Gottes Top-Priorität

Predigt am 30. Dezember 2012 zu Jesaja 49,13-16

13 Jubelt, ihr Himmel, jauchze, o Erde, freut euch, ihr Berge! Denn der Herr hat sein Volk getröstet und sich seiner Armen erbarmt.
14 Doch Zion sagt: Der Herr hat mich verlassen, Gott hat mich vergessen.
15 Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht. 16 Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände, deine Mauern habe ich immer vor Augen.

Bei diesem Abschnitt würde man spontan nicht darauf kommen, dass das ein weihnachtlicher oder nachweihnachtlicher Text ist. Die Brücke zu Weihnachten schlägt erst die Evangelienlesung vorhin (Lukas 2,25-38) mit den beiden Alten, Simeon und Hanna, die das Kind Jesus sehen und laut anfangen, Gott zu preisen, obwohl sie nicht mehr erleben werden, was dieses Kind noch alles tun wird. Simeon und Hanna werden längst tot sein, wenn der erwachsene Jesus die Menschen bewegt. Aber sie sehen das Kind Jesus und sehen in ihm schon, dass Gott treu ist, dass er nicht schläft oder seine Geschichte mit Israel aufgegeben hat.

Und ganz entsprechend sagt der Abschnitt aus dem Jesaja-Buch: Gott macht mit euch weiter, er hat sein Volk nicht aufgegeben. Das war mehr als 5 Jahrhunderte früher, als sie in die babylonische Gefangenschaft verschleppt worden waren, herausgerissen aus ihrem Land und angesiedelt in einer fremden Gegend, wo sie ihre Identität nach und nach verlieren sollten. Jerusalem war niedergebrannt, und auch die Menschen, die noch dort im Land lebten, hatten kein Zentrum mehr, wo weitergegeben wurde, wer sie waren. Ihr Eindruck war: Gott hat uns aufgegeben, er hat uns vergessen. Es ist aus und vorbei.

In dieser Situation sagt Gott durch Jesaja: ich habe euch nicht vergessen. »Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände, deine Mauern habe ich immer vor Augen.« Die Mauern Jerusalems waren zerstört, und die Folge war, dass sich in der Stadt nichts entwickeln konnte, kein eigenständiges Gemeinwesen, keine eigenständige Sozialordnung des Volkes Gottes. Israel hatte nicht den Raum, um durch sein Leben eine Alternative zu sein zu der Art, wie die anderen Völker ihre Gesellschaften organisierten.

Mauern sind eine zwiespältige Sache. Sie können auf fiese Weise ausgrenzen, sie können aber auch schützen vor dem Zugriff übermächtiger Gegner. Wir denken heute wahrscheinlich meistens an das erste: wir wollen keine Mauern aufbauen, weil wir niemanden ausgrenzen wollen. Sie kennen vielleicht dieses Modell der eingegrenzten Wohngebiete, wo sich reiche Leute hinter Stacheldraht und Sicherheitsdiensten verschanzen, um für sich eine heile, sichere Welt zu haben, während sie draußen Armut, Kriminalität und Unmoral wittern. Besonders in Amerika gibt es wohl eine ganze Menge von abgegrenzten Wohnbezirken. Die einen sind drin und die anderen draußen.

Diese ganze Konstellation zeigt die Spaltung der Gesellschaft und zementiert sie gleichzeitig. Je stärker die Leute drinnen von denen draußen getrennt sind, um so mehr fürchten sie sich vor ihnen. Um so wilder wuchert ihre Vermutung, dass die da draußen ganz schrecklich, bedrohlich und schmutzig sind.

Wenn aber Gott sagt, dass er die Mauern Jerusalems immer vor Augen hat, dass dieses Problem sozusagen ganz oben auf seiner Dringlichkeitsliste steht, dann hat er nicht diese Form von Abgrenzung vor Augen. Er denkt an Mauern, die es Israel überhaupt erst erlauben, ein eigenes Leben zu führen, anders zu sein als die anderen Völker. Wozu wäre ein Gottesvolk gut, wenn es genauso wäre wie alle anderen? Gott wollte doch eine Alternative haben, als er Abraham berief und mit ihm einen Bund schloss. In Israel sollte es anders zugehen.

Die ganzen Gesellschaften der Antike hatten das Problem wachsender Ungleichheit: das Land konzentrierte sich immer stärker in den Händen weniger Großgrundbesitzer, und die Menschen, denen es früher gehört hatte, wurden Sklaven oder abhängige Arbeiter. Das brachte ganz viel Konflikte in die Gesellschaft hinein. Wir wissen heute, dass die Menschen um so unzufriedener werden, je mehr Ungleichheit es in der Gesellschaft gibt. Je tiefer der Graben zwischen den Superreichen an der Spitze und den Habenichtsen ganz unten wird, um so unerfreulicher wird das Leben – und zwar für alle, auch für die Reichen.

Gott wollte aber, dass in seinem Volk Gleichheit herrscht. Im Gesetz gab es deshalb Vorschriften, dass periodisch die Schulden erlassen und Land den ursprünglichen Eigentümern zurückgegeben werden sollte. Das war ein völlig anderes Modell als bei den anderen Völkern. Und wenn Gott so heftig darauf pocht, dass sein Volk sich keinen anderen Göttern zuwenden soll, dann nicht, weil er eingeschnappt oder beleidigt ist, sondern dann steht diese Alternative auf dem Spiel: die andere Art zu leben, eine Gesellschaft, wo nicht die einen rücksichtslos ihren Gewinn auf Kosten der anderen durchsetzen. Wo sich nicht ein Teil der Gesellschaft gegen den anderen verschanzt.

Aber so ein Experiment braucht einen geschützten Raum. Es hatte nur eine Chance, wenn es Mauern gab, die dieses zarte Pflänzchen einer neuen Gesellschaft schützten. Aber als die Mauern tatsächlich wieder aufgebaut waren, da zeigte sich, dass auch diese Mauern nicht stark genug waren, um Israel gegen die großen Reiche der Antike zu schützen. Israel errang Achtungserfolge, aber am Ende unterlagen sie doch dem mächtigsten aller antiken Reiche, den Römern. Und mit den griechischen, syrischen und römischen Herren drang ihr Denken nach Israel ein, und eben auch ihr Lebensstil, ihre Kultur. So wie heute die ganze Welt von Coca Cola und McDonalds durchdrungen wird: billige Erlebnisse, produziert von Billiglöhnern, billige Träume für billige Menschen. Und viele Menschen in Israel waren müde geworden vom Widerstand dagegen, andere waren fasziniert von den Versprechen dieser globalen Kultur. Und sie sagten: Müssen wir denn immer die Last tragen, etwas Besonderes zu sein? Können wir nicht auch einfach mal mit dem Strom schwimmen? Warum können wir nicht so sein wie alle anderen?

Und deshalb stand dieses Problem der Mauern, der Abgrenzung, auch zur Zeit Jesu immer noch ganz oben auf Gottes Dringlichkeitsliste. Wie kann das Volk mitten in der Welt anders sein und anders leben? Wie kann man Salz der Erde sein, und wie bleibt man auf Dauer salzig?

Die Christen haben dann die Lösung gefunden, sich nicht defensiv hinter Mauern zu schützen, sondern offensiv hinauszugehen in die Welt, in die feindlichen Reiche und Zivilisationen, und dort Verbündete zu suchen für den Traum einer Gesellschaft ohne Ungleichheit und Gewalt, für den Traum einer Kultur, die Menschen zur Entfaltung hilft. Sie haben die Alternative Gottes von Israel aus in die Welt getragen, in die Nischen der Gesellschaft, in die Slums und Massenquartiere. Und sogar einige von den Reichen sind aus ihren abgegrenzten Wohngebieten heraus gekommen und haben in den Gemeinden schon die neue Menschheit gefunden, die in Gleichheit und Solidarität lebt.

Dieses Modell wird nicht mehr von Stadtmauern beschützt, sondern von Gedanken, von Geschichten. Die Geschichten von Jesus, die die Geschichten Israels fortschreiben, sind das Zentrum, von dem her das alles bewegt wird. Diese Geschichten geben Hoffnung und Widerstandskraft. Sie sind mindestens so stark, dass die Mächte in dieser Welt nicht mehr ganz so rücksichtslos mit den Menschen umspringen können. Sie müssen Rücksicht darauf nehmen, dass es diese alternativen Erzählungen gibt, und sie müssen wenigstens so tun, als ob sie um das Wohl der Menschen besorgt wären – wenigstens etwas.

Aber eigentlich soll da noch mehr kommen, eigentlich soll die ganze Welt von dieser anderen Art des Lebens geprägt sein. Eigentlich soll doch der Tag kommen, an dem alle Geschöpfe jubeln, weil sie von diesem Druck der Ausbeutung befreit sind, die Tiere aus den Massenställen, der Himmel ohne den Dreck, mit dem wir ihn vergiften, die Erde nicht mehr durchwühlt und entstellt von der Suche nach Bodenschätzen, Männer und Frauen, Reiche und Arme nicht mehr sich gegenseitig misstrauisch betrachtend und abgrenzend, und unsere Seelen frei zum Jubel und zur Freude an Gott und seinem Werk.

Und bei Jesaja ebenso wie bei Simeon und Hanna wird das sozusagen schon als realisiert vorweggenommen, so, als ob es schon da wäre. Jesaja sieht die Wiederherstellung des Gottesvolkes, als ob das schon Gegenwart wäre; Simeon und Hanna sehen den neugeborenen Jesus und sehen in ihm schon den Keim von allem, was noch aus ihm werden soll.

Sie sehen das nicht in allen Einzelheiten, sondern sie sehen, dass Gott seiner Sache treu bleibt. Darauf kommt es an. Wenn Gott nicht aufgibt, dann ist die Welt nicht verloren. Wenn sie nur sicher sein können, dass Gott weitermacht, dann hat auch sein Volk eine Zukunft vor sich.

Und deshalb gibt Jesaja etwas weiter aus dem innersten Herzen Gottes: ihr seid täglich auf meiner Dringlichkeitsliste. Ich denke die ganze Zeit an euch. Wenn ich meine Hände ansehe, dann sehe ich da euren Namen aufgeschrieben. Natürlich hat Gott keine Hände wie wir, die Hände Gottes sind ein Bild für sein Handeln. Gemeint ist: immer, wenn ich etwas tue, dann denke ich an euch, an eure Geschichte und eure Zukunft und euren Auftrag.

Ein anderes Bild: »Könnte denn eine Mutter ihr Kind einfach vergessen?« fragt Jesaja. Und selbst wenn (wir wissen ja, dass so etwas leider immer wieder vorkommt) – Gott kann euch noch viel weniger vergessen.

Wir sollen verstehen, dass das Gottes Herzensanliegen ist. Deshalb ist es nicht so, dass wir zu ihm hingehen müssten, um ihn zu bewegen, damit er doch endlich mal was für diese Welt tut. Nein, das ist von Anfang an seine eigene Sache gewesen, und wenn wir die auch gut finden, dann deshalb, weil er das in uns angeschoben hat, weil er uns da hineingezogen hat.

Sein Volk ist Gottes Herzensangelegenheit, weil er die Welt durch seine Menschen heilen will. Wo Menschen verstehen und glauben, dass das Gottes eigene Sache ist, da sind sie voll Freude und Jubel, weil sie wissen, dass wir mit dem Schicksal unserer Welt nicht uns selbst überlassen sind. Jemand, der größer und beständiger ist als wir, hat das zu seinem Herzensanliegen gemacht. Aber er hält uns einen Platz frei, wo wir mitmachen können, weil auch wir seine Herzensangelegenheit sind.

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