Die christliche Bewegung als Gegenwelt erhalten

Predigt am 8. September 2013 zu Römer 16,17-23 (Predigtreihe Römerbrief 47)

17 Ich ermahne euch, meine Brüder, auf diejenigen Acht zu geben, die im Widerspruch zu der Lehre, die ihr gelernt habt, Spaltung und Verwirrung verursachen: Haltet euch von ihnen fern! 18 Denn diese Leute dienen nicht Christus, unserem Herrn, sondern ihrem Bauch und sie verführen durch ihre schönen und gewandten Reden das Herz der Arglosen.
19 Doch euer Gehorsam ist allen bekannt; daher freue ich mich über euch und wünsche nur, dass ihr verständig bleibt, offen für das Gute, unzugänglich für das Böse. 20 Der Gott des Friedens wird den Satan bald zertreten und unter eure Füße legen. Die Gnade Jesu, unseres Herrn, sei mit euch!
21 Es grüßen euch Timotheus, mein Mitarbeiter, und Luzius, Jason und Sosipater, die zu meinem Volk gehören. 22 Ich, Tertius, der Schreiber dieses Briefes, grüße euch im Namen des Herrn. 23 Es grüßt euch Gaius, der mich und die ganze Gemeinde gastlich aufgenommen hat. Es grüßt euch der Stadtkämmerer Erastus und der Bruder Quartus.

Wieder können wir für einen Moment das Netzwerk sehen, das Paulus um sich herum aufgebaut hatte und in dem er lebte. Diesmal sind es nicht die vielen Adressaten in Rom, die Paulus grüßt, sondern hier tauchen die Menschen in Korinth auf, mit denen zusammen Paulus lebte, überlegte und arbeitete.

Mit wem Paulus zusammen ist

Da ist einmal Timotheus, ein junger Mann, der so etwas wie ein Assistent von Paulus war, sein Schüler, der schon lange mit ihm zusammen gereist ist, von ihm lernte und gelegentlich auch mit Aufträgen von Paulus Gemeinden besuchte.

Dann sind da Jason, Luzius und Sosipater, möglicherweise Abgesandte von Gemeinden in Griechenland, die Paulus nach Jerusalem begleiten wollen, um dort die Spenden zu übergeben, die Paulus für die Jerusalemer Gemeinde gesammelt hat. Paulus sagt extra, dass sie Juden sind wie er und zeigt auch damit noch einmal, dass die christliche Bewegung eine Gemeinschaft aus Juden und Menschen aus den anderen Völkern ist.

Dann hören wir von Tertius, dem Paulus den Brief diktiert hat. Der hat in vielen Stunden miterlebt, wie Paulus seine Gedanken formulierte und hat sie aufgeschrieben. Vielleicht haben die beiden sogar einiges miteinander überlegt. Auf jeden Fall hat Tertius sich ein kleines Plaätzchen in der Bibel gesichert. Und man merkt daran, dass Briefe damals mündliche Texte waren, die man laut formuliert hat, und ein anderer hat sie niedergeschrieben. Kein Wunder, dass dann die Satzkonstruktionen manchmal etwas unübersichtlich werden. Denn was geschrieben war, stand endgültig auf dem teuren Pergament – man konnte es nicht mal schnell löschen oder korrigieren.
Gaius wiederum hatte ein großes Haus, in dem sich die Gemeinde traf, und auch Paulus durfte bei ihm wohnen. Die Gemeinde lebte davon, dass Einzelne ihr den Lebensbereich öffneten, über den sie verfügen konnten.
Auch Erastus gehörte zur Gemeinde, er war Finanzdezernent der Stadt, und man kann an ihm sehen, dass schon früh auch Träger öffentlicher Ämter zur Gemeinde gehörten.

Eine ganz besondere Gemeinschaft, die die Welt bewegt

So eine bunte Mischung ganz unterschiedlicher Menschen brachte Paulus zusammen, und hinter ihm stand Jesus. So unterschiedliche Menschen hatten damals normalerweise nichts miteinander zu tun, so wie auch heute unsere Gesellschaft in viele Segmente aufgeteilt ist, und man bleibt am liebsten unter sich. Aber es war die Stärke der Jesusbewegung, dass sie Platz für Leute aus allen Segmenten hatte. Die Kultur, aus der einer kam oder sein Platz in der Gesellschaftshierarchie, oder seine geografische und familiäre Heimat, das alles wurde unwichtig, weil sie auf einer viel tieferen Ebene zusammen gehörten. Sie hatten alle die Freiheit entdeckt, zu der Jesus das Tor aufgestoßen hatte. Sie wussten, dass sie das entscheidende Geheimnis der Welt kannten. Sie wussten, dass der wahren Gott, der Schöpfer von Himmel und Erde, mit ihnen war. Und sie waren bereit, miteinander durch Dick und Dünn zu gehen.

Es ist ein beglückendes Gefühl, zu so einer Gemeinschaft zu gehören, die in der menschlichen Tiefe verbunden ist und nicht bloß durch ein paar oberflächliche Gemeinsamkeiten. Und es ist wunderbar, mitzuerleben, wie man als verschwindend kleine Minderheit die Welt bewegt – nicht durch Druck, Gewalt oder Tricks, sondern weil man der Welt das Lied vorsingen kann, das sie bei ihrer Schöpfung gehört hat.

Ein Ort der Freiheit, wo ihn keiner erwartet

Aus der Perspektive der Gesamtgesellschaft waren das dagegen ein paar absonderliche oder nervige Leute am Rande, im gesellschaftlichen Abseits. Sie selbst erlebten dieses Abseits als ein großes Glück, als Ort, wo man das wahre Leben führen konnte, das unser Menschsein voll entfaltet. Ein Ort, wo man die Götzen auslacht, vor denen sonst alle ihre Knie beugen und wo man Gedanken denkt, die sich sonst keiner zu denken traut. Eine Zone ohne die Ängste und Verhaltensmuster, die sonst Menschen einander misstrauen lassen und sie gegeneinander in Stellung bringen. Ein verborgenes Paradies, wo man die neue Menschheit lebt und erlebt, und Gott behütet dieses geheime Paradies auch unter der Nase des Kaisers und all seiner Agenten, weil sie es nicht sehen und verstehen können.

Dafür hat Erastus sein Haus zur Verfügung gestellt und vielleicht seinen gesellschaftlichen Ruf riskiert, dafür hat Tertius in seiner knappen Freizeit die Worte von Paulus aufs Pergament gemalt, dafür haben Jason, Luzius und Sosipater ihre Heimat verlassen und sich auf eine gefährliche Reise ins Ungewisse gemacht, und wenn Jason der Jason aus Thessalonich ist, von dem wir in der Apostelgeschichte (17,5-9) lesen, dann ist er dafür um ein Haar im Gefängnis gelandet und konnte sich nur mit einer hohen Geldsumme frei kaufen. Aber das hat ihn nicht abgeschreckt, sondern er ist dabei geblieben.

Solche Gemeinschaften von Jesusnachfolgern haben sich zu allen Zeiten gebildet, und sie haben dort die Freiheit erlebt, die im scheinbaren gesellschaftlichen Abseits wachsen kann. Das scheinbar schwache Wort Gottes bringt Menschen dazu, gesellschaftliche Zwänge zu überwinden und frei zu werden von ihrer Prägung durch Machtstrukturen. Wir denken immer, Worte könnten nichts bewirken gegen die Macht des Bestehenden, aber diese Worte haben die Kraft, eine Gegenwelt zu schaffen und dafür den Mächten Menschen wegzunehmen.

Es kommt auf die Denkmuster an

Das ist der Grund, weshalb Paulus hier noch einmal intensiv vor Menschen warnt, die die Worte des Evangeliums so verändern, dass sie ihm seine Kraft nehmen. Von außen konnte niemand die christliche Bewegung stoppen, aber sie ist an einer Stelle von innen verwundbar, und das sind die Gedanken, die Worte, von denen sie ihre Kraft bekommt. Wenn die Denkmuster schief werden, dann verliert die Bewegung ihre Dynamik. Schon Pauls hat da immer wieder kämpfen müssen, dass die Gedanken klar bleiben und das Salz der Jesusnachfolger salzig bleibt. Schon Jesus musste seine Jünger vor dem »Sauerteig der Pharisäer und Schriftgelehrten« warnen, wir haben es vorhin in der Lesung gehört (Matthäus 16,5-12).

In diesem Kampf geht es immer wieder darum, dass die christliche Bewegung frei bleibt von der Denke der Gesellschaft, von der verborgenen Ideologie, die die Machtverhältnisse zementiert und die Menschen versklavt. Du kannst nicht gleichzeitig die Denkmuster der Gesellschaft beibehalten und dieses Glück im scheinbaren Abseits haben. Wenn wir von einem »Streit um die rechte Lehre« hören, dann denken wir spontan an dogmatischen Theologen, die sich verbissene Gefechte um irgendwelche Spitzfindigkeiten liefern, die außer ihnen selbst keiner versteht. Aber eigentlich geht es bei dem, was Paulus »Lehre« nennt, um etwas anderes und wirklich wichtiges: um die Gedanken, mit denen Christen beschreiben, was sie tun und warum sie sind, was sie sind. Und da gibt es natürlich immer die Versuchung, den Kontrast zur übrigen Gesellschaft einzuebnen und das Gute des christlichen Glaubens möglichst zu behalten, ohne den Preis des Unterschiedes zahlen zu müssen.

Es ist ja manchmal wirklich schwer, so anders zu sein, im Kontrast zu den anderen zu leben, sich immer zu unterscheiden. Ich entsinne mich an einen Kollegen aus der ehemaligen DDR, der der seine Kinder bewusst in Distanz zum DDR-Staat erzogen hat, und seine eine Tochter wollte sich irgendwann nicht mehr immer gegen den Anpassungsdruck stemmen, sie wollte nicht mehr die Opfer bringen, die die Distanz zur Gesellschaft kostete, und dann ist sie zum Entsetzen ihres Vaters in die FDJ eingetreten, in die Staatsjugend. Da konnte sie endlich dazugehören und hatte ihren akzeptierten Platz in der DDR-Gesellschaft.

Sich mit den Machtverhältnissen anfreunden?

So etwas hat es immer wieder zu allen Zeiten unter Christen gegeben, dass einer sagt: ich will diesen Preis nicht zahlen. Aber schlimmer ist es, wenn jemand daraus eine theologische Theorie macht und mehr oder weniger offen den Unterschied zwischen der Herrschaft Gottes und der Herrschaft der Mächte einebnet, und so auch die ganze Kirche harmlos und desorientiert macht. Gut 250 Jahre nach Paulus wurden die Christen im römischen Reich vom Staat anerkannt, sie bekamen sogar materielle Privilegien, und wen wundert es, dass dann viele Theologen ihre Theologie ein bisschen angepasst haben und sich auch in ihrer Lehre mit den Machtverhältnissen angefreundet haben?

Vergleichbares gab es auch schon in der Zeit von Paulus, und er hat da heftig gegen gekämpft, er hat dazu gesagt: die dienen ihrem Bauch, sie versuchen, sich möglichst mit keinem anzulegen, um nichts zu riskieren.

Paulus hatte es noch vergleichsweise einfach. Er konnte sagen: es gibt einen Grundkonsens der Lehre unter uns Aposteln, verändert den nicht, und meidet Leute, die den verändern. Bleibt einfach beim Wortlaut. Wir heute nach 2000 Jahren können nicht einfach beim Wortlaut bleiben, weil dieselben Worte nach 2000 Jahren und in einer anderen Kultur etwas ganz anderes bedeuten. Wir verstehen das nicht ohne Übersetzung, und jede sprachliche Übersetzung ist schon eine Neuinterpretation, und erst recht jede kulturelle Übersetzung, in unsere Kultur und unsere Gedankenwelt hinein. Da gibt es jede Menge Möglichkeiten, dass Evangelium zu verharmlosen und die Kirche brav und kraftlos zu machen, und offensichtlich ist das mindestens im Westen auch geschehen, sonst wären wir heute in einem besseren Zustand.

Das Salz soll seine Kraft behalten

Paulus gibt uns kein Rezept, wie wir garantiert jeden Irrlehrer enttarnen können. Wie sollte es das auch geben können? Er sagt einfach: rechnet damit, dass Menschen den Glauben von innen heraus so zu verändern versuchen, dass er seine Kraft verliert. Und dass sie es nicht offen tun, sondern hinter einer Tarnung. Wundert euch nicht darüber, sondern rechnet damit. Das ist die Taktik des Feindes. So wie hinter Paulus Jesus steht, so steht der Satan, der Feind, hinter den Verwirrern und Zerstörern. Es gibt hinter den Kulissen einen heftigen Kampf darum, dass das Salz des Christentums auch salzig bleibt und nicht ein harmloses Schlabbersüppchen wird. Man muss jetzt nicht mit einem Dauermisstrauen durch die Welt laufen und überall Ketzer suchen, aber man muss auch nicht entsetzt sein, wenn man merkt, dass da einer eine ziemlich schiefe Version von Jesus und dem Christentum präsentiert.

Der eigene Kopf ist unersetzbar

Es gibt leider keine Prüfmaschine, wo man oben ein Buch reinsteckt und dann leuchtet ein grünes oder ein rotes Lämpchen auf und zeigt uns, ob es ok ist. Die Warnung von Paulus kann nur bedeuten: gebraucht euren Kopf! Seid weise, sagt Paulus. Man muss nachdenken, miteinander reden, beten, studieren, und man kann das nicht an die Zuständigen delegieren. Ja, es kann sein, dass einer sich chronisch als Wächter fühlt und Alarm schlägt, nur weil er etwas Ungewohntes hört (im Internet findet man jede Menge Beispiele), und es kann sein, dass einer in bester Absicht trotzdem schiefe Gedanken in die Welt setzt. Das gibt es alles, und auch Paulus kann uns nicht davor beschützen.

Aber er kann uns sagen, wie wichtig unsere Gedanken sind. Dass wir gut auf sie aufpassen sollen. Sie haben einen großen Einfluss auf die Stärke der Jesusbewegung. Und er macht uns Mut, dass Gott uns die Kraft gibt, über alle bösen Einflüsse zu triumphieren. Deshalb steht hier – beinahe schon am Schluss des Römerbiefes, am Schluss eines der komplexesten Dokumente der Menschheitsgeschichte – diese Aufforderung: gebraucht euren Kopf, seid weise, habt eine gute Nase, achtet auf eure Gedanken, die sind wichtig. Lernt und begreift, und werdet unzugänglich für die Mächte des Bösen in jeder Verkleidung!

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