Nachdem ich mich mit Barack Obamas Biografie beschäftigt habe, möchte ich sie nun als Teil eines größeren, weltweiten Themas verstehen: der Begegnung der älteren, traditionellen Kulturen mit der weißen Moderne.
Obamas kenianischer Großvater und Vater waren keine typischen Mitglieder ihrer Dorfgemeinschaft. Sie waren irgendwie anders, unruhig, unzufrieden. Sie sahen in der Begegnung mit den Weißen eine Chance, aus ihrer bisherigen Welt auszubrechen und neue Perspektiven zu gewinnen. Obamas Großvater arbeitete bei Europäern, seinem Vater gelang es, ein Stipendium zum Studium in Amerika zu bekommen. Beide waren hin- und hergerissen zwischen ihrer Herkunft und der westlichen, weißen Kultur.
Beiden ist diese Zerreißprobe persönlich nicht gut bekommen. Obamas Vater macht den Eindruck eines Getriebenen, der die unterschiedlichen Teile seiner Biografie nicht mehr integrieren kann: seine verschiedenen Frauen unterschiedlicher Hautfarbe und die zugehörigen Kinder, seine Heimat in einem afrikanischen Dorf und seine Karriere im Staatsdienst, Wohlstand und Armut, nachdem er mit dem korrupten System in Konflikt kam. Trotz erstaunlicher persönlicher Fähigkeiten hat er manche Perioden seines Lebens, besonders am Ende, nur mit viel Alkohol ertragen können. Er lebte in einer Situation, die die Schwächen eines Menschen gnadenlos aufdeckt, und in der er eigentlich nur scheitern konnte. Dass er trotzdem immer wieder erstaunliches Format zeigt, ist Grund genug für Wertschätzuung und Anerkennung.
In Barack Obamas Buch entsteht so ein vielschichtiges Bild seiner Vorfahren, wo nichts beschönigt, aber auch nichts verurteilt wird. Stattdessen erkennt Obama, dass es seine Aufgabe ist, den Weg seiner Vorfahren zu einem besseren Ende zu bringen (deshalb der englische Titel: „Dreams from my father“). Er nimmt die Geschichte seiner Familie als sein Erbe an.
Die Zerreißprobe, in die Obamas Vorfahren schon früh gerieten, ist die Begegnung der traditionellen afrikanischen Kultur mit der modernen westlichen Zivilisation. Sie kamen aus einer Welt, in der jeder seinen Platz hat, wo man nie allein und erst recht nicht einsam ist. Familien, Dörfer und Stämme halten zusammen, und alles ist in eine uralte Ordnung eingebettet, an die man sich halten muss. Aber diese Kultur hat auch ihre Schattenseiten. Obamas Vorfahren haben sie offensichtlich schon früh als einengend erlebt und versucht, ihren eigenen Weg zu gehen.
So stießen sie auf die Welt der Weißen, die für sie viele Versprechen beinhaltete: Ausbruch aus der Enge, keine Armut, neue Möglichkeiten. Aber in der Welt der Weißen ist man auch oft allein. Es gibt keinen sicheren Status, für Schwarze sowieso nicht. Und wenn afrikanische Staaten die europäischen Organisationsformen einführen (und trotzdem weiter die alten Stammesloyalitäten gelten), entsteht ein Mischmasch, der nicht gut funktioniert.
Wer in diese Widersprüche gerät, wird brutal mit der Frage konfrontiert, wer er eigentlich ist und wo er hingehört. Und es übersteigt in der Regel die Kräfte eines Menschen (und sei er noch so stark und zäh), eine neue Identität zu konstruieren, für die es kein Vorbild gibt. Obamas Vater hatte eine beeindruckende Gabe, mit persönlicher Kraft viele Widersprüche zu überwinden oder wenigstens zur Seite zu schieben. Aber auch er hat viele Abgründe mit Illusionen überdeckt, die eines Tages nicht mehr tragfähig waren.
Diese Zerreißprobe ist natürlich nicht nur ein afrikanisches Thema. Sie ist nur dort unübersehbar, weil sie einen ganzen Kontinent betrifft (und durch die schwarzen Amerikaner einen zweiten). Aber im Grunde sind durch die Begegnung mit der weißen Kultur alle traditionellen Völker immer in ähnliche Krisen geraten: die Ureinwohner Amerikas und Australiens, die Inuit, aber auch die islamischen Länder, Indien, China, Japan. Je nach Eigenart dieser Kulturen und dem Verlauf der Begegnung hat das sehr unterschiedliche Ergebnisse gehabt. Aber die Widersprüche zwischen den traditionellen, eher kollektiv angelegten Kulturen und der individualistischen westlichen Zivilisation sind weltweit zu spüren. Vielleicht ist das sogar der zentrale Konflikt unserer Epoche. Uns fällt er nur nicht so auf, weil wir im Zentrum der westlichen Kultur leben.
Trotzdem frage ich mich, ob es nicht auch bei uns Spuren dieses Konflikts gibt. Aber dazu komme ich nun doch erst im nächsten Post.
Ich lese Ihr Weblog sehr gerne und finde es sehr anregend im Gegensatz zur Mehrzahl der Weblogs von Christen, die ich ziemlich langweilig finde. Auch die Serie über Obama fand ich eine gute Idee. Aber bei diesem Eintrag komme ich aus dem Kopfschütteln nicht heraus.
Am Ende schreiben Sie: „Vielleicht ist das sogar der zentrale Konflikt unserer Epoche. Uns fällt er nur nicht so auf, weil wir im Zentrum der westlichen Kultur leben.“
Sie analysieren Obama aus der Sicht eines Menschen, bei dem sich die Privilegien nur so bündeln: weiss- europäisch – männlich – protestantisch, also jemand, der in unserer Gesellschaft zur Dominanzgruppe gehört. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Feststellung.
Ich empfinde den Ton dieses Postings streckenweise als überheblich-paternalistisch: Sehr schade! Auch bestimmte Formen verbaler Wertschätzung können etwas sehr Herablassendes haben. Da ich selbst zu einer Minderheit gehöre, kenne ich ähnliche Analysen zur genüge.
Bei Ihren Postings ist mir immer wieder aufgefallen, wie sehr Sie Ihre Wahrnehmung befragen. Da Ihnen das anscheinend wichtig ist, empfehle ich Ihnen das Buch „Dominanzkultur“ von Birgit Rommelspacher, weil dort viele der Fragen, die auch in Ihren Obama-Postings angesprochen werden, eine Rolle spielen.
Noch schöne Sommertage und viele Grüße
Juebe
Hallo Juebe,
ja, es ist völlig klar, dass ich sowohl weltweit als auch in Deutschland zu einer privilegierten Minderheit gehöre. Das ist Fakt. Würde ich nie bestreiten.
Deswegen war für mich das Obama-Buch ja so ein Augenöffner. Er hat in seinem Buch beschrieben, wie es ist, aus der dominierenden Kultur ausgeschlossen zu sein, und so habe ich das vorher noch nie erklärt bekommen. Diese Lernerfahrung wollte ich gern mit den Lesern des Blogs teilen. Und das heißt: ein Privilegierter versucht anderen ähnlich Privilegierten zu erklären, was unsere weiße Moderne weltweit bewirkt/angerichtet/ausgelöst hat.
Ich habe mir den Post noch einmal durchgelesen und merke, dass er tatsächlich auch herablassend-beurteilend sein/klingen/gelesen werden kann. Es ist jetzt sicher nicht sinnvoll, wenn ich beteuere, dass ich es nicht so gemeint habe. Das führt nicht weiter. Ich gebe nur zu bedenken, ob es für mich überhaupt eine andere Möglichkeit gibt, über das Thema zu schreiben.
Ich werde mal schauen, was dazu in dem von Ihnen benannten Buch dazu steht, und ich habe jetzt beim Schreiben meines Blogs eine weitere Sichtweise vor Augen (man stellt sich ja immer Leser und ihre Sichtweise vor).
Ich vermute aber, dass Sie mit dem Resumee „Vielleicht ist das sogar der zentrale Konflikt unserer Epoche. Uns fällt er nur nicht so auf, weil wir im Zentrum der westlichen Kultur leben.“ einverstanden sind? Habe ich das richtig verstanden?
Demnächst kommt noch etwas mehr, mal schauen, wie schnell ich es schaffe. Ich bin noch am Überlegen. Aber Dann wird vielleicht einiges noch klarer.
Danke für Ihre freundlichen Worte zu meinem Blog. Das macht mich ein bisschen verlegen. Aber schön ist es trotzdem.
Ihnen auch viele Grüße nach Berlin,
tiefebene