Zwei Männer am heiligen Ort

Predigt am 31. August 2014 zu Lukas 18,9-14

9 Einigen, die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt waren und die anderen verachteten, erzählte Jesus dieses Beispiel:
10 Zwei Männer gingen zum Tempel hinauf, um zu beten; der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.
11 Der Pharisäer stellte sich hin und sprach leise dieses Gebet: Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort. 12 Ich faste zweimal in der Woche und gebe dem Tempel den zehnten Teil meines ganzen Einkommens. 13 Der Zöllner aber blieb ganz hinten stehen und wagte nicht einmal, seine Augen zum Himmel zu erheben, sondern schlug sich an die Brust und betete: Gott, sei mir Sünder gnädig!
14 Ich sage euch: Dieser kehrte als Gerechter nach Hause zurück, der andere nicht. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden.

Diese Geschichte spielt an einem heiligen Ort, im Tempel von Jerusalem. Der Tempel war ein Symbol für die Welt, er war ein auf das Allerwesentlichste reduziertes Abbild der Welt. Und das Wichtigste an diesem Tempel war ein leerer Raum. Im Zentrum des Tempels stand kein Götterbild, sondern das Allerheiligste war ein leerer Raum. Der war für den unsichtbaren Gott bestimmt, damit man dort zu ihm beten und ihm vielleicht auch begegnen konnte.

Wenn nun der Tempel ein auf das Wesentliche reduziertes Modell der Welt ist, dann sagt uns das: Gott ist nicht ein Teil unserer Welt, er ist nicht aus Materie, aber er wohnt in der Welt, er lebt verborgen, unsichtbar in seiner Schöpfung, und jederzeit kann es passieren, dass er dir begegnet. Dir kann ein Wort von ihm zufallen, viele spüren etwas von seinem Leben, wenn sie ein neugeborenes Kind im Arm halten, wir können erschrecken, wenn uns klar wird, dass wir andere Geschöpfe verwunden oder zerstören, oder wir können in der Schönheit der Natur etwas spüren von der Freude Gottes an Schönheit.

Iona AbbeyEinige wissen, dass ich vor etwas mehr als zwei Tagen noch in Schottland war, an der Grenze Europas, wo dann eigentlich nur noch der Atlantik kommt. Ich habe da eine knappe Woche auf einer Insel in einer ganz großartigen Weite gelebt, wo man vom höchsten Punkt der Insel aus fast 100 km weit über das Meer sehen kann, mit einem wunderbaren Licht und einem klaren Himmel, und man ahnt da, wie die ganze Schöpfung sich freut, dass sie ins Leben gerufen worden ist. Felsklippen, die über zwei Milliarden Jahre alt sind, irgendwie hat sich das Gras einen Platz geschaffen, wo es wachsen kann, und immer wieder die Wellen, mal ganz ruhig und mal mit großer Kraft. Da ist die Grenze zwischen der sichtbaren Seite der Schöpfung und der verborgenen Seite ganz dünn. Da kann man in dieser wilden und kargen Landschaft etwas entdecken von Gottes Weite, von seiner Herrlichkeit, Kraft und Souveränität.

Aber niemand ist gezwungen, das zu sehen. Vielleicht gibt es ja Menschen, die sogar da gedankenlos durchtrampeln, schnell ein paar Fotos knipsen, die leeren Chips­tüten in die Gegend schmeißen und nichts merken von all dem Wunderbaren und all der Schönheit.

Wo man lernt, Spuren Gottes zu finden

Aber vor 1500 Jahren schon haben sich auf der Insel, Iona heißt sie, irische Mönche angesiedelt, und durch viele Jahrhunderte haben da Menschen gelebt, die anderen Menschen geholfen haben, zu verstehen, wie nahe sie hier Gott sind. Die Mönche haben für diese Nähe Worte und Riten gefunden, so dass Menschen ihrer Ahnung eine Gestalt geben konnten. Und wer das auf der Insel verstanden hat, der kann dann auch zu Hause Gottes Spuren in seiner alltäglichen Welt besser finden und verstehen.

Eine ähnliche Funktion hatte der Tempel in Jerusalem. In seiner ganzen Pracht spiegelte er die Schönheit der Schöpfung, und der heilige leere Raum in seiner Mitte sagte: diese Welt birgt ein Geheimnis, sie ist erfüllt vom Leben Gottes, vom Geist des Schöpfers, den du nicht sehen und manipulieren kannst, aber du kannst ihm begegnen, und vielleicht passiert es gerade hier an diesem Ort und heute an diesem Tag.

Zwei Männer am heiligen Ort

Und dann kommen also zwei Männer dorthin, um an diesem Platz zu beten. Der eine ein Zöllner, der Steuereinnehmer des römischen Imperiums, der sich für einen kleinen Anteil an der Beute als Handlanger der Macht verkauft hat und mithilft, sein eigenes Land auszuplündern und den Menschen das Leben noch schwerer zu machen. Vielleicht würde er heute Spekulationsmilliarden um den Erdball schicken und ganze Volkswirtschaften ruinieren oder andere Wege finden, um den paar Superreichen, denen sowieso schon die halbe Welt gehört, noch mehr Geld und Macht zu organisieren. Der andere ein Pharisäer, also ein Mitglied einer Bewegung, die ursprünglich mal eine gewaltsame Befreiung wollte, sich dann immer mehr auf die religiöse Gestaltung des Alltags konzentriert hat und so die Identität des Volkes bewahren wollte, aber immer noch auf die Befreiung Israels aus Unterdrückung und Willkür hoffte. Zwei Männer, die aus völlig entgegengesetzten Fraktionen Israels stammen.

Aber beide kommen sie an den Ort, wo der unsichtbare Schöpfer der Welt Menschen begegnet. Und dem Zöllner wird es geschenkt, dass er Gott begegnet, und in dieser Begegnung erkennt er in Klarheit seine Rolle und seinen Irrweg. Was er schon immer gewusst hat, bekommt deutliche Konturen, und er erschrickt über sich, dass er sich so weit entfernt hat vom Leben Gottes. Es gibt keine einfache Lösung dafür, und so kann er nichts anderes sagen als: Gott, sei mir Sünder gnädig. Er hat nicht nur seine eigene erbärmliche Rolle wahrgenommen, er hat auch verstanden, dass Gott ihn trotz allem nicht aufgegeben hat und immer noch auf seine Befreiung hofft und daran arbeitet, dass er doch noch zu einem Bild Gottes wird mitten in einer dunklen Welt. Und es ist das Wunder, dass Gott es bis heute immer wieder schafft, Menschen herauszubrechen aus ihrer Komplizenschaft mit den zerstörerischen Mächten in der Welt, sie zu befreien und sie zurückzuholen zur Liebe zu allem Lebendigen. Diese Kraft hat der Mann wahrgenommen, ihr hat er sich in diesem Moment anvertraut, und Gott sagt (laut Jesus): das ist genug, damit kann ich etwas anfangen, jetzt kann es mit uns weitergehen, mit dir und mir.

Beim anderen, dem Pharisäer kommt es zu keiner Begegnung mit Gott. Es liegt nicht daran, dass Gott fern wäre. Gott ist jedem von uns nahe, und heilige Orte, seien sie groß oder klein, haben die Kraft, uns zu einer Begegnung mit ihm zu führen. Aber der Mann schirmt sich ab gegen diese Begegnung, er rezitiert wie ein Mantra die Fundamente seiner kleinen Welt, in der er sich eingerichtet hat: ich faste, ich spende, ich habe noch keinen umgebracht, ich bin ein rechtschaffener Mensch.

Die Welt brennt, überall drohen Katastrophen, es gäbe jede Menge Gründe, um zu sagen: Gott, wie soll das nur gehen – hilf uns, greif ein, wir sind ohnmächtig und zerrissen, sei uns gnädig! In den Psalmen beten Menschen dauernd so. Und dann hätte Gott ihm vielleicht etwas sagen können, er hätte ihm sagen können: fürchte dich nicht, ich bin immer noch da, ich habe mein Volk nicht vergessen, ich werde euch beistehen. Oder etwas anderes.

Aber der Pharisäer kann Gott nicht hören, weil er die ganze Zeit sein Mantra aufsagt, und Gott kann ihn nicht trösten, weil er gar nicht sehen will, wie schlimm es tatsächlich ist. Er stellt sich weder der Realität der zerrissenen Welt noch der Realität des lebendige Gottes.

Mythos Pharisäer

Pharisäer sind bei uns heute ja wohlbekannt als die klassischen religiösen Heuchler, und sie sind ein Mythos, weil mindestens bei uns kein Mensch mehr sich eine heile Welt aus Fasten, Beten und Spenden baut. Wer auf andere herabschaut, der tut es vielleicht, weil sie die falschen Marken tragen, aber nicht, weil sie am Sonntag der Kirche fernbleiben. Die letzten echten Pharisäer und Pharisäerinnen habe ich nach meinem Eindruck jedenfalls schon vor langer Zeit beerdigt. Wenn sich heute einer mit einem Mantra gegen Gott abschirmt, dann sagt er eher: es gibt keinen Gott, es gibt nur Naturgesetze, und ich bin Realist und nicht einer von diesen Spinnern, die immer noch die Welt verbessern wollen. Aber immer geht es darum, dass sich Menschen abschirmen gegen den verborgenen Gott, der uns unerwartet und unverhofft begegnen kann, wenn sich eine Tür zu Gottes Seite der Welt auftut.

Man kann sich gegen diese Begegnung abschirmen mit religiösen Systemen; man kann kann sich auch ein Weltbild schaffen, in dem Gott von vornherein keinen Platz hat, und wo wir auf unsere materiellen Bedürfnisse reduziert sind. Man kann sich sein Leben so vollpacken mit Verpflichtungen und Beschäftigungen, dass man keine Zeit mehr hat, um Gott zu hören. Man kann durch die Welt trampeln und sie vermüllen, bis ihre Schönheit kaum noch zu erkennen ist. Und wenn man doch einmal auf das Geheimnis stößt, das uns von allen Seiten umgibt, dann kann man es auch einfach vergessen und schnell wieder zurückgehen ins Klein-Klein des Alltags.

Zerstörerische Abgrenzungen

Beim Pharisäer ist es besonders die Abgrenzung zum anderen, zum Zöllner, die es ihm verwehrt, Gott zu verstehen. Ich glaube, dass es tatsächlich Gott war, der seine Aufmerksamkeit auf den Zöllner gelenkt hat. Er wollte ihm sagen: schau dir den Zöllner an, selbst für den habe ich Hoffnung, selbst mit dem kann ich einen Weg gehen, den kann ich dir als Gefährten zur Seite stellen, ich arbeite daran, mein Volk wieder herzustellen, sei du auch dabei! Und der Pharisäer folgt dem Wink Gottes, er schaut auf den Zöllner, aber er baut ihn sofort ein in sein Weltbild und sagt: gut, dass ich nicht einer von denen bin! Er verleugnet die Hoffnung Gottes für alle Menschen. Jesus erzählt die Geschichte so, dass deutlich wird: der Pharisäer grenzt sich genau in dem Moment vom Zöllner ab, als der gerade wieder zurückfindet zu Gott, und so durchkreuzt er die Pläne Gottes und macht es Gott noch schwerer, seine Welt zu heilen.

Es ist kein Zufall, dass der Pharisäer den Zöllner nur sieht und nicht mit ihm spricht. Was Gott mit einem Menschen und seinem Herzen tut, das können wir nur erkennen, wenn wir mit ihm sprechen. Von außen zu sehen ist das in der Regel gar nicht. Und wenn Menschen und Menschengruppen dann erstmal von außen gesehen und in Schubladen einsortiert sind, dann nimmt niemand mehr wahr, wie sie vielleicht so einen Moment des Erschreckens haben über das, was sie tun, man sieht auch nicht, was sie erlitten haben, oder was sie eigentlich beitragen könnten zum Reichtum unserer Welt. Selbst die Handlanger des Systems können und sollen noch gerettet werden. Der Glanz der Hoffnung liegt auf allen Menschen. Aber die zerstörerischen Mächte, die an der Verfinsterung der Welt arbeiten, wollen uns gegeneinander in Stellung bringen, damit sie uns um so leichter für ihre Zwecke missbrauchen können.

Hoffnungsperspektiven

Jesus hat das im Namen der Hoffnung unterwandert. Er erzählt eine Hoffnungsgeschichte von einem Zerstörer, der über sich selbst erschrickt und Gott als seinen Beistand entdeckt, der immer noch auf ihn wartet und die Hand nach ihm ausstreckt. Jesus ist der wichtigste heilige Ort, wo Menschen die Güte des Schöpfers und die Treue des lebendigen Gottes entdecken und dann überall wiederfinden können.

Deshalb liegt Hoffnung über der ganzen Welt und auch über den schlimmsten Menschen: selbst über den Finanzhaien, die schon die nächste Wirtschaftskatastrophe planen, den Desperados, die von Krisenherd zu Krisenherd ziehen, von Afghanistan nach Tschetschenien und in die Ukraine, von Syrien in den Irak und wer weiß noch wohin, weil sie nichts anderes mehr können und kennen als kaputtmachen, den Entscheidern, die nur noch im Rahmen des angeblich Machbaren denken wollen und so schon das nächste Desaster vorbereiten, und allen kleinen Leute, die lieber die Augen zumachen als sich der Realität zu stellen – sie und wir alle können und sollen gerettet werden. Für sie und uns alle gibt es einen Platz in Gottes neuer Welt. Aber es braucht Menschen, die dafür leben und anderen die Tür dahin offen halten. Die uns helfen, Gott zu erkennen, so wie es die alten Mönche von Iona taten. Die sich nicht auseinander bringen lassen, so wie Gott sich nicht von uns und der Welt trennt.

Die Welt ist voll von der verborgenen Fülle Gottes und sie ist erfüllt mit der verborgenen Hoffnung, die die Kraft hat, jeden zurückzuholen zum Leben.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. K

    Ich lese Ihre Predigten gerne mit. Zwischendurch einmal ein kleiner Dank von hier aus.

    1. Walter

      Vielen Dank für die freundlichen Worte! Das motiviert auch wieder. Es hat leider etwas gedauert mit dem Freischalten, da klemmte was unter meinen Computern.

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