Israels Situation als Voraussetzung des Christentums

NT Wright: Das Neue Testament und das Volk Gottes (5)

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Die Geschichte Israels als Voraussetzung für die Entstehung des Christentums

In Teil III seines Werkes beschreibt Wright die innere und äußere Geschichte des Judentums im 1. Jahrhundert, einschließlich der Vorgeschichte seit dem Ende des Exils. Das Judentum im Kontext der griechisch-römischen Welt war der Rahmen, in dem die christliche Bewegung entstand, und dessen Grundannahmen sie teilte. Die Forschungslage zum Judentum hat sich in letzter Zeit enorm ausgeweitet; frühere verzerrte Bilder des Judentums innerhalb der christlichen Theologie lassen sich nicht mehr halten.

Wrights vielleicht wichtigste These ist in diesem Zusammenhang, dass es quer durch alle jüdischen Gruppierungen einen weltanschaulichen Grundbestand gegeben hat, den alle Juden teilten. Es war

eine komplette Weltanschauung, die alle Aspekte der Wirklichkeit umfasst und die sich in einer bestimmten Sehnsucht und Erwartung scharf fokussiert, in einer Anerkennung, dass der gegenwärtige Zustand der Dinge noch nicht die volle Realisierung der Absichten des Bundesgottes für sein Volk darstellt … Einer der Hauptunterschiede zwischen ihnen und einigen anderen Kulturen bestand allerdings darin, dass ihre kontrollierenden Storys mit wirklichen Ereignissen in der Geschichte zu tun hatten: sie warteten darauf, dass das letzte Kapitel ihrer Story begann. (197)

Die traditionelle christliche Interpretation dieses Hintergrundes übersieht oft die politische Verortung und die politischen Obertöne dieser Weltanschauung. Aber sie war allen Juden (auch den Christen) gemeinsam, auch wenn die Christen sie dann neu lasen.

Diese Weltanschauung war gewachsen durch die Erfahrung des babylonischen Exils, das auch nach dem persischen Sieg über Babylon und der Rückkehr der Juden nach Israel kein echtes, wiederherstellendes Ende gefunden hatte. Auch der makkabäische Sieg über die syrische Tyrannei 164 v.Chr. führte nicht zu einer deutlichen Rehabilitierung Israels. Stattdessen durchdrang der heidnische Hellenismus Israel immer mehr und wurde durch die Römer ab 63 v. Chr. auch militärisch und wirtschaftlich eher noch dominanter. Die Hoffnung auf ein wiederherstellendes Handeln Gottes mündete immer wieder in kleinere Rebellionen und schließlich in die großen Aufstände der Jahre 66-70 und 132-135. Nach ihrer Niederschlagung begann ein neues, anderes Judentum.

In der Zeit zwischen dem Makkabäer-Aufstand und der Zerstörung Jerusalems entwickelte sich eine Vielfalt von Ausdrucksformen jüdischer Identität. Sie unterschieden sich in ihren Antworten auf die zentrale Frage, wie und wann der Bundesgott sein Volk retten würde:

Revolutionäre Bewegungen

In Reaktion auf römische Provokationen entwickelten sich immer wieder revolutionäre Bewegungen (Zeloten, Sikarier usw.), die ein zentrales Thema der Politik in dieser Zeit waren. Sie nährten sich aus der nationalen Stimmung des Widerstandes gegen Rom und flossen am Ende im Aufstand von 66-70 zusammen. Er war z.T. aber auch ein Krieg dieser verschiedenen Strömungen untereinander.

Pharisäer

Die Pharisäer haben ihre Wurzeln in der Makkabäerzeit. Sie standen für die Beachtung der Traditionen, insbesondere der Reinheitsvorschriften. Obwohl sie keine institutionalisierte Macht hatten, übten sie mit wechselndem Erfolg Einfluss auf die jeweiligen Machthaber aus. Sie hatten am ehesten die Sympathie des Volkes.
Die Beachtung der Tora war wichtig für die Bewahrung der Identität Israels. Persönliche Reinheit war ein Bereich, den man kontrollieren konnte, wenn schon das nationale Leben in vieler Hinsicht beschmutzt war. Es ging also nicht darum, sich durch gute Taten den Himmel zu erwerben. Pharisäer waren keine politisch-militärischen Aktivisten, aber die Grenze zu solchen Bewegungen blieb vor 66 n. Chr. fließend. Denn auch die Sorge um die persönliche
Reinheit war letztlich ein Akt des Widerstandes gegen die heidnische Herrschaft. Erst nach den Niederlagen von 70/135 wurde die revolutionäre Energie endgültig in die Gelehrsamkeit umgeleitet.

Essener

Die Essener verstanden sich angesichts des als korrupt angesehenen Jerusalemer Tempelbetriebs als alternativer Tempel. Sie waren die schon aus dem Exil befreite Vorhut Israels. Der Tag würde kommen, an dem das durch Gottes Eingreifen allen klar werden würde. Darauf  warteten sie abseits des allgemeinen Geschehens, z.B. in Qumran.
Die Gruppe hat letztlich keinen großen Einfluss auf den Gang der Geschichte gehabt.

Priester, Aristokraten und Sadduzäer

Der Tempel war ökonomisches und politisches Zentrum des Landes. Zu den Priestern gehörten einerseits die über das Land verstreuten, relativ armen Priester, die nur selten am Tempel Dienst hatten, andererseits die Hauptpriester, die mit der Aristokratie zusammen die Partei der Sadduzäer bildeten. Sie paktierten mit den Römern, waren konservativ und hielten sich von so umstürzlerischen Theorien wie der Auferstehung der Toten fern. Nach der Eroberung Jerusalems verschwand diese Gruppe aus der Geschichte.

Die „normalen“ Juden

Die große Mehrheit der Juden gehörte zu keiner dieser Gruppen. Diese Mehrheit versuchte, sich und ihre Kinder heil durch die unruhigen Zeiten hindurchzubringen, sie beteten, fasteten, besuchten die Synagoge, nahmen an den Jerusalemer Festen teil, aßen kein Schweinefleisch, hielten den Sabbat, beschnitten ihre Kinder und hörten in gewissem Maß auf die Pharisäer. Mit all dem hielten sie einfach an ihrem Erbe fest und drückten, wenn auch sicher unvollkommen, eine gemeinjüdische Theologie aus. Man kann vielleicht sagen, dass sie Wrights geheime Helden sind.

Um die Darstellung dieser gemeinjüdischen theologischen Grundlinien wird es im nächsten Post gehen.

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Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. IWe

    Der Tipp, mit dem 3. Teil weiterzumachen – war gut. Allerdings bin ich jetzt erst einmal mit „Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel“ von Frank Crüsemann zugange. Sehr empfehlenswert!

  2. tiefebene

    Hallo IWe, ich glaube, den Crüsemann werde ich mir dann auch noch mal gönnen!

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