapitel der Offenbarung hörten, war der Himmel voll Gesang. Die ganze himmlische Welt freute sich über das Lamm Gottes (also über Jesus), das endlich das Buch mit den sieben Siegeln öffnen sollte: das Buch, in dem Gottes geheimer Plan steht, wie er endlich die Welt wieder in Ordnung bringt und die Zerstörung der Erde beendet. Mit sieben Siegeln ist es verschlossen, niemand kennt die Lösung, und bevor Jesus kommt, scheint es so, als müsste der Plan unausgeführt bleiben, als gäbe es vielleicht keine Rettung für die Welt, weil niemand diesen Plan ausführen kann.
Aber dann bekommt das Lamm – also Jesus – die Buchrolle anvertraut, weil er die Siegel öffnen, das Geheimnis der Welt aufdecken und den Plan in Gang setzen kann. Und im Himmel herrscht großer Jubel, Erleichterung, Freude.
Erst Jubel, dann Schrecken
Und dann öffnet das Lamm die ersten Siegel, und was passiert? Krieg, Hunger und Pest brechen aus, die Reiter der Apokalypse. Albrecht Dürer hat sie in seinen bekannten Holzschnitten dargestellt. Alles wird nur noch schlimmer. Zuerst betritt ein glänzender Herrscher siegreich die Bühne der Weltgeschichte: der Reiter auf dem weißen Pferd. Glanzvoll und stark sieht er aus, aber ihm folgt die Zerstörung auf dem Fuß. Stellt euch Napoleon vor, den Helden einer ganzen Generation. Nicht nur in Frankreich bewunderte man ihn wie einen Übermenschen. Beinahe hätte er ganz Europa erobert. Aber am Ende war Europa von Kriegen verheert, die Länder ausgeblutet, heimatlose Waisenkinder irrten durchs Land, entlassene Soldaten suchten Arbeit, Kriegskrüppel bettelten um Essen. Und alles, weil einer ausgezogen war, um zu erobern und zu siegen.
Die Tragik der Befreiung
Aber womit hat das alles mal angefangen? Mit der französischen Revolution, die völlig zu Recht als Protest gegen die Willkürherrschaft unfähiger und arroganter Monarchen begonnen hatte. Wir verdanken letztlich dieser Revolution die Demokratie, die Menschenrechte und das Ende feudaler Unterdrückung, aber zuerst hat sie Europa in eine 25jährige Zeit der Erschütterungen gestürzt und wahrscheinlich Millionen Menschen das Leben gekostet.
Und wenn wir jetzt in unsere Gegenwart schauen: die ganzen Volksaufstände, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, der arabische Frühling, die Gezi Park-Bewegung in der Türkei, irgendwie sogar der Aufstand in der Ukraine: es waren alles Zeiten der Hoffnung, wo das Volk sich einig war, dass man den Autokraten an der Spitze los werden wollte, die Korruption, die Geheimpolizei mit ihren Folterkellern. Man kann diesen Mut nur bewundern. Die Völker sind endlich erwacht.
Und was kam dann? Krieg, Hunger, Tod – die Reiter der Offenbarung. Waren deshalb diese Freiheitsbewegungen schlecht oder falsch? Nein, da ist etwas Großes und Gutes zu Tage getreten. Menschen werden ermächtigt, und dann wollen sich endlich nicht mehr unterdrücken lassen. Wie gut!
Aber wenn das in einer Welt geschieht, die vollgestopft ist mit Waffen, mit rücksichtslosen Machthabern, gleichgültigen Großmächten, Korruption und entwurzelten Söldnern, die nur darauf warten, dass sie wieder kämpfen können; und wenn in den Menschen selbst auch so viel Verletzungen und Gewalt stecken, dann führt so eine Freiheitsbewegung nicht selten als erstes dazu, dass alles noch schlimmer wird. Wenn das Lamm anfängt, die Siegel zu öffnen, dann gerät der brüchige Status Quo aus dem Gleichgewicht. Die alten Mächte wehren sich rücksichtslos. Überall brechen alte Verletzungen auf, ungelöste Konflikte melden sich zurück. Alles was mühsam mit den sieben Siegeln gebändigt und zurückgehalten war, das bricht jetzt auf, und oft gerät das Ganze außer Kontrolle.
Lieber nicht dran rühren?
Aber sollte man deshalb lieber alles beim Alten lassen und sagen: bloß keine Freiheit? Sollte man das Schreckensregime in Nordkorea stabilisieren, Saddam Hussein zurückholen und Assad in Syrien unterstützen? Soll man den Menschen in Hongkong sagen: findet euch mit den undemokratischen System in China ab? Das kann es doch wohl auch nicht sein. Alle Diktaturen werden irgendwann sowieso instabil, sie häufen den Sprengstoff an, der dann eines Tages durch einen kleinen Funken zündet, und sei es durch friedlichen Protest.
Ganz ähnlich ist es, wenn man an einzelne Menschen denkt: Wenn jemand sich endlich den Problemen der Vergangenheit stellt, oder wenn er sich seine Suchtproblematik eingesteht und davon loskommen will, dann kann es passieren, dass es in der Therapie erst einmal schlimmer wird. Vielleicht bekommt er Entzugserscheinungen und denkt: Jetzt geht es mir schlechter als vorher, als ich noch getrunken oder gespritzt habe! Die Ärzte können lindern und begleiten, aber unser Körper und unser Geist reagieren heftig, wenn wir anfangen, die Energieströme in unserem Leben umzuleiten. Aber soll einer lieber weitermachen wie gewohnt, bis er ganz zu Grunde geht?
Das sind die Zusammenhänge im Hintergrund, die dazu führen, dass die Welt schrecklich erschüttert wird, wenn die sieben Siegel geöffnet werden, damit Gottes guter Plan endlich ausgeführt werden kann. Über lange Zeit ist in der Welt Sprengstoff angehäuft worden, im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Wir kennen das von den Blindgängern, den alten Bomben aus dem Krieg. 70 Jahre liegen sie ruhig in der Erde. Aber wenn man zufällig auf sie stößt, dann kann man sie nicht mehr liegen lassen, dann muss man sie entschärfen, und das ist richtig gefährlich. Und genauso wird es richtig gefährlich, wenn sich einer ans verminte Gelände der Menschheitsgeschichte wagt und anfängt, die Siegel zu öffnen, um die Vergangenheit zu entschärfen. Dann hantiert der auch da mit einem gewaltigen Zerstörungspotential.
Ein Gott im Bonsai-Format?
Trotzdem jubeln die Bewohner des Himmels, als das Lamm die Aufgabe anpackt und die Siegel öffnet. Nur dem Lamm – also Jesus – trauen sie zu, dass es diese schwere Aufgabe schafft. Im Himmel sehen sie, dass es um die Heilung der Erde geht, und dem Lamm wird es gelingen. Johannes gibt das an seine Gemeinden weiter. Er will, dass sie auch diesen Zusammenhang verstehen, damit sie nicht erschreckt werden von den Erschütterungen, die bevorstehen.
Und ich denke, bis heute haben wir das dringend nötig, dass unser Bild von Gott und seinem Wirken entharmlost wird. Wenn Gott kommt, das erschüttert die Erde in ihren Grundfesten. Wir haben so ein Bild vom »lieben Gott« entwickelt, so ein kuscheliger Daddy, dem man am liebsten auf den Schoß springen würde, und der milde die Stirn runzelt, wenn wir mal wieder ein bisschen zu kräftig zugelangt haben bei den Süßigkeiten oder einen bösen Gedanken über die Arbeitskollegin gehegt haben. Und das reduziert Gott auf ein Bonsai-Format. Wie sollte man so einem auf Blumentopfgröße zurechtgestutzten Gott noch zutrauen, dass er sich in den Untiefen der Weltgeschichte auskennt und sogar diese ganzen Erschütterungen erst hervorruft?
Lange hat man uns erzählt: Gott beruhigt die Leute, Gott gibt dem Leben Stabilität, Gott sorgt in der Welt für Ausgleich, in seiner Weisheit sorgt er für Harmonie. Ich verstehe, was damit gemeint sein könnte, aber ich glaube, wir haben dringend etwas ganz anderes zu lernen: Gott erschüttert die Welt. Gott sieht nicht ruhig zu, wenn Menschen mit dem Tod paktieren und ihre Mitmenschen und die Kreaturen mit Füßen treten.
Frühere Zeitalter haben vor allem davon gesprochen, dass Gott schrecklich in seinem Zorn ist. Das gibt, glaube ich, auch ein ziemlich schiefes Bild von Gott ab. Aber wir machen es nicht besser, wenn wir stattdessen einen kuscheligen Bonsai-Gott erfinden. In beiden Fällen fallen wir vom Pferd, mal rechts und mal links, aber wenn man erst unten liegt, ist das ziemlich egal. Man kann sich Gott nicht mal eben so erfinden, wie man ihn gern hätte. Und was nützt denn so ein lieber Gott, wenn es in der Welt gar nicht lieb zugeht?
Ein Gott, der das Sytem erschüttert
Die Lösung ist auch nicht eine Mischung aus lieb und schrecklich, so dass man dann überhaupt nicht mehr weiß, was eigentlich gilt. Wir müssen die innere Logik Gottes verstehen. Im fünften Kapitel der Offenbarung (v. 5) wurde das Lamm vorgestellt als der »Löwe von Juda«. Jesus, das Lamm Gottes, der sich wehrlos in die Hände der Tyrannen gibt, gerade der ist der Löwe und erschüttert die Welt wie kein anderer. Indem Jesus dem Leben Gottes vertraute (und Gott bestätigte das, als er ihn auferweckte), hat er das Machtgleichgewicht in der Welt verschoben. Dieses Machtgleichgewicht beruht gerade auf der Annahme, dass Gott weit weg ist, oder zu schwach ist, sich nicht kümmert und die Herren der Welt machen lässt, was sie wollen.
Wenn aber Gott mit seinem Leben, das in Jesus erschienen ist, sogar den Tod besiegt, dann stimmt die Grundannahme nicht mehr. Dann geraten die Fundamente dieser Welt ins Wanken. Wenn es jetzt Menschen gibt, die die Kraft der Auferstehung kennen, und die Kraft des mutigen Opfers, dann ist ein ganz neuer Faktor in der Welt. Und dann gibt es noch die Menschen, die das alles zwar nicht richtig verstehen, aber einfach spüren, dass der Wind sich gedreht hat und der Duft des Lebens den Mief des Todes vertreibt. Und auch das hatten die Mächte dieser Welt nicht auf ihrem Plan. Sie glaubten, sie hätten gesiegt, aber jetzt merken sie, dass ihre Berechnungen nicht mehr stimmen, und Panik bricht aus. Aber Leute in Panik sind gefährlich.
Ein realistisches Gottesbild
Passt dieses Bild nicht genau zu dem, was wir heute in der Welt erleben? Gott bedeutet Leben, Liebe, Barmherzigkeit; und deshalb bringt Jesus Freiheit und Ermächtigung für die Elenden. Aber das erschüttert die Welt, wie sie de facto ist, in ihren Grundfesten. Das ganze System gerät ins Wanken. Wir dürfen nicht vergessen, dass Jesus nicht nur geheilt hat: er hat auch Dämonen vertrieben und Menschen frei gemacht. Damit konnten die modernen, aufgeklärten Menschen schon immer nicht so viel anfangen. Das war ihnen irgendwie peinlich, dass der sanfte Jesus so ein Spektakel verursacht mit brüllenden Dämonen und autoritären Kommandos. Das ist nicht mehr nett.
Aber stellen wir uns vor, wie das im großen Maßstab aussieht, wenn Jesus also nicht mehr nur in den kleinen Dörfern am See Genezareth aktiv ist, sondern weltweit die Auseinandersetzung mit den bösen Mächten sucht. Dann kommt ungefähr das dabei heraus, was wir heute Tag für Tag in den Nachrichten hören.
Und wir sollen doch bitteschön nicht glauben, dass wir hier in Europa und in Deutschland für ewig auf einer Insel der Seligen leben, wo Stabilität herrscht, und von wo aus man ruhig dem Chaos ringsum zuschauen kann. Wenn die Welt in ihren Grundfesten erschüttert wird, das geht auch an uns nicht vorbei.
Die Frage ist nicht, ob uns das gefällt. Die Frage ist, ob dieses Bild von Gott nicht viel besser zu dem passt, was wir erleben. Ob das die Realität nicht besser erklärt als das Bild von dem netten Opa-Gott, der höchstens mal mild mit dem Zeigefinger droht und im Übrigen schon längst resigniert hat gegenüber dem Chaos, das die Menschen anrichten.
Im Auge des Sturms, nicht im Blumentopf
Johannes jedenfalls erklärt seinen Leuten die Welt so: da ist ein guter Gott, der seine Schöpfung nicht dem Chaos überlässt. Aus himmlischer Sicht ist das die Hoffnung der Welt. Aber wenn dieser Gott sich mitten ins Chaos hinein begibt, dann fängt es da erst richtig an zu brodeln. Und ihr, das Volk Gottes, steht mitten im Zentrum des Sturms. Das ist nicht selten der sicherste Ort. Aber gemütlich ist es da nicht.
Also: seid wach, seid realistisch, und lasst euch nicht erschrecken. Aber hört auf, euren Bonsai-Gott zu pflegen. Der wird euch nicht schützen, wenn der Sturm zu wehen beginnt.
Danke für diese Predigt. Obwohl ich die Offenbarung selbst nur mit der Zange anfasse, finde ich die Bilder darin phantastisch. Es ich wichtig, dieses Feld nicht ausschließlich den Sektierern zu überlassen.