Der Löwe, der ein Lamm war

Predigt am 7. September 2014 zu Offenbarung 5 (Predigtreihe Offenbarung 11)

1 Jetzt sah ich, dass der, der auf dem Thron saß, in seiner rechten Hand eine Buchrolle hielt. Sie war innen und außen beschrieben und war mit sieben Siegeln versiegelt. 2 Und ich sah einen mächtigen Engel, der mit lauter Stimme rief: »Wer ist würdig, das Buch zu öffnen? ´Wer hat das Recht,` seine Siegel aufzubrechen?« 3 Aber da war niemand, weder im Himmel noch auf der Erde, noch unter der Erde, der das Buch öffnen konnte, um zu sehen, was darin stand; 4 keiner war zu finden, der würdig gewesen wäre, die Buchrolle aufzumachen und etwas von ihrem Inhalt zu erfahren. Darüber weinte ich sehr.
5 Doch einer der Ältesten sagte zu mir: »Weine nicht! Einer hat den Sieg errungen – der Löwe aus dem Stamm Juda, der Spross, der aus dem Wurzelstock Davids hervorwuchs. ´Er ist würdig,` das Buch mit den sieben Siegeln zu öffnen.«
6 Nun sah ich in der Mitte, da, wo der Thron war, ein Lamm stehen, umgeben von den vier lebendigen Wesen und den Ältesten. Es sah aus wie ein Opfertier, das geschlachtet worden ist, und hatte sieben Hörner und sieben Augen. (Die sieben Augen sind die sieben Geister Gottes, die in die ganze Welt ausgesandt sind.) 7 Das Lamm trat vor den hin, der auf dem Thron saß, um das Buch in Empfang zu nehmen, das er in seiner rechten Hand hielt.
8 Als es das Buch entgegengenommen hatte, warfen sich die vier lebendigen Wesen und die vierundzwanzig Ältesten vor ihm nieder. Jeder von den Ältesten hatte eine Harfe; außerdem hatten sie goldene, mit Räucherwerk gefüllte Schalen. (Das Räucherwerk sind die Gebete derer, die zu Gottes heiligem Volk gehören.)
9 Nun sangen die vier lebendigen Wesen und die Ältesten ein neues Lied; es lautete: »Würdig bist du, das Buch entgegenzunehmen und seine Siegel zu öffnen! Denn du hast dich als Schlachtopfer töten lassen und hast mit deinem Blut Menschen aus allen Stämmen und Völkern für Gott freigekauft, Menschen aller Sprachen und Kulturen. 10 Du hast sie für unsern Gott zu Königen und Priestern gemacht; und sie werden auf der Erde herrschen.«
11 Dann sah ich eine ´unzählbar` große Schar von Engeln – tausend mal Tausende und zehntausend mal Zehntausende. Sie standen im Kreis rings um den Thron, um die vier lebendigen Wesen und um die Ältesten, und ich hörte, 12 wie sie in einem mächtigen Chor sangen: »Würdig ist das Lamm, das geopfert wurde, Macht und Reichtum zu empfangen, Weisheit und Stärke, Ehre, Ruhm und Anbetung!« 13 Und alle Geschöpfe im Himmel, auf der Erde, unter der Erde und im Meer – alle Geschöpfe im ganzen Universum – hörte ich ´mit einstimmen und` rufen: »Anbetung, Ehre, Ruhm und Macht für immer und ewig dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm!« 14 Die vier lebendigen Wesen antworteten: »Amen!« Und die Ältesten warfen sich nieder und beteten an.

Unsere Welt wirft mehr Fragen auf als es Antworten gibt. Warum ist sie so schön und großartig und dann wieder so erschreckend und bedrohlich? Warum sind Menschen zu erstaunlichen Taten in der Lage und leben trotzdem so oft unter ihren Möglichkeiten? Was ist mit all den Menschen, die unter die Räder von Gewalt und Zerstörung geraten und davon umgekommen sind? Und vor allem: gibt es einen Weg, um die Schöpfung vor den tödlichen Gefahren zu retten, die überall lauern?

Die Auflösung der Weltfragen

Das Symbol für die Antwort auf all diese und ähnliche Fragen ist in den Bildern des Sehers Johannes die Schriftrolle, die der auf dem Thron, also Gott, in der Hand hält. In dieser Schriftrolle steht, wie es alles zusammenhängt, und wie Gott am Ende seine Schöpfung doch noch zu ihrem Ziel bringen wird. Es ist eine komplizierte Lösung, deswegen ist die Schriftrolle nicht nur auf einer Seite beschrieben, sondern auf beiden Seiten. Aber es gibt eine Lösung für das Rätsel der Welt.

Aber da ist leider noch ein entscheidendes Problem: niemand kann die Schriftrolle mit der Lösung öffnen und lesen. Niemand hat das Recht dazu. Alle sind Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Und das ist ein echtes Dilemma. Als Gott die Welt schuf, da hat er in ihre Fundamente eingeschrieben, dass er sie nicht direkt regieren würde. Er hat es so vorgesehen, dass die Menschen sich in seinem Auftrag um die Welt kümmern sollen. Und jetzt einfach zu sagen: »ok, die Menschen haben es vermasselt, jetzt muss ich die Sache wohl doch selbst in die Hand nehmen.«, das würde die grundlegende Struktur der Welt so verändern, dass es eine ganz andere Welt wäre als die, die Gott geschaffen hat. Nein, es muss eine andere Lösung geben.

Eigentlich hatte Gott schon eine Lösung. Er hat Abraham berufen, damit er und seine Familie diejenigen sind, durch die sein Plan ausgeführt wird. Israel war Gottes Lösung. Aber auch Israel hat sich immer wieder anstecken lassen von Gewalt und Ungerechtigkeit. Es hat diese Rolle, die Lösung für das Problem zu sein, nicht wirklich durchgehalten. Und was nun?

Die Möglichkeit des Scheiterns

An dieser Stelle weint Johannes, weil hier wirklich alles verloren sein könnte. Gibt es keinen Ausweg? Ist wirklich alles gescheitert? Hat Gott eine Welt geschaffen, die sich am Ende rettungslos selbst zerstört? Für einen Augenblick wird diese Möglichkeit sichtbar.
Zum Glück ist das nur ein kurzer Moment. Und dann gibt es eine Antwort: Der Löwe aus dem Stamm Juda kann die Siegel öffnen, das Geheimnis der Welt verstehen und Gottes Plan zur Ausführung bringen. Der Löwe ist ein altes Symbol des Stammes Juda. Der Löwe ist das Symbol für Stärke, für Herrschaft, man nennt ihn den König der Tiere. Wenn irgendwer es schafft, die letzte, entscheidende Schlacht gegen das Böse zu gewinnen, dann bestimmt der Löwe!
Und dann schaut Johannes hin und sieht – ein Lamm! Ausgerechnet das zarteste und verletzlichste Tier, und in diesem Fall auch noch ein Opfertier, an dessen Kehle der Schnitt noch sichtbar ist, durch den es sein Leben lassen musste. Und Johannes muss das erstmal in seinem Kopf zusammenbekommen: der Löwe, der ihm angekündigt war, und das Lamm, das er sieht. Das Stärkste und Mächtigste und das Zarteste und Verletzlichste, beides muss er zusammenbringen. Und das ist in der Tat das christliche Grundparadox: dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist und dass die Sanftmütigen die Erben der Schöpfung sind.

Lammchristen und Löwenchristen

Es hat immer Christen gegeben, die das nicht zusammenhalten konnten und sich für eine Seite entscheiden haben: die Lammchristen, die dachten, sie wären auf der sicheren Seite, wenn sie schwach und demütig sind und sich nichts trauen, dann können sie ja nichts falsch machen; und die Löwenchristen, die empört mit der Faust auf den Tisch hauen und aus dem Christentum eine Herrschaftsreligion machen, die sie anderen aufzwingen, die denken, sie müssten die Sache Jesu mit den Mitteln weltlicher Macht zum Sieg bringen.

Aber beides gehört zusammen: gerade auf seine äußerlich gesehen schwache Weise erringt das Lamm den Sieg. Und natürlich ist das ein Bild für Jesus. Jesus, der ohne Gewalt und Waffen dennoch auf königliche Weise seine Umgebung prägt, der die Karten des Spiels noch einmal ganz neu verteilt und aus Letzten Erste macht, der in der Bergpredigt von einer anderen Macht spricht, die aus dem Segen Gottes strömt. Und der im Vertrauen auf diese Art von Macht sein Leben eingesetzt hat

Vorhin in der Lesung (Johannes 18,33-38) waren wir Zeugen der Konfrontation zwischen Pilatus, dem Vertreter der Macht, die aus den Gewehrläufen kommt, und Jesus, der auf ganz andere Weise König der Welt ist. Und Pilatus versteht es einfach nicht und hält Jesus für einen harmlosen Spinner.

Gefangen im Machtdenken

Man kann das immer wieder beobachten, wie Menschen, die voll in der Machtlogik drin sind, auch nur noch Machtoptionen kennen und die für die einzig realistischen halten: Waffenlieferungen, Bombenangriffe, Geldzahlungen, Bündnisschlüsse, Truppenentsendung. Wer da erstmal drin steckt, der versteht gar nicht mehr, dass die wirklichen Schlachten um die Herzen der Menschen gehen, sogar nach rein machtpolitischen Gesichtspunkten, und dass es sogar realpolitisch viel effektiver sein kann, Menschen zu lieben und für sie zu sein statt gegen sie. Wer das Spiel der Macht mitmacht, wird am Ende nur die Zerstörung weiter treiben – wir haben das nun wirklich oft genug gesehen, und die Welt wäre wesentlich sicherer, wenn ganz oben auf der Prioritätenliste die Solidarität mit denen stünde, die in Bedrückung und Angst leben müssen.

Der wirkliche Löwe ist das Lamm, der wirkliche König der Welt ist der, der sogar seine Feinde liebt. Davon erzählen die Evangelien, Paulus entwickelt das mit messerscharfer Logik, und Johannes sieht Bilder: jeder auf seine Weise sprechen sie davon, dass jetzt die Zeit gekommen ist, in der das Geheimnis der Welt enthüllt wird. Das Lamm bekommt den Plan Gottes anvertraut, damit es ihn ausführt. Jesus ist endlich der Mensch, auf den Gott gewartet hat, damit er der ganzen Welt den Weg des Friedens zeigt.

Die himmlische Ouvertüre

Und als das klar wird, da erhebt sich im Himmel lauter Jubel. Die 24 Ältesten, die Engel und die ganze Schöpfung stimmen ein gewaltiges Musikstück an, wie die Ouvertüre einer großartigen Oper. Sie freuen sich darauf, Zeuge dieses Stückes zu sein, weil sie jetzt wissen, dass es gut ausgehen wird. Endlich ist der gefunden, der den Plan Gottes ausführen wird. Und alles wartet darauf, dass der Vorhang aufgeht und das Stück beginnt.

Wer steht auf der Bühne?

Und als der Vorhang zur Seite gleitet und den Blick auf die Bühne frei gibt, da stellt sich natürlich die Frage: wo sind die Schauspieler? Und wenn wir noch einmal auf den Gesang in der Ouvertüre achten, dann finden wir da die doch ziemlich schockierenden Antwort: das sind wir. Wir führen dieses Drama auf. Wie lautete der Gesang der Ältesten? »9 Du hast mit deinem Blut Menschen aus allen Stämmen und Völkern für Gott freigekauft, Menschen aller Sprachen und Kulturen. 10 Du hast sie für unsern Gott zu Königen und Priestern gemacht; und sie werden auf der Erde herrschen.« Jesus ist gekommen, hat auf seine besondere Weise gelebt und ist am Ende auch auf diese besondere Weise gestorben, um uns zu befreien: damit wir unsere Rolle in diesem Stück einnehmen können, damit wir eine neue Menschheit werden, die nicht mehr in den alten Bindungen und Denkmustern drinsteckt und die auf die neue Weise Jesu den Weg der Welt gestaltet.

Jesus hat uns durch sein Blut, also durch sein von Gottes Art durchtränktes Leben, dem er bis zum letzten Atemzug treu blieb, freigekauft, damit wir Gottes Herrschaft in der Welt ausüben, aber eben nicht mit den Pilatus-Methoden, sondern auf Jesu Art, mit den Methoden der Bergpredigt, in einer Souveränität, die kein Geld und keine Waffen braucht und trotzdem königlicher durch die Welt geht als alle Verwalter der Macht.

Die Bedeutung menschlichen Handelns

Jesus hat uns davon befreit, Zuschauer zu sein, und hat uns stattdessen zu Akteuren gemacht, die auf der Bühne der Welt eine entscheidende Rolle spielen. Und die Ältesten, die sich niederwerfen und Jesus anbeten und den Jubel mit Liedern zum Ausdruck bringen, die haben Schalen mit aromatischem Harz, das angezündet wird und den Himmel mit erfreulichem Geruch erfüllt, und es heißt ausdrücklich: das sind die Gebete der Heiligen, also der Christen. Es ist offensichtlich so, dass aus himmlischer Perspektive das unvollkommene, stümperhafte Gebet der Christen einen viel höheren Stellenwert hat, als wir es uns vorstellen.

Und wahrscheinlich gilt das für den anderen Teil unserer Praxis auch: unsere so einigermaßen gesungenen Lieder haben im Himmel einen gewaltigen Widerhall, und unsere einigermaßen stümperhaften Versuche, Jesus nachzufolgen, sind aus himmlischer Perspektive entscheidende Schlachten, die hier auf der Erde geschlagen werden. Deswegen stehen am Anfang der Offenbarung die sieben Briefe an die sieben kleinen Gemeinden, damit bei diesem großartigen himmlischen Schauspiel nicht in Vergessenheit gerät, wie zentral und wichtig die Praxis der einfachen Jesusgemeinschaften ist. Da wird in der Alltäglichkeit der Sieg Jesu in die Welt hinein gebracht. Und endlich gibt es Menschen, durch die Gott die Welt regiert.

Wir kommen damit an die Grenze dessen, was wir verstehen können, aber aus himmlischer Sicht kommt es anscheinend viel mehr auf die richtige Richtung an als auf die Reichweite unseres Handelns. Wenn wir unseren bescheidenen Beitrag leisten, dann kann Gott das aus seiner Fülle heraus bestätigen und ans Ziel bringen, wie auch immer das geht. Am Ende steht der Sieg über alle Mächte des Bösen und der Zerstörung.

Am Start

Damit ist die Bühne bereitet, die Ouvertüre aufgeführt, die Fragestellung des Stückes eingeführt: wie wird nun der Sieg Gottes aussehen? Wir wird die Welt reagieren, wenn die neuen Priester und Könige im Auftrag Gottes beginnen, die Welt zu regieren? Werden sie zu hören bekommen: ach da seid ihr ja endlich, wir haben schon so lange auf euch gewartet! Oder wird es ganz anders kommen? Darauf antwortet der Rest der Offenbarung des Johannes.

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